Autismus-Spektrum-Störungen
von: Christine M. Freitag, Janina Kitzerow, Juliane Medda, Sophie Soll, Hannah Cholemkery
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2017
ISBN: 9783844427042
Sprache: Deutsch
160 Seiten, Download: 2003 KB
Format: EPUB
|43|2 Leitlinien
Im folgenden Kapitel sind die Leitlinien des diagnostischen Prozesses (L1 bis L9) und der Therapie (L10 bis L17) bei Autismus-Spektrum-Störungen aufgeführt, orientiert am aktuellen Forschungsstand und der klinischen Erfahrung.
2.1 Leitlinien zu (Früh-)Symptomen, Screening und Diagnostik
2.1.1 (Früh-)Symptome und Screening
Leitlinie 1: (Früh)Symptome und Screening
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Entwicklungsauffälligkeiten im Alter < 12 Monate sind in der Regel unspezifisch. Sollten diese Auffälligkeiten länger andauern und die Eltern sich über längere Zeit Sorgen machen, ist eine wiederholte Vorstellung im Alter bis ca. 18 Monate anzuraten.
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Wenn mehrere klare Hinweissymptome vorliegen (vgl. Tabelle 1), dann kann das Kind ab dem Alter von ca. 18 bis 20 Monaten direkt zur Diagnostik an eine entsprechende Fachstelle verwiesen werden. Bestehen unklare Symptome, sollte nochmals genau nach Dauer und Persistenz gefragt werden, ggf. nach ein paar Monaten eine neue Beurteilung vorgenommen und/oder ggf. ein Screening-Instrument eingesetzt werden, wobei für das Säuglings- und Kleinkindalter aktuell kein valides Screening-Instrument existiert.
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Screening-Untersuchungen sollten nur von Fachkräften des Gesundheitswesens durchgeführt werden, die über Kenntnisse und Fertigkeiten im Bereich psychischer und Entwicklungsstörungen sowie der verwendeten Screening-Instrumente und deren Auswertung und Interpretation verfügen.
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Passende Screening-Instrumente müssen immer entsprechend der Fragestellung und der Charakteristik (Alter, kognitives Niveau) des Patienten gewählt werden und die Wahl des Cut-Offs sollte entsprechend der jeweiligen Fragestellung, insbesondere im Hinblick zur Abgrenzung anderer klinischer Störungsbilder erfolgen.
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Bei einem deutlichen klinischen Verdacht sowie Stabilität der Symptomatik über mehrere Monate sollte auch bei einem negativen Screening-Ergebnis ein Diagnostik-Verfahren eingeleitet werden. Ein positives Screening-Ergebnis alleine ohne klinischen Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung sollte hingegen nicht zu einem Diagnostikprozess führen.
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Bei Erhärtung des Verdachts sollte die Person an eine auf Autismus-Spektrum-Störung spezialisierte Stelle überwiesen werden, in der eine vollständige Diagnostik und Differenzialdiagnostik gewährleistet werden kann.
Typische Symptome im Vorschul- und Schulalter entsprechen den Klassifikationen und Verhaltensbeispielen der ICD-10 (vgl. Tabelle 1). Einige spezifische Symptome haben sich für bestimmte Altersbereiche als prognostisch ausreichend valide erwiesen (vgl. Tabelle 1). Bei Vorliegen dieser Symptome sollte entweder direkt eine Diagnostik eingeleitet werden |44|oder ein passendes Screening-Instrument gewählt werden. Bei positivem Screening sollte umgehend eine Diagnostik eingeleitet werden, bei negativem Screening, aber starkem klinischen Verdacht sollte bei längerer Persistenz der Symptome > 3 bis 6 Monate ebenfalls eine ausführliche diagnostische Erhebung durchgeführt werden. Ansonsten sollte eine Wiedervorstellung nach drei Monaten erfolgen, um die Stabilität der Symptome zu beurteilen, ein erneutes Screening durchzuführen und dann ggf. eine ausführliche Diagnostik bei einer entsprechend spezialisierten Stelle einzuleiten.
Tabelle 1: Wegweisende (Früh-)Symptome
Alter | Symptome |
< 12 Monate | Für das Säuglingsalter liegen keine empirisch abgesicherten Merkmale zur Vorhersage einer späteren Autismus-Spektrum-Störung vor. |
ab 12 Monaten |
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ab 18 Monaten |
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ab 24 Monaten |
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Bei folgenden Risikofaktoren sollte ebenfalls ein Screening-Prozess erfolgen, wenn zusätzlich Symptome beobachtet werden, die auf eine Autismus-Spektrum-Störung hinweisen (siehe Tabelle 1) oder eine Sprachentwicklungsverzögerung vorhanden ist: Vorliegen eines genetischen Befunds, der mit einer erhöhten Rate von Autismus-Spektrum-Störung einhergeht, Medikamenten-Exposition oder Virusinfektionen in der Schwangerschaft, Geburtsgewicht < 1500g und/oder Geburt < 32. Woche, neonatale Krampfanfälle oder ein Geschwisterkind mit einer Autismus-Spektrum-Störung.
Im deutschsprachigen Raum liegt für das Screening bei Kindern ab 4 Jahren der Fragebogen zu Sozialen Kommunikation (FSK; |45|Bölte & Poustka, 2006) in Aktuell- und Lebenszeitversion vor. Ab dem Vorschulalter kann die Skala zur Erfassung der sozialen Reaktivität (SRS; Bölte & Poustka, 2008)...