Die Erfindung der Leistung

Die Erfindung der Leistung

von: Nina Verheyen

Hanser Berlin, 2018

ISBN: 9783446259652

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1438 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Erfindung der Leistung



 

 

Kapitel 2

Leistungsgefühle

 

Freud und Leid im meritokratischen Zeitalter

 

 

In einer »Leistungsgesellschaft« soll Einkommen an Leistung gebunden sein, aber dieser Anspruch ist schwer einzulösen, und die bundesdeutsche Realität sieht anders aus. Die in der freien Wirtschaft gezahlten Spitzengehälter in Millionenhöhe haben ganz offensichtlich jeden Bezug zu dem verloren, was die Herren der Schöpfung – und seltener die Damen – auf diesen Positionen tagtäglich tun. Gewiss, mancher Topmanager arbeitet von frühmorgens bis nachts, er trifft riskante Entscheidungen und trägt Verantwortung für viele andere Menschen. Aber dasselbe gilt auch für die Bundeskanzlerin, und dennoch verdient sie viel weniger. Noch einmal deutlich darunter liegt das Einkommen von Hochschulpräsidenten, Staatsanwältinnen sowie von Leitungspersonal in Krankenhäusern, obwohl die dort angestellten Ärztinnen im Schnitt mehr arbeiten, mehr riskante Entscheidungen treffen und mehr Verantwortung für andere tragen als jede Unternehmerin – schließlich geht es ganz unmittelbar um Leben und Tod. Gleichzeitig verdienen Menschen auf Spitzenpositionen in Medizin, Wissenschaft, Bildung und Kultur immer noch weitaus mehr als viele, die ebenfalls den ganzen Tag auf den Beinen sind und arbeiten.

Etwas anderes als Einkommen ist hierzulande vergleichsweise fest an Leistung gebunden: Selbstwertgefühl. Nach der New-Economy-Krise an der Jahrtausendwende berichtete beispielsweise die Wochenzeitung Die Zeit über die Webdesignerin Sabine Sutter (der Name wurde von der Redaktion geändert), der es bis vor kurzem noch sehr gut gegangen war: »Sie war gerade 30 geworden, hatte einen gut bezahlten Job als Webdesignerin in einer hoch gehandelten Internet-Firma, eine Altbauwohnung in bester Lage, einen großen Bekanntenkreis, und sie genoss es, sich mittags mit einem Latte macchiato unter die jungen Kreativen zu mischen, die in der ›Schanze‹, dem multikulturellen New-Economy-Viertel, ihre Mittagspause genossen.« Dann wurde ihr gekündigt. In Hamburg fiel die Entlassungswelle bei der New Economy besonders drastisch aus, und Sutter war keineswegs als Einzige davon betroffen. Trotzdem fühlte sie sich fortan als Außenseiterin und zog sich von Bekannten und ehemaligen Kolleginnen zurück. Selbst der Smalltalk beim Einkauf in ihrem einstigen Lieblingsviertel war ihr zu viel. Sie vereinsamte und schämte sich, den ganzen Tag zu Hause zu sein, während »die anderen etwas leisten«.

So wie Sabine Sutter ergeht es vielen. Wem in Deutschland betriebsbedingt gekündigt wird, der hat Anspruch auf staatliche Zahlungen, im internationalen Vergleich keine Selbstverständlichkeit. Es fließt also weiterhin Geld auf das eigene Konto, auch wenn es wenig ist, mit demütigenden Einblicken in die persönlichen finanziellen Verhältnisse verbunden und es den Behörden gegenüber nachzuweisen gilt, dass man sich um eine neue Stelle bemüht. Dieses Geld könnte die Betroffenen beruhigen, aber das tut es nicht. Es könnte ihnen vermitteln, dass sie weiterhin ein wertvolles Glied der Gesellschaft sind, dass man auf sie setzt und deshalb in sie investiert. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wie eine Studie über junge Langzeitarbeitslose im europäischen Vergleich zeigt, fühlen sich die betroffenen Männer und Frauen in Deutschland und in anderen wohlfahrtsstaatlich ausgebauten Staaten Nordeuropas besonders stark sozial isoliert.

Denn es ist mehr als das Einkommen, das Arbeitslosen fehlt. Zwar ist Identität in westlichen Konsumgesellschaften maßgeblich eine Frage des Portemonnaies. Der Lebensstil der jungen Kreativen im Hamburger Schanzenviertel kostet viel, das Geld fließt nicht nur in die Altbauwohnung und den Latte macchiato, sondern auch in Designertaschen, Fitness-Center und Restaurantbesuche. Wer sich das »nicht leisten« kann, der sieht sich selbst nicht mehr als »Teil der Leistungsgesellschaft« an, wie Die Zeit in dem erwähnten Artikel ebenfalls zu berichten wusste. Aber das ist keineswegs das einzige Problem, denn schon der Eindruck, nichts zu leisten, kann das Selbstwertgefühl destabilisieren, und dieser ist unabhängig von der Frage, ob jemand seinen täglichen Wunschkaffee noch bezahlen kann. Insofern ähneln die psychischen Probleme von Erwerbslosen den Ängsten mancher Pensionäre. Selbst wenn diese ihren gewohnten Lebensstandard halten können, kommen sie sich nach der Verabschiedung in den Ruhestand mitunter wertlos vor. Depressionen und andere psychische Krankheiten sind die Folge. Ihnen fehlt es nicht an Geld. Es bedrückt sie vielmehr die Sorge, nichts zu leisten, deshalb minderwertig zu sein und ausgeschlossen zu werden.

