So beschissen schön ist nur das Leben

So beschissen schön ist nur das Leben

von: Shaun David Hutchinson

Arena Verlag, 2018

ISBN: 9783401807669

Sprache: Deutsch

360 Seiten, Download: 21692 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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So beschissen schön ist nur das Leben



1. Pyrokinese

Der Junge schreit wie am Spieß.

Sanitäter schieben ihn in den sterilen Raum der Notaufnahme des Roanoke General Hospital. Er schreit und windet sich auf der Bahre, als würde das Feuer, das seine Haut versengt hat, immer noch brennen, irgendwo tief in seinen Knochen, wo die Sanitäter und Ärzte und Pflegekräfte, die sich um ihn drängen, es niemals erreichen und löschen können.

Er sieht aus, als wäre er in meinem Alter. Siebzehn. Sein Haar hat die Farbe von Herbstlaub, jedenfalls da, wo es nicht verbrannt ist. Es erinnert mich an das Laub, das ich immer mit meinem Dad zu Haufen zusammengerecht habe, um dann mit vollem Anlauf hineinzuspringen.

Von meinem Versteck aus kann ich seine Augen nicht sehen, aber seine Stimme ist wie eine Eisenkette. Sie knarzt von den Qualen, unter denen sie aus seinem Hals gezerrt wird. Die Haut auf seinen Beinen und auf einem Teil seiner Brust ist schwarz verkohlt.

Der Geruch von Verbranntem hängt in meiner Nase, und obwohl mir bereits die Galle hochkommt, muss ich an all die Male denken, die ich mit meinen Eltern im Sommer gegrillt habe. Mom hamsterte immer Extraessen hinten im Kühlschrank, weil Dad grundsätzlich das Huhn anbrannte.

Es ist schon spät und ich sollte längst verschwunden sein, aber ich kann mich einfach nicht von dem Anblick des Jungen losreißen. Ich bin ein Gefangener seines animalischen Geheules. Es gibt keinen Ort in diesem Krankenhaus, an dem ich mich verstecken könnte, um seinen Schreien zu entkommen.

Also bleibe ich. Und sehe zu. Und lausche.

Ein Mädchen kommt mit wild rudernden Armen reingerannt. Sie schreit irgendwas, doch mein Herz klopft so laut, dass ich nur einzelne Wörter ausmachen kann. »… im Pool … Party … er hat gebrüllt …« Die Sanitäter halten das Mädchen zurück und sie sackt in sich zusammen. Sie ist ein zerbrochener Spiegel, dessen Scherben kleine Stücke von uns reflektieren: unsere Wut, unser Entsetzen, unsere Angst – geborgt und wieder zurückgeworfen. Meine kann sie behalten.

Ich konzentriere mich ganz auf den Jungen.

Das Wichtigste ist jetzt, seine Atemwege freizuhalten. Das weiß ich. Im Moment ist das alles, worauf es ankommt. Wenn der Junge das Feuer eingeatmet hat, spielt es am Ende möglicherweise gar keine Rolle mehr, wie seine Haut aussieht. Dass seine Schreie bis in den hintersten Winkel der beengten Notaufnahme des Roanoke dringen, ist ein gutes Zeichen. Wenn er aufhört zu schreien, dann besteht Grund zur Sorge.

Die Ärzte und Pflegekräfte stecken die Köpfe zusammen. Vielleicht besprechen sie, wie sie vorgehen wollen; vielleicht beten sie. Oder trauern. Der Junge braucht ein Wunder. So eins wie im Märchen.

Eine Ärztin – ein Oktopus von Frau, der mit allen acht Armen gleichzeitig zu Werke geht – schneidet die Reste seiner Kleidung auf und schält sie wie zerfaserte Tapetenstreifen ab. Der Junge stöhnt.

