Wat is, Rami? - Geschichten von Helden, Kanaken und mir

Wat is, Rami? - Geschichten von Helden, Kanaken und mir

von: Hamze Rami, Rami Hamze

dtv, 2018

ISBN: 9783423433068

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 831 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wat is, Rami? - Geschichten von Helden, Kanaken und mir



FUTURO


Auf meiner Visitenkarte steht Rami Hamze – Filmemacher. Das steht da drauf, weil ich beruflich Filme mache. Die Entscheidung wurde Anfang des Jahrtausends durch einen relativ spontanen Impuls ausgelöst. Ich schaute mal wieder einen langweiligen deutschen Film im Fernsehen, weil ich auf der Suche nach einem guten war. Ich wollte nicht wahrhaben, dass die meisten deutschen Filme dröge und bräsig daherkamen, für gehirnamputierte Zombiezuschauer produziert wurden und den Charme eines hart gewordenen Graubrots ohne Butter versprühten. Und als ich diesen besonders debilen, dramaturgisch an den Haaren herbeigezogenen und unverschämt langweiligen Spielfilm durchlitt, beschloss ich, dass ich das besser könnte, mehr zum Trotz als aus Überzeugung (denn ich hatte ja weder Erfahrung im Filmemachen noch prophetische Fähigkeiten). An den Film selber erinnere ich mich nicht, weder an Teile der Geschichte noch an irgendwelche Schauspieler, geschweige denn an den Titel. Das ist sehr schade, denn so kann ich mich bei den Machern nicht dafür bedanken, dass sie meinen Werdegang entscheidend geprägt haben.

Meine Berufswahl hat also keine romantische Ursprungsgeschichte aufzuweisen, ich war kein kleiner Junge, der eine Videokamera zum Geburtstag geschenkt bekam. Auch habe ich als Kind nie gerne Geschichten erzählt, jedenfalls keine guten. In der fünften Klasse musste ich für eine Klassenarbeit eine Erlebnisgeschichte schreiben. Mit Anfang, Hauptteil und Schluss. Die Geschichte fing damit an, dass wir von einem Besuch bei meinem Onkel Oliver zurück nach Hause kommen. Ich bin schockiert, wenn ich das heute lese. Wieso erfand ich einen deutschen Onkel? War es mein Wunsch, zu einer deutschen Mittelstandsfamilie zu gehören? Welche Kultur- und Identitätskämpfe tobten in dem zehnjährigen Rami? Ich wünschte, ich hätte eine Zeitmaschine.

Es ist wieder Zeit, einen Film zu machen, da mir niemand Geld auf mein Konto überweist. Heute steht ein Termin beim Fernsehen an. Dem Spielfilmredakteur Achim Bellenberg will ich eine Idee für einen Spielfilm vorstellen. Bisher habe ich mit Dokumentarfilmredakteuren gearbeitet, aber deren Budgets sind mir zu klein geworden. Ich will so hoch hinaus, dass die Luft dünn wird. Es wäre ein Zeichen von Erfolg. Und für große Geschichten brauche ich das große Geld.

Dem Achim – ich kenn ihn nicht persönlich, aber so wird in unserer Branche voneinander gesprochen – wird nachgesagt, er sei ein Künstlerversteher. Und ich als Künstler will doch verstanden werden. Der Achim sei – so das Hörensagen – kein Redakteur, der absurde Änderungsvorschläge macht, keiner, der auf sein Recht beharrt, bei allen relevanten Entscheidungen das letzte Wort zu haben, nur weil er die Kohle reinbuttert. Für Machtkämpfe mit den Filmemachern sei der Achim auch zu lange dabei, das habe er gar nicht nötig, er sei dafür viel zu souverän. Nach jeder noch so hitzigen Diskussion sage Achim den Filmemachern immer: »Jetzt kennst du meine Meinung, aber am Ende entscheidest natürlich du. Ist ja schließlich dein Film. Nur weil mein Sender dafür bezahlt und mich mit der Betreuung beauftragt hat, heißt das ja nicht, dass es mein Film ist. Ich bin dein Partner, ich bin auf deiner Seite. Also, Rami, mach, was du willst!« Genau deswegen habe ich das Gefühl: Achim ist mein Mann!

