Der Tod hat viele Gesichter - Geriatrische und ethnographische Betrachtungen des Sterbens in fremden Kulturen

Der Tod hat viele Gesichter - Geriatrische und ethnographische Betrachtungen des Sterbens in fremden Kulturen

von: Wenke Frühsorge, Lars Frühsorge

Books on Demand, 2018

ISBN: 9783746023564

Sprache: Deutsch

104 Seiten, Download: 23828 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Tod hat viele Gesichter - Geriatrische und ethnographische Betrachtungen des Sterbens in fremden Kulturen



Lars Frühsorge
Die vielen Gesichter des Todes weltweit


Einleitung


Nachdem im ersten Beitrag dieses Bandes der Umgang mit dem Tod in den Weltreligionen eher idealtypisch behandelt wurde, liegt in diesem Artikel ein stärkerer Fokus auf konkreten Fallbeispielen und kleinen Glaubensgemeinschaften. Auf diese Weise soll verdeutlicht werden, welch große Vielfalt an Umgangsformen mit dem Tod weltweit existiert und wie umfassend ihre Bedeutung für die Geschichte und Gegenwart der unterschiedlichsten Kulturen ist. Eine Auseinandersetzung mit dieser Vielfalt mag nicht nur dazu beitragen, unsere oft pauschalisierenden und fehlerhaften Vorstellungen von fremden Kulturen zu korrigieren, sondern könnte auch Trauernde in unserem eigenen Land ermutigen, eigene Formen der Verarbeitung ihres erlittenen Verlustes zu entwickeln.

Eine in der europäischen Psychologie lange vorherrschende Lehrmeinung basierte auf der Vorstellung von fest definierten „Trauerphasen“, die Hinterbliebene durchlaufen würden, und an deren Ende die endgültige Trennung vom Verstorbenen stehen sollte. Dieses Modell ist in jüngster Zeit jedoch als zu passiv und statisch kritisiert worden und anstelle der Trauerphasen steht nun eine Reihe von Traueraufgaben, die die Hinterbliebenen aktiv zu bewältigen haben und an deren Ende nicht Abschied oder Verdrängung steht, sondern vielmehr das Ziel, einen Raum im Leben der Angehörigen zu schaffen, in dem der Verstorbene dauerhaft erinnert werden kann (Langenmayr 2001). Eine derart dauerhafte Integration der Verstorbenen in der Welt der Lebenden existiert in vielen außereuropäischen Kulturen, beispielsweise in Form der Ahnenverehrung. Diese Ahnenkulte sind in der ethnologischen Forschung immer wieder auf ihren religiösen Gehalt sowie auf ihre politische und ökonomische Bedeutung hin analysiert worden. Weitaus weniger Beachtung hat hingegen die Tatsache gefunden, dass sie auch als eine kulturspezifische Form der Trauerarbeit eine wichtige Funktion erfüllen können.

Meine eigenen Erfahrungen u.a. aus Vorträgen und Seminaren an Universitäten, Museen und Volkshochschulen zeigen, dass in Deutschland geborene Menschen aller Altersgruppen extrem unterschiedliche Vorstellungen vom Tod haben und dass nur ein geringer Anteil von ihnen mit den exakten Details der Anschauungen unserer Kirchen vertraut ist. So erschienen gerade vielen jüngeren Studierenden die christlichen Konzepte und Praktiken rund um den Tod sogar noch „exotischer“ als die Beispiele aus fremden Kulturen, die wir im Rahmen der Veranstaltungen diskutierten. Angesichts der sich hier abzeichnenden Unkenntnis und Unzufriedenheit mit unseren eigenen Traditionen ist es auch nicht verwunderlich, dass heutige Beisetzungen mehr und mehr Formen annehmen, die von den überlieferten kirchlichen Vorgaben abweichen. Bestes Beispiel hierfür ist die große Popularität von Bestattungswäldern, die in den letzten Jahren an vielen Orten in Deutschland eingerichtet wurden. Ebenso gut könnte aber auch eine zunehmende Technisierung der Friedhöfe, etwa durch Grabsteine mit QR-Codes benannt werden, oder auch die Rückbesinnung auf alte Glaubensformen, die sich im dänischen Odense oder im isländischen Reykjavik sogar in der Errichtung spezieller neuheidnischer Grabfelder manifestiert haben.12

Wenn man allerdings bedenkt, dass Trauernden in unserem Land ein im internationalen Vergleich eher geringer rechtlicher Freiraum für individuelle Bestattungsformen gelassen wird, scheint es umso interessanter, die Vielfalt der Trauerkultur in anderen Ländern näher zu betrachten. Auch drängt sich gerade angesichts unserer eigenen zunehmenden Lösung von religiösen Dogmen die Frage auf, ob bisherige Darstellungen, die den Umgang mit dem Tod in anderen Religionen eher pauschalisierend beschreiben, überhaupt noch realistisch sind.

Zweifellos spielt etwa in den Ländern des Nahen Ostens oder Südostasiens die Religion im Alltagsleben heute noch eine viel größere Rolle als in Deutschland, und dementsprechend kommt auch Traditionen rund um den Tod eine größere Bedeutung zu. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Religionen wie der Islam, der Buddhismus und Hinduismus über keine zentrale Autorität wie den Papst verfügen und daher in diverse Schulen und Glaubensrichtungen zerfallen, die auch in Fragen des Todes z.T. unterschiedliche Auffassungen vertreten. So kann auch der Todesfall der Roma-Patientin, wie er im vorherigen Beitrag geschildert wurde, keinesfalls als typisch für islamisches Trauerverhalten an sich gelten, und selbst innerhalb der Roma-Bevölkerung gibt es je nach Glaubensrichtung, Land, Region oder sogar Familie ganz eigene Traditionen und Umgangsformen mit dem Tod.