Ich wende mich ab. Auf so was war ich nicht gefasst. Ich bin bloß in die Notaufnahme gekommen, um den Pflegekräften Hallo zu sagen und nachzusehen, ob sich irgendwer beim Feuerwerkanzünden einen Finger weggesprengt hat. Da heute der vierte Juli ist und somit im ganzen Land der Unabhängigkeitstag gefeiert wird, stehen meine Chancen, einen gruseligen Böllerunfall zu sehen, ziemlich gut.

Aber das hier ist schlimm. Das hier ist so sehr wie in jener Nacht.

Die kleine Notaufnahme platzt von den vielen Leuten, die sich darin drängen, schier aus allen Nähten. Die Wände sind weiß. Der Boden ist weiß. Die Vorhänge, die die einzelnen Untersuchungsräume abtrennen, sind eierschalenfarben, bis auf den einen für den Kinderraum, der mit winzigen verblassten gelben Entchen bedruckt ist. Die Rezeption ist eine Stolperfalle, die irgendwer mitten in die Notaufnahme gepflanzt hat, sodass alle Ärzte, Schwestern und Pfleger gezwungen sind, einen regelrechten Eiertanz drum herum aufzuführen. Die Pflegekräfte beschweren sich immer darüber, aber das Ding ist eine feste Einrichtung. Nicht wegzubewegen.

So wie ich.

Meine Waden schmerzen vom langen Hocken und meine Schultern sind ganz steif. Ich habe Angst, dass mich jemand sieht, wenn ich mich bewege, denn heute Abend möchte ich unsichtbar bleiben. Der verbrannte Junge braucht mich. Es ist wichtig für ihn, dass ich Zeuge seines Leidens werde. Ein merkwürdiger Gedanke, aber langsam gewöhne ich mich daran, dass mir in letzter Zeit ständig so sonderbares Zeug durch den Kopf schießt. Jeden Tag eigentlich.

Zum Beispiel, dass die Gerüche der Notaufnahme mich irgendwie an ein italienisches Panini erinnern. So eins, das förmlich in Essig und Majo ertrinkt und mit viel zu viel Oregano gewürzt ist. Hier herrscht normalerweise eine Mischung aus Bleichmittel, Blut und all den üblen Aromen vor, die die Patienten so mit sich reinbringen. Aber heute nicht. Der Junge ist nicht bloß verbrannt. Er ist gar.

Ich wende mich wieder dem Geschehen zu, wobei ich hoffe, dass sie inzwischen mit Schälen fertig sind. Er bewegt sich jetzt weniger als vorher. Weint auch weniger. Vielleicht haben ihm die Ärzte was gegen die Schmerzen gegeben. Bloß wissen er und ich, dass es Schmerzen gibt, die so tief gehen, dass kein Betäubungsmittel der Welt sie jemals lindern kann. Sie sind in unsere Knochen gegraben. Sie stecken in unserem Knochenmark wie Krebs. Falls der Junge überlebt, wird er sich an diese Schmerzen nicht erinnern wollen.

Das übernehme ich für ihn.

Ich erschrecke, als plötzlich Stevens Stimme hinter mir ertönt. »Drew? Was machst du denn hier?« Steven ist spindeldürr, hat eine dicke Knollennase und den Großteil seiner Haare zusammen mit dem Rest seines guten Aussehens in der Highschool zurückgelassen.

»Hey, Steven«, antworte ich betont beiläufig. Ich stehe langsam auf, ohne den verbrannten Jungen aus den Augen zu lassen, und verberge meine Beklommenheit hinter einem schiefen Grinsen. »Ich war auf dem Weg nach Hause und dachte, ich komm noch schnell vorbei, um Hallo zu sagen.«

»Schlechter Zeitpunkt, Junge.« Er hat einen Armvoll steriler Verbände dabei und sieht in die gleiche Richtung wie ich. Der Junge schreit. Steven zuckt zusammen. Manchmal denke ich, er ist viel zu sensibel, um Krankenpfleger zu sein.

Ich nicke abwesend. Stevens Worte dringen in meinen Gehörgang, aber ich nehme sie nicht wirklich wahr. Ich versuche, ihm zu antworten, doch das Feuer in den Schreien des Jungen verschlingt sämtlichen Sauerstoff hier im Raum.