Ich werde mich gut mit Achim verstehen, und ihm wird meine Geschichte gefallen, weil sie einfach so megamäßig krass und tagesaktuell und doch so subtil und zeitlos ist, dass man sie unbedingt in einem Spielfilm erzählen muss. Die Geschichte handelt von Futuro, einem Superhelden aus der Zukunft. Ein Auszug aus der Projektbeschreibung:

Deutschland, 2050: Ein Bürgerkrieg erschüttert das Land. In den Straßen herrscht apokalyptisches Chaos. Deutsche jagen Kanaken, und Kanaken jagen Deutsche. Marodierende Banden brandschatzen in der Öffentlichkeit, Extremisten besetzen den Staatsapparat. Die Ursache: ein Attentat auf den frisch gewählten ersten Bundeskanzler mit Kanakenhintergund.

Weil er keinen anderen Ausweg sieht, reist Futuro in das Jahr 2017, um die Geburt des Neonazisohns und zukünftigen Bundeskanzlermörders Adolfino Petrykowski zu verhindern. Deswegen muss er die Liebe zwischen Marko Petrykowski und Jacqueline Eisenhart zerstören. Futuro, selbst mit Kanakenblut in den Adern, schmeißt sich also in Schale und versucht das Herz der Neonazibraut zu gewinnen. Er überzeugt Jacqueline, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen und Kung-Fu-Großmeisterin zu werden, wodurch sie an Selbstbewusstsein und Kraft gewinnt und Marko, der sie sowieso nur schlägt und erniedrigt, endlich verlassen kann. Doch Jacqueline lebt gefährlich, denn Marko sinnt auf Rache, während sie und Futuro sich näherkommen. Eine verbotene Liebe in Zeiten des Hasses mit dem Wunsch nach 100 Jahren Zweisamkeit bricht sich Bahn. Wird ihre Liebe ein Happy End finden, werden sie wie Romeo und Julia tragisch scheitern, oder wird das Neonazipärchen wieder zusammenkommen und durch die Geburt von Adolfino Petrykowski die Weltgeschichte für immer verdunkeln?

Was absurd klingen mag, kann plausibel erzählt werden. Vielleicht auch etwas humorig. Da bin ich sicher. Ich weiß aber auch, dass das Fernsehen diesen Film niemals in Auftrag geben wird. Es hat Angst oder mag mich nicht. Das Fernsehen ist ein alter Mann, gefangen zwischen Selbsthass und Selbstzufriedenheit. Ich mag zwar alte Männer, aber selbst möchte ich noch keiner sein. Einmal hatte ich einen Traum, in dem ich merkte, dass ich ein alter Mann bin. Ich habe mich so sehr erschrocken, dass ich direkt wieder aufgewacht bin.

Das Treffen heute dient auch eher dazu, mich in Erinnerung zu bringen: Ich habe zwar schon jahrelang keinen Film mehr gedreht, aber ich bin wieder da. War gar nicht weg. Kreativ und verrückt wie eh und je, motiviert wie noch nie. Achim Bellenberg muss von meiner Idee so sehr fasziniert sein, dass er nicht anders kann, als mir mitzuteilen:

»Rami, wir können diesen Stoff leider nicht machen. Geht nicht, ist zu krass! Da krieg ich dann Ärger von meiner Abteilungsleiterin wegen fehlendem Realismus und zu großem Trash-Faktor. Dafür hast du bestimmt Verständnis.«

