Die Geschichte des verlorenen Kindes - Band 4 der Neapolitanischen Saga (Reife und Alter) | Das perfekte Geschenk zum Muttertag

Die Geschichte des verlorenen Kindes - Band 4 der Neapolitanischen Saga (Reife und Alter) | Das perfekte Geschenk zum Muttertag

von: Elena Ferrante

Suhrkamp, 2018

ISBN: 9783518777978

Sprache: Deutsch

614 Seiten, Download: 5650 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Geschichte des verlorenen Kindes - Band 4 der Neapolitanischen Saga (Reife und Alter) | Das perfekte Geschenk zum Muttertag



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Von den Tagen in Montpellier weiß ich noch alles, nur nicht, wie die Stadt aussah, es ist, als wäre ich nie dort gewesen. Außerhalb des Hotels, außerhalb des gewaltigen Audimax, in dem die wissenschaftliche Tagung stattfand, an der Nino teilnahm, sehe ich heute nur noch einen windigen Herbst und einen hellblauen, auf weißen Wolken liegenden Himmel. Trotzdem ist mir der Name Montpellier aus vielen Gründen wie ein Signal der Flucht im Gedächtnis geblieben. Ich war schon einmal im Ausland gewesen, mit Franco in Paris, und meine eigene Kühnheit hatte mich elektrisiert. Doch damals war es mir so vorgekommen, als wären der Rione und Neapel für immer meine Welt und würden es auch immer bleiben, während alles andere wie ein kurzer Ausflug war, eine Ausnahmesituation, in der ich mich fühlen konnte, wie ich in Wahrheit nie sein würde. Dagegen war mir in Montpellier, obwohl es bei weitem nicht so aufregend wie Paris war, als wären alle meine Dämme gebrochen und als würde ich über die Ufer treten. Schon allein die Tatsache, dass ich mich in dieser Stadt befand, war in meinen Augen der Beweis dafür, dass der Rione, Neapel, Pisa, Florenz, Mailand, ja ganz Italien nur winzige Splitter der Welt waren und dass ich gut daran tat, mich nicht mehr mit diesen Splittern zu begnügen. In Montpellier wurde mir die Begrenztheit meines Blicks und auch der Sprache bewusst, in der ich mich ausdrückte und in der ich geschrieben hatte. In Montpellier wurde mir klar, wie einengend es sein konnte, mit zweiunddreißig Jahren Hausfrau und Mutter zu sein. In diesen Tagen voller Liebe fühlte ich mich erstmals frei von den Fesseln, die im Laufe der Jahre entstanden waren, von den Fesseln, die aus meiner Herkunft erwuchsen, von denen, die sich aus meinen Studienerfolgen ergaben, und von denen, die sich aus meinen Lebensentscheidungen ableiteten, vor allem aus meiner Heirat. In Montpellier konnte ich auch besser nachvollziehen, warum ich mich so gefreut hatte, als ich erfahren hatte, dass mein erstes Buch in andere Sprachen übersetzt worden war, und warum ich so niedergeschlagen gewesen war, nachdem ich außerhalb von Italien nur wenige Leser gefunden hatte. Es war wunderbar, Grenzen zu überschreiten, sich in anderen Kulturen treiben zu lassen, die Vorläufigkeit dessen zu entdecken, was ich für endgültig gehalten hatte. Wenn ich den Umstand, dass Lila nie aus Neapel herausgekommen war – sogar San Giovanni a Teduccio hatte ihr schon Angst gemacht –, früher für eine fragwürdige Entscheidung gehalten hatte, die sie allerdings für gewöhnlich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen verstand, so schien er mir jetzt nur ein Zeichen geistiger Enge zu sein. Ich reagierte, wie man auf jemanden, der einen beleidigt, reagiert, indem man dieselben Worte verwendet, die einen beleidigt haben. »Du hast dich in mir getäuscht? Nein, meine Liebe, ich bin es, ich, die sich in dir getäuscht hat: Du wirst dein Leben lang den vorbeifahrenden Lastwagen auf dem Stradone nachschauen.«

