Karst

Karst

von: Peter Rosei

Residenz Verlag, 2018

ISBN: 9783701745678

Sprache: Deutsch

188 Seiten, Download: 239 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Karst



I


Wer kennt die Hohe Tatra nicht? Im Osten, an der Grenze zwischen Polen und der Slowakei gelegen, wird sie gern als kleinstes Hochgebirge der Welt bezeichnet. Niedrig ist sie dabei keineswegs. Das ganze Massiv ist allerdings bloß an die fünfzig Kilometer lang, also bald mit einem Blick zu überschauen. Anders als etwa bei den Alpen gibt es keinerlei Vorberge, unvermittelt erheben sich die Gipfel aus der Ebene. Kahle Felspyramiden, bloß am Fuß von Wäldern und Wiesen eingefasst, erinnern sie an Zeichnungen von Kinderhand: Gerade so, Zack neben Zack, stellen Kinder sich für gewöhnlich ein Gebirge vor.

Unwahrscheinlicher Anblick der blauen und grünen Waldungen, die vor Ruhe und Frieden rauchen, der kahlen, zerrissenen Almgründe, der blanken, von der Sonne überstrahlten Felsen.

Die Kleinstadt Poprad, in der Ebene draußen gelegen, ist Verwaltungsmittelpunkt hier, Sitz der Schulen und Behörden. Am Rand der Berge zieht sich lose eine Kette von Dörfern hin, von Kurorten, früher der Sommerfrische, heute auch und vor allem dem Wintersport gewidmet: Sie sind durch eine Art von Lokalbahn miteinander verbunden.

Nicht nur die Existenz dieser seltsam unzeitgemäß wirkenden Bahn, auch viele andere Kleinigkeiten deuten auf den Ursprung all dieser Einrichtungen in einer längst verflossenen Ära hin, der Zeit der Monarchie, des ehemaligen Kaiserreichs. Freilich hat die mittlerweile vergangene Zeit mit ihren Kriegen, Revolutionen und Umbrüchen die alten Zusammenhänge vielfach zerstört, manches wurde ganz abgeschafft, vieles aber auch bloß um- und wieder aufs Neue umgewidmet und umbenannt. Ein trüber Glanz liegt über dem Ganzen wie der Schleier in einem alten Spiegel.

Die spätere Jana Kelemen wurde als Jana Soukup in die damals noch kommunistische Volksrepublik Tschechoslowakei hineingeboren. Ihr Vater, Jaroslav Soukup, war zuerst Verwalter im Hotel Elisabeth in Starý Smokovec gewesen, eine Art von besserem Hausmeister. Jetzt wirkte er dort als Direktor: Er war eben immer schon Kommunist und Parteimitglied gewesen.

Das Hotel, ursprünglich nach Sisi, der Gemahlin des Kaisers, benannt, war nun zum Gewerkschaftsheim umfunktioniert und hieß Práca, was auf Slowakisch so viel wie Arbeit heißt.

Das Práca, ein noch immer stattlicher, wenn auch etwas heruntergekommener Kasten, war in einer Art von Schönbrunnergelb gestrichen: Jedes Zimmer verfügte über einen eigenen Balkon. Im Inneren verbinden mit roten Läufern ausgelegte Gänge die in feierlichem Weiß gehaltenen Räumlichkeiten. Kein kleines Haus, das Práca, o nein! Oben drüber, über dem von Rost gefleckten Blechdach, prangte der fünfzackige, rote Stern.

Es war allerdings die Gewohnheit des Herrn Direktor Soukup, viel und ausführlich im gleich gegenüber dem Práca großartig auf einer kleinen Anhöhe platzierten Grandhotel sich aufzuhalten, ein freilich noch respektableres Haus. Bald kam es dazu, dass Herr Direktor Soukup mehr im Grandhotel verkehrte als im eigenen Haus, und das aus sehr gutem Grund: Für führende Leute, für Mitglieder der Partei, der Regierung, war es zwar selbstverständlich und ganz unabdingbar, gesinnungsmäßig stets auf Linie zu sein: Privat und für sich zogen diese Kreise ein Leben im Stil des besiegten Klassenfeindes allemal vor.

Wie der altgediente Mixer in der Bar des Grandhotels, berühmt für seine Cocktails, gern augenzwinkernd anmerkte, meist presste er dabei den kalt beschlagenen Shaker kurz gegen die glatt rasierte Wange: »Wenn einer etwas sehr gut kann, nun, ein paar werden sich immer finden, die das zu schätzen wissen.«

Der Rum des kubanischen Brudervolkes, in der Bar des Grandhotels exklusiv ausgeschenkt, unterstützte noch die Künste des Barkeepers. Da war immer Betrieb. Reden wurden geführt. Es gab Damen. Es gab Verbrüderungen. Die Nächte hatten hier die Eigenart, sich locker und weit in den Tag hinein auszudehnen, das Leben war süß.

Ob Herr Direktor Soukup seine Agenden im eigenen Haus zuletzt überhaupt noch wahrnahm? Sein Blick war glasig, das Gesicht verschwitzt, die Nase gerötet. Kam er denn einmal heim, war er nervös, sein Nervenkostüm war sehr dünn. Man ging ihm dann besser aus dem Weg.