Solche Selbstzweifel werden manchmal als ein sehr junges Phänomen beschrieben, im Extremfall als Produkt einer durch neoliberale Politik angeheizten Gegenwart. Aber Gefühle, die sich an Erfahrungen und Bewertungen von Leistung binden – »Leistungsgefühle« also –, gehen historisch weiter zurück, und zwar sogar als ein Thema, das Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und beiderlei Geschlechts betraf. Spätestens im Fin de Siècle diskutierte die deutsche Öffentlichkeit die Freude und vor allem auch das Leid an der eigenen Leistung als ein Phänomen, das breite Bevölkerungsgruppen tangierte.

 

 

»… wie bestehe ich vor dieser Prüfung?« Das Leistungsethos einer Sozialistin

 

Die Spurensuche beginnt mit dem Leben der Lily Braun. Kennern der Geschichte der Sozialdemokratie und der Frauenbewegung ist ihr Name ein Begriff, und in ihrer eigenen Zeit – dem wilhelminischen Kaiserreich – war die sozialdemokratische Frauenrechtlerin und Publizistin eine Prominente. Als Amalie von Kretschmann wurde sie 1865 in Halberstadt im nördlichen Harzvorland geboren, und im Gefolge ihres Vaters, des preußischen Generals Hans von Kretschmann, wuchs sie in verschiedenen Garnisonsstädten Preußens auf – zumindest bis Wilhelm II. den Herrn Papa drängte, seinen Abschied zu nehmen. Die höhere Tochter erhielt keine formale Bildung, verkehrte aber an der Seite ihrer Eltern in vornehmen Kreisen, wobei es ihr »durch ihre Schönheit, ihren Charme und ihre Entschlossenheit stets gelang, als Mittelpunkt der um das Militär organisierten städtischen Geselligkeit wahrgenommen zu werden« – so formuliert es die Historikerin Dorothee Wierling, die auf der Grundlage von Briefen, Tagebüchern und anderen zeitgenössischen Materialien das Leben der Intellektuellen beschrieben hat. Diese genoss bis zur Entlassung ihres Vaters ein müßiges und genusssüchtiges Leben. Über Jahre war sie inoffiziell mit einem entfernten Cousin verlobt, einem Witwer mit vier Kindern, doch die Beziehung zerbrach. Als sie später doch noch vor den Traualtar trat, traf sie mit dem querschnittsgelähmten Philosophen Georg von Gizycki eine formal standesgemäße, aber ansonsten unübliche Wahl. Der außerordentliche Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin agitierte nämlich für die Sozialisten, und auch seine Gattin politisierte sich zusehends. Sie engagierte sich im radikalen Flügel der Frauenbewegung sowie in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Von Gizycki starb 1893 nach nur zwei Ehejahren, und seine Witwe heiratete 1896 in zweiter Ehe den sozialdemokratischen Politiker und Publizisten Heinrich Braun, der sich für sie von seiner schwangeren Frau scheiden ließ. Lily Braun bekam schon im Folgejahr selbst ein Kind. Von einem damit oft verbundenen Rückzug ins Private wollte sie allerdings nichts wissen.

Stattdessen avancierte sie zu einer der bekanntesten Publizistinnen ihrer Zeit, die von Vortrag zu Vortrag durch das Kaiserreich reiste und große Veranstaltungssäle füllte. In ihren häufig veröffentlichten Reden schlug sie eine Bresche für die Arbeiterbewegung, die Frauenemanzipation und schließlich sogar für den Krieg, wobei sie diese Themen durch ein pathetisches Verständnis von Leistung miteinander verband. Der Krieg, erklärte sie im Februar 1915, sei eine »Entwicklungsphase« in der Geschichte des Sozialismus, er werde zeigen, »daß der Staat die Frauen braucht«. Wenn der Kampf eines Tages vorbei sei, dann hätten die Männer »einen tiefen Einblick in die Leistungsfähigkeit der Frau auf den ihren Wesen entsprechenden Arbeitsfeldern« gewonnen, etwa im Bereich der sozialen Fürsorge. Dementsprechend forderte Lily Braun sogar ein Dienstjahr für Frauen ein. Dann stünde dem Staat in Krisenzeiten ein »Heer von Frauen« zur Verfügung, »von denen eine jede sofort wüßte, wo das kleine Rädchen ihrer Leistungskraft sich in die große Maschine des Ganzen einzufügen hat«. Frauen wie Männer, so ihre Utopie, sollten Seite an Seite für die Nation kämpfen, dienen und leisten.

Schon anderthalb Jahre später, im August 1916, starb Lily Braun in Berlin mit nur 59 Jahren. Sie war auf dem Rückweg nach Hause von der Post, wo sie einen Frontbrief ihres Sohnes abgeholt hatte, als sie einen Schlaganfall erlitt und auf offener Straße zusammenbrach. Zuletzt hatte sie intensiv an einem Roman geschrieben, wohl auch aus finanziellen Gründen, denn mit ihren Honoraren bestritt sie maßgeblich den Lebensunterhalt der Familie, die unter massiven Geldsorgen litt. Mehrmals drohte die Zwangsversteigerung des Hauses im vornehmen Berliner Westen. Lily selbst hatte nach dem Tod ihres Vaters dessen erhebliche Spielschulden übernommen, und Heinrich, im Gegensatz zu seiner zupackenden Frau von eher zaghaftem Wesen, trug wenig zum gemeinsamen Einkommen bei. Obendrein machte er weitere Schulden. Während der Vortragsreisen seiner Frau regelte er ihre Angelegenheiten in Berlin, sammelte Zeitungsberichte über ihre Auftritte und stärkte per Brief...

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