»Selbstverständlich habe ich das.«

»Aber ich habe hier einen anderen Stoff von einer vielversprechenden jungen Autorin liegen, erst Anfang 50. Der könnte genau das Richtige für dich sein. Es geht um einen langweiligen deutschen Mann mit schütterem Haar in der Midlife Crisis seines langweiligen Lebens. Er trifft eine wohlbeleibte, langweilige deutsche Frau, sie kabbeln sich auf langweilige Art und finden während eines langweiligen Prozesses endlich zueinander, um eine langweilige Liebesbeziehung miteinander einzugehen und ihren langweiligen Lebensabend gemeinsam zu gestalten. Langweilige Voraussetzungen, aber ein schöpferisches Talent wie du kann da bestimmt künstlerisch was rausholen. Willst du das machen?«

Ja, verdammt noch mal, ich werde es machen wollen. Auch wenn mein Ruf als eigenwilliger Filmemacher darunter leiden wird. Die Leute werden sagen, dass ich nicht mehr Street, sondern voll der Sell Out bin, der sich und seine Seele verkauft hat. Aber auf meinem Konto wird endlich wieder so viel Geld landen, dass ich meiner Sparkassenkundenberaterin Renate Wechsler bei unserem alljährlichen Zusammenkommen, in dem sie mich immer fragt, ob ich zufrieden sei und ob sie mir helfen könne, woraufhin ich üblicherweise antworte, dass ich nicht zufrieden sei und sie mir nicht helfen könne, sagen werde: »Sehen Sie, Frau Wechsler, es geht aufwärts! Danke, dass Sie mich jahrelang im Dispo haben rumkrebsen lassen, ohne mir einen günstigeren Privatkredit anzubieten. Das war genau die Motivation, die ich gebraucht habe. Danke vielmals!«

Ich eile also an einem Mittwochnachmittag zur U-Bahn-Haltestelle, von wo aus alle drei bis vier Minuten eine Bahn fährt. Sie soll mich zum Kölner Hauptbahnhof bringen, um in Bahnhofsnähe ein Kölsch mit Achim Bellenberg zu trinken.

Alle Menschen, die aus einer Stadt kommen, in der es eine U-Bahn gibt, wundern sich immer, dass einzelne Linien in Köln mal unterirdisch, dann wieder oberirdisch fahren. Das scheint ungewöhnlich zu sein, fahren sie doch andernorts entweder nur oberirdisch oder nur unterirdisch. In Köln dauert es auch nicht die angezeigten zwei Minuten, bis eine Bahn tatsächlich kommt. Es sind eine oder drei, aber niemals zwei.

Und in Köln herrscht Chaos, wenn ich so wie heute auf der Anzeigetafel lese, dass die Mitarbeiter der Kölner Verkehrsbetriebe streiken und somit keine U-Bahnen fahren. Das habe ich nicht gewusst, weil ich mir im Zeitungskasten die Titelseite des lokalen Hetzblattes Express‹ nicht angeschaut habe. Ich bin grundsätzlich ein Streik-Freund, aber warum heute? Warum nutzen Arbeitnehmer ihr gesetzlich verankertes Streikrecht in einem Arbeitskampf, wenn es doch meine persönliche Bewegungsfreiheit einschränkt? Warum können sie nicht einfach mal vor ihrem Millionenumsätze generierenden Unternehmen buckeln? Warum können sie sich nicht einfach freuen, dass es ihnen doch viel besser als anderen Menschen ohne Arbeit geht und dass nette Arbeitgeber existieren, die ihnen überhaupt Arbeiten geben?

Mein selbst verdientes Glück ist, dass ich zwanzig Minuten für eine Bahnfahrt eingeplant habe, die sieben Minuten dauert. Ich habe noch Zeit, rechtzeitig zu Achim Bellenberg zu kommen. Ich will ihn nicht enttäuschen (und ich will einen Auftrag). Bestimmt freut er sich so sehr, mich zu sehen, dass er unseren Termin als seinen Tageshöhepunkt eingeplant...

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