Steven wirft einen Blick auf die Verbände in seinen Händen und sagt: »Ich sollte dann mal gehen.«

»Ich auch«, erwidere ich. »Ich hab morgen Frühstücksschicht. Sehen wir uns da?«

»Klar.« Bei der Erwähnung von Essen leuchten Stevens blaue Augen auf. »Sag Arnold, er soll die Eier ein bisschen länger kochen. Glibbrige Eier sind widerlich.«

Der Junge kreischt und Steven verschwindet. Seine Schritte, mit denen er in dem Tumor von Menschen verschwindet, die den Jungen umgeben, haben etwas Entschuldigendes.

Ich bleibe. Die Ärzte und Pflegekräfte drücken Bandagen auf versengte Haut. Nach den Atemwegen kommt das Verhindern von Infektionen auf Platz zwei ihrer Prioritätenliste. Ich kann nicht erkennen, wie viel von seiner Haut verbrannt ist, aber es ist auf jeden Fall genug. In Kürze werden sie ihn in einen anderen Bereich des Krankenhauses schieben. Kann sein, dass ich ihn danach nie wiedersehen werde. Ich kenne ja nicht mal seinen Namen.

Doch ich muss los. Der Tod kommt bald, wie immer. Vielleicht nimmt sie den Jungen mit, vielleicht auch nicht, aber ich darf dann auf keinen Fall mehr hier sein. Sie ist schon mal so spät gekommen und hat mich nicht erwischt. Aber den Fehler macht sie nicht noch mal und ich bin noch nicht bereit zu gehen.

Niemand sieht mich verschwinden. Wie auf Autopilot laufe ich durch das Krankenhaus. Es gibt Türen, die nur für Mitarbeiter sind, doch ich bin unsichtbar. Ich tue so, als könnte mich keiner sehen, und so werde ich auch nicht gesehen. Die Krankenhauswände haben kein Gedächtnis. Sonst würden sie unter all dem Leid hier zusammenbrechen. Es ist besser, wenn sie es gleich wieder vergessen.

Im ersten Stock, weit hinter der Chirurgie, gibt es eine Abteilung, die mitten während der Renovierungsarbeiten aufgegeben worden ist und jetzt langsam vor sich hin gammelt. Das war damals während der Wirtschaftskrise, als dem Haus das Geld ausgegangen ist. All die nackten Stützpfeiler und nur zur Hälfte hochgezogenen Trockenbauwände wurden sich selbst überlassen und verwesen jetzt wie vergessene Knochen. Die Luft ist von Staub und Verwahrlosung erfüllt. Außer mir kommt niemand je hierher. Niemand erinnert sich auch nur, dass es diesen Teil des Krankenhauses überhaupt gibt.

Ich schnappe mir die Taschenlampe, die ich immer neben der Tür abstelle. Sie wirft einen flachen Lichtkegel. Genug, um die Schatten zurückzudrängen, aber nicht genug, um sie vollständig zu vertreiben. Manchmal versuche ich, mich selbst auszutricksen, indem ich mir vorstelle, dass ich in meinem früheren Zuhause in meinem Bett liege und die anderen in ihren Zimmern vor sich hin träumen. Aber diese Illusion hält nie besonders lange an.

Das hier ist jetzt mein Zuhause.

Ich trotte in den hintersten Winkel, wo sich der einzige Raum befindet, der ansatzweise fertiggestellt worden ist. Er hat vier Wände und eine Tür ohne Klinke, die ich mit Klebeband verschließe. In den meisten Nächten fühle ich mich hier drin wie in einer Gefängniszelle.

Mein Bett hinten an der Rückwand besteht aus einem Haufen krumpeliger schmutziger Laken, auf dem es sich in etwa so bequem liegt wie auf einem Berg Steine. Mein Kissen ist ein Wäschesack, den ich mit alten Krankenhauskitteln ausgestopft habe.

Ich stecke mir meine Ohrstöpsel in die Ohren und...

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