Rasse, Klasse, Nation - Ambivalente Identitäten

Rasse, Klasse, Nation - Ambivalente Identitäten

von: Immanuel Wallerstein, Étienne Balibar

Argument Verlag GmbH, 2018

ISBN: 9783867548588

Sprache: Deutsch

280 Seiten, Download: 459 KB

 
Format:  EPUB

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Rasse, Klasse, Nation - Ambivalente Identitäten



Kapitel 1


Gibt es einen »Neo-Rassismus«?*


Étienne Balibar

Wieweit ist es heute angebracht, von einem »Neo-Rassismus« zu sprechen? Das aktuelle Geschehen, dessen Formen von Land zu Land etwas verschieden ausfallen, aber doch deutlich erkennen lassen, dass es sich um ein transnationales Phänomen handelt, zwingt uns dazu, diese Frage zu stellen. Allerdings können dieser Frage zwei verschiedene Bedeutungen gegeben werden: Einerseits die, ob wir heute vor einer historischen Erneuerung der rassistischen Politiken und Bewegungen stehen, die ihre Erklärung in einer Krisenlage oder etwa auch in anderen Ursachen findet, andererseits die, ob es sich hinsichtlich der von ihm besetzten Themen und seiner gesellschaftlichen Bedeutung um einen neuen Rassismus handelt, der sich nicht auf die früher aufgetretenen »Modelle« reduzieren lässt. Ich werde im Folgenden vor allem der Frage in der zweiten Bedeutung nachgehen.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Hypothese, es handele sich um einen »Neo-Rassismus« – jedenfalls in Bezug auf Frankreich – im Ausgang von einer immanenten Kritik der Theorien, der Diskurse, entwickelt worden ist, die auf der Ebene einer Anthropologie oder einer Geschichtsphilosophie dazu beitragen, eine Politik der Ausgrenzung zu legitimieren. Dabei ist nur wenig Mühe darauf verwandt worden, eine Verbindung zwischen der Neuartigkeit der vorgetragenen Thesen und dem neuen Charakter der politischen Situationen bzw. den gesellschaftlichen Veränderungen herzustellen, die dazu geführt haben, dass diese neuen Thesen überhaupt »greifen«. Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass die theoretische Dimension des Rassismus heute wie damals zwar historisch relevant, aber weder eigenständig noch primär ist. Der Rassismus gehört vielmehr – als ein wahrhaft »totales soziales Phänomen« – in den Zusammenhang einer Vielzahl von Praxisformen (zu denen Formen der Gewaltanwendung ebenso gehören wie Formen der Missachtung, der Intoleranz, der gezielten Erniedrigung und der Ausbeutung) sowie von Diskursen und Vorstellungen, die nichts weiter darstellen als intellektuelle Ausformulierungen des Phantasmas der Segregation bzw. der Vorbeugung (d. h. der Notwendigkeit, den Gesellschaftskörper zu reinigen, die Identität des »eigenen Selbst« bzw. des »Wir« vor jeder Promiskuität, jeder »rassischen Vermischung« oder auch jeder »Überflutung« zu bewahren) und die sich um die stigmatisierenden Merkmale des radikal »Anderen« (wie Name, Hautfarbe und religiöse Praxisformen) herum artikulieren. Im Rassismus geht es demgemäß darum, Stimmungen und Gefühle zu organisieren (deren zwanghaften Charakter, aber auch deren »irrationale« Ambivalenz die Psychologen vielfach beschrieben haben), indem sowohl ihre »Objekte«, als auch ihre »Subjekte« stereotypisiert werden. Aus ebendieser Kombination unterschiedlicher Praxisformen, Diskursformen und Vorstellungen in einem ganzen Netz von Gefühls-Stereotypen lässt sich die Herausbildung einer rassistischen Gemeinschaft erklären (oder auch einer Gemeinschaft von Rassisten, zwischen denen aus wechselseitigem Abstand wirksame »Nachahmungs«-Verbindungen bestehen) sowie auch die Art und Weise, wie sich gleichsam spiegelbildlich die Individuen und Kollektive, die dem Rassismus ausgesetzt sind (also dessen »Objekte«), dazu gezwungen sehen, sich selbst als eine Gemeinschaft wahrzunehmen.

Wie absolut, wie unerbittlich, dieser Zwang auch sein mag, für seine Opfer bleibt er offenbar dennoch immer als Zwang wahrnehmbar: Weder kann er (wie bei A. Memmi nachzulesen) ohne Konflikte verinnerlicht werden, noch den Widerspruch auslöschen, dass kollektiven Zusammenhängen eine Gemeinschaftsidentität zugeschrieben wird, denen zugleich das Recht bestritten wird, sich selbst zu definieren (lesen wir Fanon!). Dieser Zwang, sich als Gemeinschaft wahrzunehmen, hebt auch nicht den in den Handlungen, Diskursen, Theorien und Rationalisierungen (der Rassisten, A. d. Ü.) enthaltenen Überschuss an Gewaltsamkeit auf. Aus der Perspektive seiner Opfer besteht also eine wesentliche Asymmetrie des rassistischen Komplexes, die den Taten und dem Übergang zur Tat einen unbestreitbaren Primat über die Lehren verleiht – wobei als Taten natürlich nicht nur physische Gewalttaten und Diskriminierungen zu begreifen sind, sondern auch durchaus Worte, die durch Worte ausgeübte Gewalt in Form von Verachtung und Aggression. Dies führt uns zunächst dazu, die Veränderungen in der Lehre und der Sprache (der Rassisten, A. d. Ü.) zu relativieren: Muss man solchen Rechtfertigungen, die immer dieselbe Struktur bewahren (die Struktur, jedes Recht zu verweigern), auch wenn sie aus der Sprache der Religion in die der (Natur-) Wissenschaft oder aus der Sprache der Biologie in die der Kultur und der Geschichte überwechseln, solange sie zu denselben Taten führen, überhaupt eine derartige Bedeutung zuschreiben?