Die Tage verflogen. Die Organisatoren der Tagung hatten für Nino schon vor geraumer Zeit ein Einzelzimmer im Hotel gebucht, und da ich mich zu spät entschlossen hatte, ihn zu begleiten, war es nicht mehr möglich gewesen, stattdessen ein Doppelzimmer zu bekommen. Wir waren getrennt untergebracht, aber jeden Abend nahm ich eine Dusche, machte mich für die Nacht fertig und schlüpfte mit einigem Herzklopfen in sein Zimmer. Wir schliefen zusammen, eng aneinandergeschmiegt, als fürchteten wir, eine feindliche Macht könnte uns im Schlaf trennen. Morgens ließen wir uns das Frühstück ans Bett bringen, wir genossen diesen Luxus, den ich nur aus dem Kino kannte, lachten viel, waren glücklich. Tagsüber leistete ich ihm in dem großen Sitzungssaal Gesellschaft, doch obgleich die gelangweilten Redner Seite um Seite herunterleierten, war ich begeistert, denn ich war mit ihm zusammen, saß neben ihm, doch ohne ihn zu stören. Nino verfolgte die Beiträge aufmerksam, machte sich Notizen und flüsterte mir hin und wieder eine ironische Bemerkung oder Liebesworte ins Ohr. Zum Mittag und zum Abendessen gesellten wir uns zu den Gelehrten aus aller Welt, fremde Namen, fremde Sprachen. Natürlich hatten die angesehensten Redner einen separaten Tisch, wir saßen mit jüngeren Wissenschaftlern zusammen an einer langen Tafel. Ninos Gewandtheit beeindruckte mich, sowohl während der Arbeit als auch im Restaurant. Wie anders als der Student von damals er war und auch als der junge Mann, der mich vor fast zehn Jahren in der Mailänder Buchhandlung verteidigt hatte. Seinen polemischen Ton hatte er abgelegt, taktvoll überwand er die akademischen Barrieren und knüpfte mit ernster und zugleich gewinnender Miene Kontakte. Mal auf Englisch (ausgezeichnet), mal auf Französisch (gut) führte er geistreiche Gespräche und tat sich mit seiner alten Vorliebe für Statistiken hervor. Ich war stolz darauf, dass er so viel Beifall fand. Nach wenigen Stunden war er bei allen beliebt, man zog ihn hierhin und dorthin.

Nur einmal veränderte er sich plötzlich, das war am Abend vor seiner Rede auf der Tagung. Er wurde abweisend und unfreundlich, er schien mir sehr aufgeregt zu sein. Er begann seinen vorbereiteten Text schlechtzumachen, wiederholte mehrmals, dass ihm das Schreiben nicht so leichtfalle wie mir, ärgerte sich, weil er keine Zeit gehabt hatte, um gründlich zu arbeiten. Ich bekam ein schlechtes Gewissen – hatte unsere komplizierte Geschichte ihn abgelenkt? – und wollte es wiedergutmachen, indem ich ihn umarmte, küsste und drängte, mir seine Rede vorzulesen. Er tat es, und seine Miene eines ängstlichen Schuljungen rührte mich an. Sein Beitrag klang für mich nicht weniger langweilig als die der anderen, die ich auf der Tagung gehört hatte, doch ich lobte ihn sehr, und Nino beruhigte sich. Am folgenden Vormittag trat er mit gespieltem Eifer auf, man applaudierte ihm. Am Abend lud ihn einer der renommierten Tagungsteilnehmer, ein Amerikaner, an seinen Tisch ein. Ich blieb allein zurück, aber das störte mich nicht. Wenn Nino bei mir war, redete ich mit niemandem, während ich ohne ihn gezwungen war, mich mit meinem kümmerlichen Französisch zu behelfen. Ich kam mit einem Paar aus Paris ins Gespräch. Die beiden gefielen mir, denn ich hatte schnell bemerkt, dass sie in einer ganz ähnlichen Situation waren wie wir. Für sie hatte die Institution der Familie etwas Bedrückendes, beide hatten, wenn auch mit großem Bedauern, ihren Ehepartner und ihre Kinder verlassen, beide wirkten glücklich. Er, Augustin, war um die fünfzig, hatte ein rotes Gesicht, sehr lebhafte, hellblaue Augen und einen großen, ins Blonde spielenden Schnauzbart. Sie, Colombe, war kaum über dreißig wie ich, hatte sehr kurzes, schwarzes Haar, ein kleines Gesicht mit stark geschminkten Augen und Lippen und war von einer bezaubernden Eleganz. Ich unterhielt mich vor allem mit ihr, sie hatte einen siebenjährigen Sohn.

