Schöne Seelen und Komplizen - Roman

Schöne Seelen und Komplizen - Roman

von: Julia Schoch

Piper Verlag, 2018

ISBN: 9783492977722

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 962 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Schöne Seelen und Komplizen - Roman



LYDIA GEBAUER

Im Ernst, wer will schon ein Pferd spielen. Ein Pferd! Ich war sofort dagegen. Ein Stück, in dem Tiere reden, Schweine und Hunde und Pferde. Bei jedem anderen hätte ich gewettet, dass es um Lacher geht, aber die Idee stammt von Rebekka. Sie hat das Stück ausgewählt. Eine Parabel auf die Zustände, wie sie uns mit wichtiger Miene mitteilte. Drunter geht’s bei ihr nicht. Rebekka ist der Ansicht, sie sei die einzig reife Person weit und breit. Tolle Sache, sagte ich, als abgestimmt wurde. Falk muhte aus der letzten Reihe, hob dann aber natürlich wie wir alle den Arm. Was hätte Protest geholfen. Rebekka hatte sogar schon einen Regisseur aufgetrieben, und zwar einen richtigen, wie sie mindestens zehn Mal betonte. Es ist ihr enorm wichtig, dass alle wissen, dass sie die richtigen Leute kennt. Ehrlich gesagt, fragte ich mich, warum ein richtiger Regisseur mit einem Haufen Schüler wie uns ein Stück einstudieren sollte. Ich frage es mich immer noch. Auch wenn ich inzwischen andere Gründe habe, Arno wiederzusehen.

In der Straßenbahn auf dem Weg nach Babelsberg, wo er wohnt, schärfte uns Rebekka alle möglichen Anstandsregeln ein. Wir waren zu siebt, eine Gruppe Auserwählter, von ihr zusammengestellt, damit nicht gleich die gesamte Klasse bei ihm einfiel. Wir, die Barbaren. Vermutlich hatte sie Angst, sie müsse sich dann immerfort entschuldigen. Vor allem sollten wir ihm keine kindischen Fragen stellen. Ihre Ansprache sorgte dafür, dass ich Lust bekam, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Einfach raus. Aber ich bin nicht Ruppert. Ruppert traut sich, mitten im Unterricht aufzustehen und den Raum zu verlassen. Jedenfalls hat er das letzte Woche getan. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte zur Rehwald: Es wird immer immer schlimmer. Einfach so. Ein Wahnsinniger.

Aber selbst wenn ich mich getraut hätte. Auszusteigen wäre Unsinn gewesen, kein Mensch hätte es verstanden, schließlich habe ich den Vorschlag gemacht, zum Abschluss des Schuljahres ein Stück aufzuführen. Allerdings verfolgte ich gänzlich andere Absichten als Rebekka. Eigentlich ging es mir nur um einen einzigen Satz. Er steht in dem Stück, das ich ins Auge gefasst hatte. Es heißt Die Fliegen, ich hab’s aus dem Bücherregal meiner Mutter. Zugegeben, Fliegen sind auch Tiere, aber sie sprechen nicht in dem Stück. Es geht darum: Eine Frau überredet einen Fremden, ihre Eltern umzubringen. Was sie nicht weiß, ist, dass der fremde Mann in Wahrheit ihr Bruder ist, und er weiß es auch nicht. Zuerst sträubt er sich, den Mord zu begehen, und sie beginnt ihn regelrecht zu hassen, was sie natürlich nicht tun würde, wenn sie wüsste, wer er ist, und so weiter. Dieses Stück hätte ich liebend gern gespielt. Leider bin ich nicht rechtzeitig genug damit rausgerückt. Ich dachte, erst mal das eine, dann das andere. Ich hatte das Gefühl, die anderen würden mich durchschauen, wenn ich ihnen sofort mit diesem Stück komme. Dass sie dann wüssten, dass ich nur wegen Tomas auf die Bühne wollte. Ich hatte mir vorgestellt, ich würde die Schwester spielen. Dann hätte ich in Tomas’ Richtung schreien können: Geh, schöne Seele. Ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen: einen Komplizen wollte ich. Im Buch steht nichts von schreien, aber ich stelle es mir so vor. Eigentlich kann ich nicht schreien. Es klingt schauerlich, ungefähr so, wie wenn Taubstumme brüllen. Das Verrückte ist, dass ich glaube, auf der Bühne könnte ich es. Manches ist leichter, wenn man es vor zweihundert Leuten tut.