Diese Bemerkung ist durchaus richtig, sie ist sogar von zentraler Bedeutung – aber sie beseitigt noch nicht das Problem. Denn eine Zerstörung des Rassismus setzt nicht nur voraus, dass dessen Opfer dagegen revoltieren, sondern auch die Rassisten selbst müssen sich verändern. Dementsprechend muss es zu einer Ersetzung der rassistischen Gemeinschaft von innen heraus kommen. Dies lässt sich mit der Bekämpfung des Sexismus vergleichen, dessen Überwindung zugleich die Revolte der Frauen und die Zersetzung der Gemeinschaft der »Männchen« erfordert. Nun sind aber die rassistischen Theorien für die Herausbildung dieser Gemeinschaft unverzichtbar. Es gibt in der Tat ohne Theorie(n) keinen Rassismus. Es wäre ganz und gar müßig, sich zu fragen, ob die rassistischen Theorien eher aus den Eliten oder aus den Massen, aus den herrschenden oder aus den beherrschten Klassen stammen. Dagegen liegt es auf der Hand, dass sie jedenfalls von Intellektuellen »rationalisiert« werden. Und es ist sogar äußerst wichtig, sich die Frage zu stellen, welche Funktion die theoretischen Ausarbeitungen des Rassismus (dessen Prototyp die evolutionistische Anthropologie der »biologischen Rassen« darstellt, wie sie sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts herausgebildet hat) für die Verfestigung der Gemeinschaft haben, die sich um den Signifikanten der »Rasse« herum bildet.

Diese Funktion scheint mir nicht ausschließlich in der allgemeinen Fähigkeit zu einer Organisierung der intellektuellen Rationalisierungen (was Gramsci als deren »Organizität« bezeichnet hat und Auguste Comte als deren »geistige Macht«) zu bestehen, und auch nicht in der Tatsache, dass die Theorien des Rassismus ein Bild einer Gemeinschaft, einer auf der Herkunft beruhenden Identität ausarbeiten, in dem sich Individuen aus allen Klassen wieder erkennen können. Sie liegt vielmehr in der Tatsache, dass diese Theorien den wissenschaftlichen Diskurstyp nachahmen, indem sie sich auf sichtbares »Beweismaterial« stützen (von daher erklärt sich die wesentliche Bedeutung der rassischen, insbesondere der körperlichen Stigmata, für den Rassismus). Genauer gesagt ahmen sie die Art und Weise nach, in der der wissenschaftliche Diskurstyp »sichtbare Tatsachen« auf »verborgene« Ursachen zurückführt und bilden so die Vorhut einer spontanen Theoriebildung, wie sie sich innerhalb des Rassismus der Massen vollzieht.1 Ich möchte mich hier zu dem Gedanken vorwagen, dass sich im Rassismus auf eine unauflösbare Weise die zentrale Funktion der Verkennung (ohne die Gewalttätigkeit nicht einmal für diejenigen, die sie ausüben, zu ertragen wäre) mit einem »Willen zum Wissen« vermischt, d. h. mit einem heftigen Begehren nach Erkenntnis, nach einer unmittelbaren Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese beiden Funktionen verstärken sich ständig wechselseitig, weil für alle gesellschaftlichen Individuen und Gruppen die eigene kollektive Gewalttätigkeit ein beängstigendes Rätsel bildet, für das dringend eine auflösende Erklärung gefunden werden muss. Hier zeigen übrigens die Ideologen des Rassismus eine besondere intellektuelle Haltung, wie raffiniert ihre Ideologien auch ausgearbeitet sind. Im Unterschied beispielsweise zu den Theologen, die unbedingt zwischen einem esoterischen spekulativen Denken und einer Lehre für den Volksgebrauch einen Abstand aufrechterhalten müssen (wenn auch, um nicht in den Fehler der Gnosis zu verfallen, keinen vollständigen Schnitt), haben die historisch wirksamen rassistischen Ideologen immer in diesem Sinne »demokratische« Lehren ausgebildet, d. h. solche, die unmittelbar zugänglich und gleichsam im Vorhinein dem niedrigen Intelligenzgrad angepasst waren, der den Massen dort zugeschrieben wird, wo es um die Ausarbeitung einer Ideologie der Elitebildung geht. D. h. es ging ihnen immer um solche Lehren, die in der Lage waren, ganz unmittelbar einen Schlüssel dafür an die Hand zu geben, nicht nur das zu interpretieren, was die Individuen erleben, sondern auch das, was sie innerhalb der gesellschaftlichen Welt sind – darin sind sie der Astrologie, der Charakterologie und Ähnlichem verwandt. Das gilt selbst dann, wenn ein solcher Schlüssel die Form der Offenbarung eines »Geheimnisses« der conditio humana annimmt (d. h. wenn mit ihm ein Geheimnis-Effekt als wesentliche Bedingung für seine imaginäre Wirksamkeit verknüpft ist, wie dies vor allem Léon Poliakov2 belegt hat).

Genau hierin liegt auch die Schwierigkeit, vor der jeder Versuch steht, den Inhalt des...

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