»Meine Älteste wird erst in ein paar Monaten sieben«, sagte ich, »aber sie kommt dieses Jahr schon in die zweite Klasse, sie ist sehr gut in der Schule.«

»Mein Sohn ist äußerst aufgeweckt und phantasievoll.«

»Wie hat er denn die Trennung verkraftet?«

»Gut.«

»Hat er gar nicht darunter gelitten?«

»Kinder sind nicht so festgefahren wie wir, sie sind anpassungsfähig.«

Sie kam immer wieder auf die Anpassungsfähigkeit zurück, die sie den Kindern zuschrieb, es schien sie zu beruhigen. Sie sagte weiter: »In unserem Bekanntenkreis kommt es ziemlich oft vor, dass Eltern sich trennen, die Kinder wissen, dass das passieren kann.« Aber als ich ihr erzählte, dass ich keine weiteren getrennt lebenden Frauen kannte außer meiner Freundin, schlug sie plötzlich einen anderen Ton an, sie beklagte sich über ihr Kind: »Er ist gut in der Schule, aber langsam«, platzte sie heraus. »Die Lehrer sagen, er ist unordentlich.« Ich war betroffen, weil sie nun ohne jede Zärtlichkeit sprach, beinahe mit Groll, als wollte ihr Sohn sie mit diesem Verhalten ärgern, und das beunruhigte mich. Ihr Freund bemerkte das offenbar und schaltete sich ein, er prahlte mit seinen zwei Söhnen, vierzehn und achtzehn Jahre alt, und erzählte lachend, dass sie sowohl bei den jungen als auch bei den reiferen Frauen großen Anklang fanden. Als Nino wieder zu mir kam, begannen die beiden Männer – und Augustin besonders – auf üble Weise über viele der Redner herzuziehen. Mit einer etwas aufgesetzten Heiterkeit tat Colombe es ihnen kurz darauf nach. Die Lästerei wirkte sofort verbindend, Augustin redete und trank den ganzen Abend viel, seine Freundin lachte, sobald es Nino gelang, etwas zu sagen. Sie luden uns ein, in ihrem Auto nach Paris mitzufahren.

Die Gespräche über die Kinder und diese Einladung, die wir weder annahmen noch ablehnten, brachten mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Bis dahin waren mir Dede und Elsa ständig in den Sinn gekommen, und auch Pietro, doch wie in einem Paralleluniversum angehalten, reglos am Küchentisch in Florenz, vor dem Fernseher oder in ihren Betten. Plötzlich traten meine und ihre Welt miteinander in Verbindung. Mir wurde bewusst, dass die Tage in Montpellier fast vorbei waren, dass Nino und ich unweigerlich zu unseren Familien zurückkehren würden, dass wir unsere jeweilige Ehekrise würden durchstehen müssen, ich in Florenz, er in Neapel. Die Körper meiner Mädchen verbanden sich wieder mit meinem, diese Berührung war heftig. Seit fünf Tagen hatte ich nichts von ihnen gehört, und als mir das bewusst wurde, überkam mich eine starke Übelkeit, und meine Sehnsucht wurde unerträglich. Ich hatte keine Angst vor der Zukunft im Allgemeinen, die nunmehr unweigerlich von Nino besetzt zu sein schien, sondern vor den nächsten Stunden,...

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