Das große Spiel

Das große Spiel

von: Céline Minard

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2018

ISBN: 9783957575807

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 391 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das große Spiel



Heute Morgen habe ich sauber gemacht. Großputz. Als Erstes habe ich das Ochsenauge weit geöffnet und es sorgfältig auf der letzten Raste arretiert. Dann habe ich die Tür geöffnet, sie ebenfalls arretiert und die Luft durch meine Behausung ziehen lassen, von einem Ende zum anderen, wie einen Windstoß auf hoher See. Schließlich habe ich die Tür wieder verschlossen, nicht jedoch das Rundfenster, und habe die Seidendecke ausgeschüttelt, mein Kopfkissen aufgeschüttelt, die Regale entstaubt. Ich habe den Tisch an der Wand entlang geschoben, den Würfel umgestellt, das Sitzkissen und den Teppich hinausgebracht, und habe den Staub ausgeklopft. Ich habe die Stühle abgewischt, das Innere der Geschirr-, der Ski- und Schuhschränke mit einem Schwamm ausgewischt. Dann bin ich mit dem Besen durchgegangen und habe den ganzen Staub ins Tal gefegt. Das Geschirr wird nach jeder Mahlzeit abgewaschen und weggeräumt, ich habe nur einen Topf ausgescheuert, dessen Boden sich verfärbt hatte. Meinen Karabiner habe ich auseinandergenommen, abgewischt und geölt. Anschließend habe ich ihn wieder vor die Packungen mit Munition gestellt. Mit einem in Wasser und schwarzer Seife getränkten Wischmopp habe ich den Fußboden gereinigt. Dann habe ich den Mopp ausgespült und bin aufs Dach gestiegen, um den Zustand meiner Solarpaneele zu überprüfen. Alles war in Ordnung. Daraufhin habe ich mich zu dem Sanitärbereich abgeseilt, die Dusche, die Toilette, die Wände sauber gemacht und alles offen gelassen, damit die Flächen trocknen. Abschließend habe ich einer blauen Distel den ausgewrungenen Wischmopp aufgesetzt.

Als der Fußboden im Haus trocken war, habe ich mein Tuch für die Scheiben herausgeholt und das große vierteilige Rundfenster mit Branntweinessig geputzt. Auf der Außenseite habe ich mich auf die fünfzig Zentimeter breite Fensterbank gestellt, die die Scheibe vor dem direkten Wind schützt, über dem Abgrund, und auf einmal habe ich mich gefühlt wie diese mit Seilen an einem Hochhaus hängenden Fensterputzer in der Stadt – ohne Handgriff. Verloren an der riesigen Fassade eines Wolkenkratzers, auf einer schmalen Plattform, die an Saugnäpfen über die abgerundete Glasfläche eines Hochhauses gleitet, weit über den Ameisen, den gelben Taxis, den lärmenden Avenues, den Staus, in luftiger Höhe. Das Empire State Building und die grandiose Masse der zahllosen, von Menschen errichteten Gebäude vor mir, durchlöchert von quadratischen Augen, gefüllt mit Leere, wie auf dem Reißbrett angeordnet. Weit über der Ebene des Central Parks, die flach und nackt ist wie eine Hand, weit über dem Spiegel des Wassers die Chrysler-Krone zum Anfassen nah, im Rücken den in den Himmel gegrabenen Raum, der von Millionen von Steinen, von Ziegeln, von Mühen, von Existenzen gegraben wurde, die beim Wiederaufbau dieser seit dem Pliozän ausradierten Berge verbrannt wurden, stehe ich da, fragil, inmitten einer menschlichen Geologie, eines ohrenbetäubenden Lärms, mit zitternden Beinen, mit angehaltenem Atem. Ich schließe die Augen. Ich erinnere mich an die zahlreichen Avenues, vom Rockefeller Center bis zum East River, bis zum anderen Ufer, an die dicke Broadway-Ader, die Fifth, an die Schönheit des Piers bei Fulton, an die beiden Trauerlöcher, die in der Spitze der Insel klaffen, an die Statue. Ich habe das gesamte Straßennetz von Nord nach Süd nachgezogen und es über meine Wiese gelegt, Harlem, das Reservoir, das MoMA, den Grand Central, erneut das Empire State Building, die Villages, die Vergangenheit, die Chinesen und den Kunstrasen voller Ratten. Als ich den Ozean, das Jod, die Weite, die Leere roch, stellte ich meine Essigflasche zur Seite und setzte mich mit dem Rücken zur Scheibe. Dann öffnete ich wieder die Augen. Der Himmel war voller langgezogener Wolken. Ich betrachtete den Fels, die Türen zu meinem Sanitärmodul, den Wischmopp, der auf seiner Distel mit dem Kopf nickte, und wartete, bis das Hupen und der Wind sich allmählich legten. Sie legten sich. Und plötzlich erschien mir meine Behausung wie das Glanzstück einer fortgeschrittenen Technologie, während mir alle Städte zu Füßen lagen, versteinert, verdeckt, unkenntlich, über jeden Zweifel erhaben.

Ich beendete meine Putzaktion und achtete darauf, keine Spuren zu hinterlassen, dann ging ich hinein und ließ ein Fenster offen, damit sich der Essiggeruch verzog. Ich hatte Hunger.

