Die schwere Hand - Avi Avraham ermittelt

Die schwere Hand - Avi Avraham ermittelt

von: Dror Mishani

Paul Zsolnay Verlag, 2018

ISBN: 9783552058958

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 1148 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die schwere Hand - Avi Avraham ermittelt



 

 

5

 

Am Nachmittag, bei der Arbeit, gelang es ihr, ihre Anspannung zu verbergen und zu funktionieren wie immer. Sie blieb bis um halb sieben in der Bank und fuhr auf dem Nachhauseweg erst zu ihren Eltern, um die Mädchen einzusammeln. Sie aßen gerade zu Abend, und ihre Mutter stellte, ohne sie zu fragen, noch einen Teller mit Reis und Bohnensuppe auf den Tisch. Das war das Abendessen, das sie in ihrer Kindheit immer gegessen hatten, im Winter, wenn ihr Vater um halb sechs oder sechs von der Arbeit heimkam, und vielleicht deswegen wollte sie plötzlich dortbleiben. Oder vielleicht war es auch die Schwangerschaft, die sie den Wunsch verspüren ließ, jemand würde sie umsorgen und sie könnte für einen Moment aufhören, sich um alle anderen zu kümmern. Als sie die Wohnung mittags verlassen hatte, war diese ein Schlachtfeld gewesen, war Coby im Wohnzimmer herumgelaufen und hatte nach seinem Regenschirm gesucht, und all das würde sie aufräumen müssen, wenn sie nach Hause kämen. Aber ihre Mutter bekam, wie immer, nichts mit. Redete über ihre Wintermigräne und den Stockfleck, der durch die Regenfälle an der Decke entstanden war. Nur ihr Vater schaute sie an, während sie aß. Legte mehrfach seine Hand auf Danielas helle Haare und wischte ihr, als sie aufgegessen hatte, mit der Serviette den Mund ab. Obwohl sie ihre Mutter gebeten hatte, mit Noy Hausaufgaben zu machen, musste Mali feststellen, dass die Bücher nicht geöffnet worden waren und dass Noy noch nicht für die Mathematikarbeit gelernt hatte, und von all den Dingen war es ausgerechnet das, was ihr das Gefühl gab, die Kontrolle zu verlieren. Ihre Familie zerfiel, und sie vermochte nicht, dieses Auseinanderfallen zu verhindern.

Coby hatte nicht angerufen, seit sie ihn in der Wohnung zurückgelassen hatte.

Sie musste immerzu an das Telefonat mit Harry denken und an Cobys Plan, sie mit den Mädchen allein zu lassen und nach Australien zu fahren. Wäre irgendetwas anders gekommen, hätte sie an jenem Abend den Mut aufgebracht, mit ihrem Vater zu reden? Aber was hätte sie ihm sagen können, und noch dazu vor den Mädchen? Dass diesmal die Lawine stärker war als sie? Das Coby fiel und sie mit ihm in den Abgrund stürzten?

Später, in der Wohnung, fand sie auf dem Tisch in der Essecke seinen Brief, geschrieben auf die Rückseite des Umschlags mit der Stromrechnung. Und obwohl er nur zwei Zeilen lang war und nicht viel drinstand, weckte er ein wenig Hoffnung bei ihr, weil Coby darin endlich redete.

Bin am Morgen wieder da. Tut mir alles leid. Erkläre dir morgen, was passiert ist.