»Du blöde Sau!«, brüllte Herr Direktor Soukup. Mit erhobenen Fäusten stand er seiner Frau gegenüber, ja, seiner Angetrauten, die ihm, fast war es ja Zufall, bei einer seiner Heimkünfte über den Weg geraten war. Ein Wort hatte das andere gegeben. Derartige Szenen häuften sich zuletzt arg. Was Wunder, dass die Frau schließlich genug hatte und sich mit Sack und Pack davonmachte?

Herr Direktor Soukup kam, von einem seiner Angestellten im Grandhotel aufgestöbert, gerade noch dazu, als die Frau eben aus der Tür treten wollte.

»Da schaust du, was?«, sagte sie, stehen bleibend und leise, nun doch ein wenig wie ertappt.

»Du bleibst hier! Hier bleibst du!«, befahl er.

Kurz den letzten Koffer abstellend, alles andere war schon aufgeladen, sagte die Frau nun doch etwas lauter: »Du bist doch vollkommen impotent, Jaroslav. Was bringst du schon zusammen? Für gar nichts bist du gut.«

»Wer hat dir denn unser Kind gemacht, ha? Ja, wer denn? Wer? So sag schon! Sag!« – Der Herr Direktor schäumte.

Auf seine Frage bekam er allerdings keine Antwort mehr. Bläulich bauschten sich die Abgaswölkchen aus dem Auspuff des anfahrenden Autos, die Frau war dahin.

Die Kundschaft des Práca, an Ungereimtheiten weiß Gott gewöhnt, tuschelte hinter vorgehaltener Hand über den Vorfall. Zwar, man war ja allerhand gewöhnt hier: aufsässige Bedienung, dreckige Leintücher, zerkochtes Essen. Aber schließlich, man war auf Kur, war auf Ferien und brauchte, ganz im Gegensatz zum Namen des Hotels, eben nicht zu arbeiten. Da nimmt man krummes Besteck, kein Toilettenpapier und Ähnliches schon in Kauf. Einmal kam es doch dazu, dass der Begriff Schweinefraß zum Regionalkomitee der Partei nach Poprad durchsickerte. Da fuhr dann eine Kommission an, die der Herr Direktor vorsorglich gleich ins Grandhotel hinaufführte.

Die Fenster von Janas Jungmädchenzimmer waren so angeordnet, dass Jana durch die einfallenden Sonnenstrahlen selbst geweckt wurde: Sie fielen direkt auf ihren Polster.

Wie liebte sie es, aus dem warmen Bett zu schlüpfen, barfuß ans Fenster zu treten, zu sehen, wie die Beeren der Ebereschen vor dem blauen Himmel leuchteten, die fein gesägten, grünen Blättchen im Wind zitterten. An die Felsen der Gipfel hatte sich breit ein Bündel von Sonnenstrahlen gelegt. Die Sonne selbst? Sie lag noch versteckt im Tal wie das sagenhafte Tier, das bald aufwachen wird.

Tief sog Jana die Morgenluft ein. Mit gelöstem Haar, klein in ihrem Nachthemd, stand sie am Fenster. Wie groß und hell und weit die Welt doch war! Ihr ging das Herz auf. Ach, könnte es doch nur immer so sein!

Dann fiel ihr der Vater ein, unausweichlich der, mit seinen Launen und Schrullen, den meist düsteren Mienen. Dazu die Schule in Poprad, die Lehrer, die Schularbeiten und Noten – all das.

Jana war, wie man sieht, eine empfindsame, eine poetische Natur, verträumt und zart. Sie war ja auch sehr allein gelassen. Oft ging sie im Hotelgarten auf und ab, auf den Wegen da, und wünschte sich weit fort. Dabei hätte sie nicht einmal sagen können, wohin. Dass sie das Höchste und Schönste, das schlechthin Wunderbare für sich erhoffte, ja, erwartete, so viel war klar.

Zu Zeiten schrieb sie auch eifrig in ein Tagebuch, und zwar Sachen wie: »Ich fühle mich wie ein Vogel, dem der Sommer das Nest verregnet hat«, oder: »Die Sonne scheint gar so schön – aber nicht für mich«.

Was den Alltag und seinen Betrieb anging, war Jana durchaus nicht weltfremd oder gar auf den Kopf gefallen, sie wusste, was los war, was sie wollte und brauchte. Der Papa? Na, bitte sehr! Doch, immerhin, sie war die Tochter des Hauses, Tochter des Herrn Direktor. Bedient und vom Personal rundum gehätschelt, war sie es gewöhnt, ihre Wünsche rasch und pünktlich erfüllt zu sehen. Mein Gott, was wünschte sie sich denn schon?

War das Reich, in dem sie Prinzessin war, auch etwas anbrüchig und kaum großartig zu nennen, ein Reich war es immerhin. Jana trug den Kopf hoch. Manch einer vom Personal hielt sie deshalb für kalt, für berechnend. Die Kleine konnte so ihre Art haben! Was ihre Kapricen noch verstärkte: In Phasen trüber Verstimmung kam sie sich bald arm und übersehen vor: Dann tyrannisierte sie die Leute.

Sie war an die siebzehn Jahre alt jetzt, Jana, schlank und rank, mittelgroß, mit kleinen Händen und Füßen. Frisch, sauber und hell war sie, weiß die Haut, glatt das Gesicht. Sie hatte hellgraue Augen, einen rosigen Mund, eine...

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