Ich streckte mich auf meiner Liege aus, um an die Decke zu starren. Nichtstun gehört zu meinen eingeplanten Beschäftigungen. Sie ist wichtig. Und schwierig. Mit offenen Augen ausgestreckt bemühte ich mich, nur den Luftzug wahrzunehmen, der wie ein rücksichtsvoller Besucher durchs Rundfenster wehte. Er war kaum kühler als das Gemisch, durch das ich mich tagtäglich bewege, wenn ich mich im Innern aufhalte, aber er war lebendiger, frischer, salziger als sonst. Ganz sacht brachte er im hinteren Teil des Raums eine Saite meines Cellos zum Schwingen, ein sanfter, minimaler Ton, ein Ton, der ohne den Klangkörper des Instruments nicht hörbar gewesen wäre. Ich glaubte ihn zu hören.

Und wenn der Körper eine Einfügung in den Raum wäre? Unsere Art, den Raum einzunehmen, wie ein Eckholzschneider in einen Scheit dringt. Unser Vektor. Ich war wirklich sehr hungrig. Ich stand auf, um die Türen des Sanitärmoduls zu schließen, holte meinen (trockenen) Wischmopp, räumte den Besen weg und überprüfte die Vorräte in der Speisekammer. Dann bereitete ich mir mit aller Sorgfalt eine vollständige und befriedigende Mahlzeit zu. Der Garten erwartet mich, die Mauer im Garten erwartet mich, die Wand erwartet mich, die Konzentration erwartet mich. Ich bin ein Körper in einem Raum, lebendig, ich esse. Ich habe viel zu tun, aber wann und wie spielt keine Rolle, weil alles zu meinem Training gehört. Du kaust gut, du isst. Als ich fertig war, habe ich abgewaschen und das Geschirr eingeräumt. Und um dem Luftzug, der bei mir hindurchgezogen war, ebenfalls einen höflichen Besuch abzustatten, habe ich mich vor mein großes Rundfenster gesetzt, das nur auf einen kleinen Spalt weit offen stand, und gespielt, das Instrument zwischen die Knie geklemmt, mit lockerem Handgelenk, den Kopf nicht zu weit vorgebeugt, auf meine Sitzhocker postiert, gestützt, in der richtigen Haltung zehn Minuten Würgen, Knarren, Zupfen, Röcheln, Atmen, Schlagen, Gleiten, Kratzen, Herabfallen, Lötstellen und Druck aus Pression von Lachenmann. An dieser Stelle des Raums, im hinteren Teil meiner Behausung, die in der Leere schwebt, von ihr eingehüllt ist, am leicht geöffneten Fenster, wie auf einem kahlen Platz. Dafür war ich da.

Man kann sich selbst ein Versprechen geben. Weil beim Spiel des Versprechens die einzige Regel, und im Allgemeinen auch die einzige Schwierigkeit, darin besteht, es zu halten.

Ist das Versprechen an sich schon Methode?

Ich bin in der Nacht aufgebrochen. Weil ich den Weg zum See allmählich kenne und gehofft habe, den Pass auf der anderen Seite vor Sonnenaufgang zu erreichen. Nachdem ich das Ende meines Halteseils vor dem Sanitärmodul losgelassen habe, bin ich ohne Halt die Wiese hinuntergelaufen, habe im Vorbeigehen meinen Garten gegrüßt, seine schöne gerade Mauer – die anderen müssen warten – und bin in den Kiefernwald eingetaucht. Das Murmeln des Sees hat mir einen guten Morgen gewünscht, es war später als ich dachte, das Mondlicht kräuselte die Wasseroberfläche. Es war eiskalt und tiefblau; gebieterisch kündigte es den anbrechenden Tag an. Ich ging an der Kiesgrube zu meiner Linken entlang, kam an meinem Anglerposten auf dem Baumstamm vorbei, der über den Sturzbach führt, und ging zwischen den herabgerollten Steinblöcken den See entlang.

Ich brauchte keine Taschenlampe, alles war vollkommen klar. Die Winkel, der bebende Spiegel des Wassers, die schwarze Silhouette der Berge, die ich erreichen wollte. Nach zwei Dritteln des Weges musste ich einen recht breiten Bach überqueren, dessen Ufer ich mir bereits als einen guten Platz zum Zelten gemerkt hatte. Als ich den Kiesstrand erreichte, der auf dieser Seite den See säumt, drehte ich mich um und warf einen Blick auf meinen Kiefernwald und die darüber gelegene Wiese.

Alles war still, der Morgentau würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Auf der Suche nach einem Trampelpfad näherte ich mich der Vegetation, die die Bergflanke vor mir überwucherte. Das Tageslicht drang nur mit Mühe durchs Unterholz, ich brauchte einige Zeit, um einen Weg zu finden, der mir begehbar erschien. Er führte steil bergauf, ich schlug ihn ein.

Nach etwa einer Stunde Fußmarsch zwischen dicken Wurzeln und krummen Zwergfelsen wehte plötzlich ein Lufthauch über meinen Kopf und bald folgte eine Geländestufe, ein großer flacher Felsabschnitt, der mit Gräsern bewachsen war, woraufhin die Steigung sich fortsetzte.

Einen Moment blieb ich dort stehen, um der Weite zu lauschen. Sie war von meinem Atem erfüllt. Ich betrachtete die Päckchen Kotkugeln auf dem Fels. Sie waren leicht glänzend. Und als mein Atem sich wieder beruhigt hatte, setzte ich den Aufstieg fort. Ich brauchte noch zwanzig Minuten, bevor ich eine weitere Plattform erreichte und von...

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