Im Falle des Buddhismus und Hinduismus sowie im Zusammenhang mit zahllosen kleineren Glaubensgemeinschaften gilt es zudem zu bedenken, dass diese Religionen im Gegensatz zum Christentum, Islam oder Judentum keinen Alleingültigkeitsanspruch erheben und Gläubige in der Praxis häufig Anhänger von verschiedenen Gottheiten und Traditionen sind. Weiterhin muss zwischen dem eher theoretischen intellektuellen Diskurs der Religionsgelehrten einerseits und der gelebten Praxis der Volksreligion andererseits unterschieden werden. Im Christentum wie im Islam umfasst diese volksreligiöse Praxis oft Elemente, die als Reste älterer Glaubensformen oder als „Aberglaube“ gelten und daher von den jeweiligen Gelehrten eher toleriert als gutgeheißen werden. Wie fundamental diese Unterscheidung zwischen Volksreligion und Schriftlehre im Falle des Todes sein kann, verdeutlicht schon das Beispiel des Christentums. Entgegen allgemeiner Annahmen steht die Vorstellung einer unmittelbar nach dem Tod erfolgenden Reise der Seele in den Himmel oder die Hölle nämlich im Widerspruch zur offiziellen Lehre. Vielmehr verbleiben die Verstorbenen nach christlicher Auffassung bis zum Tag der Apokalypse in einem unspezifischen Raum. Erst an diesem Tag erfolgen die fleischliche Auferstehung der Toten und ein Richtspruch über jeden einzelnen. Die häufig zum Trost trauernder Angehöriger gebrauchte Aussage, der Verschiedene sei bei Gott oder würde vom Himmel auf seine Hinterbliebenen herabblicken, steht also im Widerspruch zur offiziellen Lehre. Auch die weit verbreitete Tradition, dass Angehörige das Grab besuchen, dort Blumen hinterlassen und mit dem Toten sprechen, wäre nach strenggläubiger Auffassung eine fragwürdige, der heidnischen Ahnenverehrung verwandte Praxis, da die sterblichen Überreste doch jede Bedeutung verlieren, wie der bei fast jeder Beerdigung zitierte Satz „Erde zu Erde, Staub zu Staub“ zum Ausdruck bringt (Rein 2009). Da aus psychologischer Sicht aber sowohl der Besuch am Grab als auch die Vorstellung einer sofortigen Aufnahme in den Himmel von großer Bedeutung für die Verarbeitung eines Todesfalls sein können, ist die Bedeutung der volksreligiösen Praxis im Gegensatz zur offiziellen Lehre also kaum zu bestreiten.

Wenn im Folgenden die weltweite Vielfalt an kulturellen Deutungen und Bedeutungen des Todes dargestellt werden soll, so geht es mir weder um die Entwicklung einer allumfassenden Theorie der Trauer, noch um eine enzyklopädische Auflistung der diversen Praktiken, wie sie von anderen Autoren versucht wurde (z.B. Stubbe 1985, Cipolletti 1989, Sörries 2014). Ein solches Vorhaben erscheint schon aufgrund der unüberschaubaren Menge an Fallbeispielen und der Fülle an bereits existierenden ethnologischen Veröffentlichungen wenig Erfolg versprechend. Stattdessen folge ich bei der Auswahl meiner Fallbeispiele dem autobiographischen Ansatz des vorherigen Beitrags und beschränke mich auf Daten aus der Zeit meiner Forschungen und unserer Reisen aus der Zeit zwischen den Jahren 2004 und 2017. Diese subjektive Auswahl kann selbstverständlich keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben, sie mag aber anhand anschaulicher Beispiele dazu beitragen, einen Eindruck von der Vielfalt an Bedeutungen des Todes in den unterschiedlichen Kulturen zu gewinnen.13

Am Anfang waren Grabhügel


Der Tod und speziell die Frage nach einem Leben nach dem Tod beschäftigt die Menschen schon seit Jahrtausenden. Die Auseinandersetzung mit dieser fundamentalen Frage hat offenkundig auch eine entscheidende Rolle in der kulturellen Entwicklung gespielt und einige der bedeutendsten Zeugnisse der Kulturgeschichte der Menschheit hervorgebracht. Exemplarisch seien hier nur die Pyramiden von Gizeh, die Felsengräber von Petra, die Terrakottaarmee des ersten chinesischen Kaisers, die Steinstatuen der Osterinsel oder das indische Taj Mahal genannt, die allesamt in enger Verbindung mit dem Tod stehen.

Unter den verschiedenen Bestattungsformen sind Grabhügel eine weltweit anzutreffende Urform der Architektur, aus der sich in späteren Zeiten die Pyramiden in Ägypten und Altamerika, die buddhistischen Stupas und die Mausoleen von Staatsoberhäuptern entwickeln sollten. Auch handelt es sich bei dieser Bestattungsform um eine durchaus noch lebendige Tradition, wie z.B. Friedhöfe in China belegen.

Abb. 3: Grabhügel in Langeln (Schleswig-Holstein) und Hügelgräber auf einem Friedhof in Guilin (Südchina)

Abb. 4: Poulnabrone Dolmen (Irland) und Urdolmen bei...

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