 

Die Wohnung war kein Schlachtfeld, als sie zurückkamen, und sie sah, dass Coby versucht hatte aufzuräumen, vor allem in den Zimmern der Mädchen, aber Daniela, der nie etwas entging, fragte: »Warum hat jemand bei mir alles durcheinandergebracht?« Und Mali sagte: »Ich habe versucht, Ordnung in den Schränken zu machen, bin aber vor der Arbeit nicht fertig geworden.« In ihrem Schlafzimmer lagen Kleidungsstücke und der Bettüberwurf auf dem Boden verstreut, aber ihre Sachen, die Coby aus dem Schrank geholt hatte, lagen auf dem Bett, als hätte er versucht, sie zusammenzufalten, und dann aufgegeben. Der Regenschirm, den sie ihm anstelle des verlorengegangenen gekauft hatte, lag nicht mehr achtlos hingeworfen auf dem Fußboden im Wohnzimmer. Coby hatte ihn neben ihr Bett gestellt, als wollte er, dass Mali ihn sähe. Ihre Koffer lagen an Ort und Stelle im Abstellraum auf dem Dach, und als sie sie sah, war sie sich fast sicher, dass Coby nicht dabei gewesen war, für die Reise zu packen, als sie ihn zu Mittag überrascht hatte.

Sie versuchte, Daniela ohne Dusche ins Bett zu bringen, aber die Kleine brauchte lange, um einzuschlafen. Als Mali auf ihrem Bett saß und ihr dünnes Ärmchen streichelte, sprachen sie über Purim, und dieses Gespräch würde Mali niemals vergessen. Daniela fragte, ob sie sich wirklich verkleiden müsse. Natürlich nicht, erwiderte Mali und fragte dann: »Aber warum möchtest du nicht? Weil wir kein Kostüm gekauft haben? Alle deine Freundinnen im Kindergarten verkleiden sich.« Daniela wälzte sich in ihrem Bett herum und sagte: »Deswegen nicht. Weil ich Angst habe.« Tage später, als Mali an diese Antwort denken musste, verursachte sie ihr ein Schaudern. Ausgerechnet an dem Abend kamen keine beruhigenden Geräusche von draußen, keine Gespräche der Nachbarn und auch nicht der ferne Lärm der Busse, die auf dem Ben-Gurion-Boulevard fuhren. Mali versuchte zu lächeln, als sie fragte: »Wovor denn, meine Süße? Vor den Kostümen?« Daniela schwieg und sagte nach einer Weile dann: »Vor Prinzessinnen.«

Danach machte sie, obwohl es schon spät war, mit Noy im Wohnzimmer Hausaufgaben. Die Rechenübungen waren eine Erleichterung, da sie sie an andere Dinge denken ließen. Vielleicht fielen sie als Familie ja doch noch nicht auseinander? Vielleicht war das nur ein weiterer vorübergehender Tiefpunkt? Sie hatten seit Eilat schwierige Phasen gehabt, ja, im Grunde genommen hatte es solche auch schon zuvor gegeben. Sie sprachen niemals über eine Trennung, aber vor zwei Jahren hatte sie Coby vorgeschlagen, gemeinsam zu einer Therapie zu gehen, was jedoch kein realistischer Vorschlag war, da es Dinge gab, die sie beide nicht würden erzählen können.

Als Noy schlafen gehen wollte, gab Mali den Versuch auf, den Abend noch weiter in die Länge zu ziehen. Sie brachte sie ins Bett, und als Noy fragte: »Wo ist Papa?«, sagte sie, er käme bald zurück, weil sie sich, trotz des Briefs, den er hinterlassen hatte, dessen sicher war. Bis ungefähr um Mitternacht hoffte sie noch. Räumte weiter die Wohnung auf, versuchte einmal, Coby auf seinem Handy zu erreichen, und stieg dann nach oben aufs Dach, als bestünde die Chance, dass er sich dort vor ihr versteckt hielt. Harry lag in der Abstellkammer und neben sich eine kleine Pfütze Erbrochenes. Sie füllte ihm den Trinknapf mit Wasser und öffnete ihm die Tür zum Dach, damit er ein bisschen Luft schnappen ging, aber er wollte nicht ins Freie.

Und erst um Mitternacht zog sie den Schlüssel aus dem Türschloss und zog sich im hell erleuchteten Schlafzimmer um.

