Die große Gereiztheit - Wege aus der kollektiven Erregung

Die große Gereiztheit - Wege aus der kollektiven Erregung

von: Bernhard Pörksen

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446259560

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 3993 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die große Gereiztheit - Wege aus der kollektiven Erregung



Der moderne Turing-Test


Es ist schwer und oft prinzipiell unmöglich, unter den herrschenden Informationsbedingungen zu entscheiden, was denn nun stimmt und was nicht. In der Situation einer allgemeinen Verunsicherung wuchert der Verdacht, regiert der Zweifel und dominiert das Geraune, das den Durchblick suggeriert, aber eigentlich doch nur Verwirrung und Verstörung offenbart. Man kommt der speziellen Erkenntnissituation des digitalen Zeitalters und der allgemeinen Stimmung gefühlter Manipulation genauer auf die Spur, wenn man für einen Moment an den Turing-Test erinnert, dieses aus der Ur- und Frühgeschichte des Computerzeitalters stammende Experiment. Erstmals beschrieben hat das Verfahren der genialische Mathematiker und Kryptograf Alan Turing im Jahre 1950. Geklärt werden soll mit seinem Test eigentlich, ob man Maschinen intelligent nennen darf, ob sie sich als klug bezeichnen lassen. Um dies herauszufinden, kommuniziert ein Mensch mit einer Entität, die nicht näher bestimmt ist. Man sieht sie nicht, man hört sie nicht. Es kann sich um einen Menschen handeln oder um eine Maschine. Wenn die Testperson aufgrund der Antworten zu der Schlussfolgerung gelangt, es handele sich um einen Menschen, man es jedoch faktisch mit einer Maschine zu tun hat, dann muss man ebendieser auch Intelligenz attestieren, so Alan Turings Argument. Über dieses Verfahren gibt es seit Jahrzehnten einen Streit unter Philosophen und Bewusstseinsforschern. Manche halten den gesamten Ansatz für irreführend, weil die Antworten, die unter den extrem reduzierten Informations- und Kommunikationsbedingungen präsentiert werden, noch nichts über die Klugheit oder das Bewusstsein von Maschinen verraten, sondern eigentlich verdeutlichen, dass der Proband versagt und Fehleinschätzungen produziert hat. Das hieße dann, dass das Verfahren nicht wirklich etwas über die Intelligenz von Maschinen aussagt, aber sehr viel über die Fähigkeit des Menschen, die Herkunft von Kommunikation sicher einzuschätzen. Andere meinen hingegen, Turings Experiment sei durchaus praktikabel, und arbeiten beständig an der Verbesserung der Programme, denen es tatsächlich immer wieder gelingt, die Illusion menschlicher Kommunikation vorzuspielen. Zuletzt bekam man im Jahre 2014 in einer Mitteilung der University of Reading zu lesen, ein Chatbot, also ein Computerprogramm, das in der Lage ist, ein Gespräch zu simulieren, habe den Test bestanden. Der Name des Chatbot war Eugene Goostman, der die Kommunikationsformen und den Wissensstand eines 13-jährigen Jungen aus der Ukraine simulierte.

Solche Jubelmeldungen müssen im Zweifel Spezialisten der KI-Forschung interessieren. Zeitdiagnostisch brisant ist hingegen das Verfahren selbst, weil es als Paradigma einer Kommunikationssituation taugt, die typisch geworden ist. Der vernetzte Mensch kommuniziert unter den gegenwärtigen Medienbedingungen konstant mit »Entitäten«, deren Absichten und Interessen, deren Integrität oder Status – Mensch oder Maschine, neutraler Beobachter oder Propagandist – sich nicht sicher einschätzen lassen. Es gibt einen neuen, global zelebrierten, den digitalen Kommunikationsformen eingeschriebenen Turing-Test, geleitet von der Frage, was überhaupt als echte, wahrheitsgetreue und authentische Kommunikation betrachtet werden kann – und was eben nicht. Der Ort für dieses Experiment ist nicht die Wissenschaft und nicht das Gebäude einer Universität, sondern die digitale Öffentlichkeit. Hier wird der vernetzte Mensch vor das Problem gestellt, ob er die zahlreich verbreiteten Falsch- und Fehlinformation überhaupt erkennen kann. Und man weiß ja selbst längst: Diese zu produzieren und in Umlauf zu bringen ist heute leichter denn je. Jeder kann unter den Bedingungen digitaler Kommunikation Fake-Identitäten kreieren, die eigene Geschichte mit einiger Raffinesse inszenieren und dann ausprobieren, ob sein Publikum die medial erschaffene Realität für echt hält. Jeder kann mit Identitäten und Rollen spielen, kann sich maskieren, das eigene Selbst und die eigene Person als eine variable Projektion entwerfen, an deren Authentizität andere glauben – bis sie den Trick begreifen oder man ihnen das Betriebsgeheimnis einer erfolgreichen Manipulation offenbart hat. »In the Internet«, so heißt es in einem legendären Cartoon des New Yorker aus dem Jahre 1993, der einen am Computer sitzenden Hund zeigt, »nobody knows you’re a dog.« Wie leicht man selbst nächste Angehörige und gute Freunde zu täuschen und mit einer schönen Geschichte zu blenden vermag, hat die niederländische Kunststudentin Zilla van den Born im Jahre 2014 in Form eines amüsanten Selbstexperiments vorgeführt, auch dies eine moderne Variante des Turing-Tests unter den Bedingungen der digitalen Kommunikation.10 Zilla van den Born informierte Verwandte und Bekannte, dass sie durch Thailand, Laos und Kambodscha reisen werde, sie postete fortwährend bezaubernde Urlaubsbeweise auf Facebook. Sie schickte Fotos von einem weißen Palmenstrand und Bilder von Schnorcheltouren in türkisblauem Wasser. Man sah sie beim Essen mit Stäbchen und beim Besuch eines Tempels neben einem Mönch in orangefarbener Kutte – Ferienfotos einer hübschen jungen Frau, die jedoch tatsächlich 42 Tage lang in Amsterdam in ihrer Wohnung hockte und diese für die Skype-Sessions mit der Familie immer wieder umdekorierte. Die mit Hilfe von Photoshop die Illusion einer Reise kreierte, um schließlich ihre Bachelorarbeit an der Kunsthochschule in Utrecht über das sogenannte Fakecationing – die Simulation eines spektakulären Urlaubs – zu verfassen.