Wie dem auch sei, es ist zu spät, Rebekka hat gewonnen. Nachdem wir aus der Straßenbahn ausgestiegen waren, musste unser Trupp noch ein ganzes Stück durch die Kälte bis zu dem Haus, in dem ihr Regisseur wohnte. Es sah aus, als würde es jeden Moment zusammenstürzen. Eigentlich sieht jedes Haus in diesem Viertel so aus, kein Wunder, dass es mich so gut wie nie dorthin verschlägt. Natürlich konnte Vivien sich nicht zurückhalten und fasste jede einzelne Katze an, die uns in dem räudigen Treppenhaus über den Weg lief. Damit wir nicht vergaßen, wer hier die Chefin war, ging Rebekka vor. Beim Reingehen umarmte sie Arno. Das Erste, was mir auffiel, waren seine Augen. Sie waren von Schatten umgeben, als würde er schlecht schlafen, und zwar seit Jahren. Wie ich vermutet hatte, war er ziemlich alt, mindestens dreißig. Obwohl es im Wohnzimmer ein Sofa und Stühle gab, ließen wir uns auf dem Fußboden nieder, wo schon eine Kanne mit Tee und japanische Schälchen standen. Überall waren Papierstapel, Bücher und Schallplatten verstreut, sogar im Schaukelstuhl lagen welche, trotzdem fand ich es gemütlich. An der Wand zwei Masken aus Holz. Bei Tomas hängt ein Plakat mit einem zähnefletschenden Hund, darunter steht Make my day. Während der Tee in die Schälchen plätscherte, versuchte jeder von uns, locker zu tun, erbärmlich. Nur Rebekka schaute ernst, die übliche Falte zwischen den Augenbrauen, als würde sie den bösen Blick üben.

Wie sich herausstellte, war Arno doch kein richtiger Regisseur, sondern Heizer in einer Schule in Werder. Das wunderte mich. Ich habe mir Heizer immer klobiger vorgestellt. Arno erklärte, das Stück sei in Wahrheit ein Roman. Die Theaterfassung hatte er selbst auf der Schreibmaschine getippt. Jeder von uns bekam einen Durchschlag. Leider konnte man so gut wie nichts entziffern von dem, was da stand, er hatte mindestens zwanzig Lagen Blaupapier dazwischen gelegt. Während er uns den Aufbau und alles erklärte, fuhr er sich ununterbrochen durch die Haare. Er sagte, das Stück würde wie ein Schraubenzieher funktionieren, der sich tiefer und tiefer hineinbohrt, und zwar in die Wahrheit. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren. Keine Ahnung wieso, aber ich starrte auf seine Schlüsselbeine. Sie waren gut zu erkennen, weil das Hemd, das er trug, ziemlich weit geöffnet war. Die ganze Zeit über dachte ich, dass es schöne Schlüsselbeine sind. Plötzlich wollte Arno wissen, was wir von dem Stück hielten. Solche Fragen finde ich absurd. Was spielt es für eine Rolle, was man über eine Sache denkt, die längst beschlossen ist? Das Schreckliche war, dass er es wirklich wissen wollte, von jedem. Ich sagte, dass ich es mir noch nicht genau vorstellen könne, mit den Tieren und so weiter. Arno sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich wäre liebend gern gestorben. Wahrscheinlich konnte er es nicht fassen, dass ich bei diesem Projekt mit von der Partie war. Zum Glück übernahm Rebekka. Sie sagte, sie fände nicht nur das Stück unglaublich mutig, sondern auch ihn, Arno.