Das war eine Vereinbarung, die Coby nicht brechen durfte: Egal, was zwischen ihnen passierte, er würde sie nie wieder allein schlafen lassen. Sie lag im Bett und versuchte, an das Gespräch mit Daniela zu denken und an die Schwangerschaft, von der sie noch niemandem erzählt hatte, und nicht an die schwere Hand, denn daran durfte sie nicht erinnert werden, nicht, wenn Coby nicht bei ihr war. Und jetzt war die Angst bei ihr, trotz der eingeschalteten Lampen und des Telefons. Sie spürte sie dort und schloss die Augen nicht. Öffnete, trotz des kalten Winds, ein Fenster, aber die Straße lag noch immer still, und die Angst ging nicht. Ihr Fehler war, dass sie Gila anrufen wollte, denn als sie zur Uhr schaute, sah sie, dass es fast halb zwei war. Dieselbe Uhrzeit.

Und da konnte sie den Schrecken schon nicht mehr beherrschen, legte sich erneut die Hand um ihren Hals.

 

Es war ihre erste Reise allein, seit die Mädchen geboren waren, und sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie fahren wollte. Coby hatte ihr gut zugeredet, denn es sollten alle Abteilungsleiter teilnehmen, und am Donnerstag- und Freitagmorgen würde eine Fortbildung für Hypothekenberater stattfinden und ein offenes Gespräch mit dem Vorstand. Eine Gelegenheit, die man nicht verpassen durfte, sagte er. Außerdem würden die Mädchen und er sich schon vergnügen.

Donnerstagmorgen waren sie vom Sde-Dov-Inlandsflughafen in Tel Aviv gestartet und hatten vor zehn schon ihre Zimmer im Hotel »Royal Club« direkt am Strand bezogen. Sie hatte Glück, weil sie Zimmer 723 bekam, mit kleinem Balkon aufs Meer. Der erste Tag war lang und endete mit einem gemeinsamen Abendessen im Speisesaal, und danach war sie mit Aviva und ein paar Freundinnen aus anderen Filialen noch ins »Zoro«, ein Pub am Strand, gezogen. Hinterher, als sie danach gefragt wurde, erinnerte sie sich nicht, ob in dem Pub ein Mann gewesen war, der sie beäugt hatte. Während der Vorträge an jenem Tag und auch am darauffolgenden Morgen hatte sie im Konferenzsaal in einer der hinteren Reihen gesessen, neben Eran Amrami aus der Filiale in Modi’in, der bis vor zwei Jahren mit ihr zusammen in der Filiale in Cholon gearbeitet hatte. Und am Ende des zweiten Tages, vor Beginn des Sabbats, fand ein feierliches Diner im Veranstaltungssaal statt. Preise an ausgezeichnete Mitarbeiter wurden vergeben und Reden von Mitgliedern des Vorstands und des Betriebsrats gehalten. Diejenigen, die den Sabbat hielten, waren hinterher auf ihre Zimmer gegangen, und alle anderen zu einer Party in der Hoteldiskothek, die auch Gästen von außerhalb offenstand. Sie hatten Getränkecoupons für die Bar bekommen, und sie trank zwei Gläser Weißwein. Als sie am nächsten Tag auf dem Polizeirevier gefragt wurde, ob sie das Gefühl gehabt habe, jemand habe sie während der Party beobachtet, konnte sie nicht darauf antworten. Die meisten Leute in der Diskothek waren Mitarbeiter der Bank gewesen, die sie zum Teil gut kannte und zum Teil so gut wie gar nicht, aber es hatte auch andere Gäste gegeben, vielleicht Touristen, obgleich das Hotel an jenem Wochenende Anfang März nicht ausgebucht war. Und da waren noch die Kellner, das Zimmerpersonal und die Reinigungskräfte, Männer und Frauen, aber sie erinnerte sich an niemand Speziellen. Außerdem waren ja alle vernommen worden. Die Ermittlungen der Polizei ergaben, dass sich ein Schweizer Tourist im Hotel aufgehalten hatte, ein Mann von dreiundvierzig Jahren, der gegen...

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