Niemand kam der Kunststudentin in all den Wochen einer angeblichen Abwesenheit auf die Spur. Schließlich entlarvte sie sich und die am Rechner konstruierte Ferienpersönlichkeit selbst und filmte die konsternierten Reaktionen ihrer Freunde und Verwandten, denen sie unter den Augen einer Kamera erklärte, mit welchen Tricks sie über Wochen die Traumreise durch Asien simuliert hatte. Damit ließ sich zweifelsfrei demonstrieren, was denn nun stimmt und was nicht und warum die Illusion einer Wirklichkeit entstehen konnte, die es nicht gab. Ebendieser doppelte Blick, der zunächst die Kulisse des Scheins präsentiert und dann die Sicht auf die Hinter- und Hebelbühne des eigentlichen Geschehens freigibt, ist jedoch längst nicht immer möglich. Die Normalsituation der Erkenntnis in Medienwelten sieht anders aus: Man muss die Möglichkeit der Täuschung zwar prinzipiell in Rechnung stellen, verfügt jedoch kaum über die Möglichkeit privat-persönlicher Authentizitätskontrolle. Man hat zwar eine Ahnung, dass etwas nicht stimmen könnte, vermag jedoch nicht selbst hinter den Vorhang zu schauen, kann keine definitiven Belege liefern, schon gar nicht aus eigener Anschauung und persönlicher Recherche. Die diffuse Ahnung des Zweifelhaften und eine charakteristische Echtheitsungewissheit werden aus mehreren Gründen genährt und verstärkt. Zum einen hat sich das Spiel mit der öffentlichkeitswirksamen Inszenierung von Wirklichkeiten demokratisiert; es steht nun allen offen. Natürlich waren Medienbilder immer schon ein beliebtes Objekt der Fälschung. Und die Möglichkeiten der digitalen Bildmanipulation existieren seit Jahrzehnten. Aber heute kann jeder selbst, sei es mit Photoshop oder irgendeiner anderen Software, bequem kleine Fälschungsexperimente machen und diese barrierefrei in die öffentlichen Kreisläufe einspeisen. Und man braucht – im Gegensatz zu früheren Epochen – keine Dunkelkammer, keine Chemikalien und keine Schaber für die Foto- und Realitätsretusche mehr, es genügen ein paar Klicks in einer bequem vorkonfigurierten Struktur. Die Möglichkeit der Fälschung ist also durch die persönliche Erfahrung gedeckt; das ist die private Empirie der Manipulation. Zum anderen gehört die Annahme, man könne in der öffentlichen Sphäre leichthändig getäuscht werden, inzwischen zum Alltagswissen oder doch zur Alltagsahnung des Medienkonsumenten. Es gibt jede Menge Berichte über Hacker und Troll-Armeen, über bezahlte Kommentatoren, die Großmächte in die digitale Welt entsenden, um Meinungs- und Aufmerksamkeitsströme zu manipulieren und im Akkord Kampagnen anzuzetteln und Stimmung zu machen. Man kann leicht herausfinden, dass selbst Augenzeugenvideos, also scheinbar besonders authentische Dokumente, zum Instrument der Propaganda geworden sind und von NGOs und Aktivisten gezielt benutzt werden – ganz gleich, ob dies im Syrienkrieg, in den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern oder irgendeinem anderen Konfliktherd der Welt geschieht. Es ist bekannt, dass PR-Leute das Netz als ein besonders leicht manipulierbares System feiern und dass Unternehmen und Lobbyorganisationen für Postings und Empfehlungen ihrer Produkte und Positionen bezahlen, Wikipedia-Artikel gezielt umbauen und Klick- und Like-Wunder fingieren. Und man weiß, dass der britische Geheimdienst GCHQ darüber nachdenkt, wie sich soziale Netzwerke und Blogs für Rufmordkampagnen einsetzen lassen, und sich mit der Frage befasst, wie sich Klickzahlen und Online-Umfragen gezielt manipulieren lassen. (Die entsprechenden Strategiepapiere hat der Journalist Glenn Greenwald zugänglich gemacht.) Darüber hinaus gibt es tatsächlich gute Gründe, sich zu fragen, wer eigentlich spricht, wenn scheinbar die Masse online die Stimme erhebt. Handelt es sich um Menschen oder um Maschinen? Hat man es mit realen Personen, bezahlten Propagandisten oder mit Fake-Accounts zu tun, von denen es angeblich, wie Journalisten argwöhnen, bis zu 100 Millionen auf den großen Plattformen geben soll? Es ist offensichtlich, dass die Integrität und die Identität des Kommunikators – dies sind zentrale Ankerpunkte zur Einschätzung von Glaubwürdigkeit und Wahrheit – in der digitalen...

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