Später, nach der Verabschiedung, wir waren schon im Treppenhaus, rief er mich noch einmal zurück. Ich stieg wieder hinauf, und er schwenkte den Roman, die Vorlage für das Stück. Vielleicht käme ich damit besser zurecht, sagte er. Aber anstatt es mir zu geben, ging er mit dem Buch in die Wohnung zurück. Meine Hand wie festgeklebt daran, folgte ich ihm bis in die Küche, in der zu meiner Verwunderung eine Duschkabine stand, ein ziemliches Monstrum, das den halben Raum einnahm. Mindestens eine Stunde standen wir so da, jeder ein Ende des Büchleins in der Hand. Ich fing an zu lachen, vor Verlegenheit, versteht sich. In den meisten Fällen hilft es, in diesem hier leider nicht. Ganz langsam, fast in Zeitlupe, ließ Arno das Buch schließlich aus seinen Händen gleiten, und ich steckte es in meine Tasche. Das Ganze war ungeheuer peinlich. – Dir gefällt das Stück also nicht?, sagte er, nachdem wir noch einmal eine Stunde schweigend voreinander gestanden hatten. – Doch, doch, sagte ich. Arno: Warum nicht? Ich lachte wieder. – Ich finde es gut, wirklich! (Leider bin ich eine schlechte Lügnerin.) Arno gab einen wütenden Ton von sich, als wäre meine Antwort eine Zumutung. Ich dachte an die vielen Stunden, die er wegen uns über seiner Schreibmaschine zugebracht haben musste, fast tat er mir leid. – Na gut, ich finde es schrecklich, gab ich zu. Arno lehnte sich lächelnd an den Küchentisch, mit einem Gesicht, das auszudrücken schien: Schon besser. – Ich finde sprechende Tiere albern, ich meine, sprechende Tiere auf der Bühne. Das Publikum wird die ganze Zeit nur darauf achten, dass es Tiere sind. Ich versuchte, beim Reden die Schalter an der Duschkabine in den Blick zu bekommen. Arno schüttelte den Kopf. – Keine Angst, niemand wird mit einem Pferdekopf herumlaufen, im Gegenteil. – Trotzdem, sagte ich, die Tatsache, dass es Tiere sind, lenkt ganz einfach ab. – Wovon? (Versuchte er tatsächlich, eine Unterhaltung mit mir zu führen?) – Keine Ahnung, vom Text, sagte ich unwillig, jeder weiß doch, die Tiere sind bloß ein Vorwand, dass die eigentliche Geschichte darunter versteckt ist. Sie werden glauben, wir halten sie für beschränkt. Arno legte kurz den Kopf in den Nacken, als würde er über das, was ich gesagt hatte, nachdenken müssen. – Manchmal lassen sich die Dinge auf Umwegen besser ausdrücken, sagte er und schaute mich von unten her an, als wollte er mich trösten, genau das macht Orwell in seinem Buch. Er konnte es nicht direkt sagen, er musste es verschlüsseln, anders hätte er den Leuten die Wahrheit nicht zeigen können. – Das verstehe ich ja, sagte ich (ich verstand es wirklich), aber muss man für die Wahrheit unbedingt ins Theater? Arno nickte: Wenn es der einzige Ort ist, wo man zu den Menschen sprechen kann. (Dieses Gespräch brachte mich um, ich war wirklich am Ende.) – Versteh ich nicht, gab ich zurück, zu den Leuten sprechen lässt sich doch überall. Arno lachte schallend los. – Ist das dein Ernst? Er griff sich an den Kopf, anscheinend konnte er es nicht fassen, ganz schön naiv, murmelte er. Vermutlich...

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