Hain - Geländeroman

Hain - Geländeroman

von: Esther Kinsky

Suhrkamp, 2018

ISBN: 9783518757024

Sprache: Deutsch

287 Seiten, Download: 2433 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hain - Geländeroman



Palestrina


Irgendwo auf dem Weg, ein Stück hinter Valmontone, war mir ein Schild nach Palestrina aufgefallen. Wenn ich auf der Veranda in Olevano stand und nach Westen blickte, hielt ich nach dem Ort Ausschau, der sich in meiner Vorstellung mit dem Komponisten verband. Lassus, Palestrina, Ockeghem, Tallis. Musik, die zu dem milchig schattenlosen Licht meines Lebens in England gehörte, einem Licht, wie es hier nicht vorkam. Vor vielen Jahren hatte ich in einer Palestrinamesse gesungen und dabei gemerkt, wie ich in der Musik trauerlos der Welt abhandenkam, unsichtbar wurde und nichts mehr sah.

Das Bild der Straßenkreuzung mit dem Schild im Sinn, machte ich mich auf. Wochen hatte ich am Hang verbracht, mit dem Blick über die Ebene, und jetzt war ich erstaunt, welche Landschaft der Abgebrochenheiten ich unten, am Fuß der Hügel, antraf. Auf dem Hinweg musste es mir entgangen sein, sicher weil mein Blick nur auf diesen in der Ferne liegenden Bergort gerichtet war, wo ein Obdach auf mich warten sollte.

Sobald ich die steile gewundene Straße hinter mir hatte und auf ebenem Weg fuhr, verlor sich das Gefühl für die Ausgebreitetheit der Landschaft. Die Gehölze, Gebüsche, Alleebäume und Weiden an kleinen Bachläufen, die sich von oben als weich gewölbte Linien durch die Landschaft zogen, schoben sich hier unten in den Ausblick und ließen die Weite zu einer Reihe von Parzellen schrumpfen. Abseits der Straße lagen aufgelassene Gebäude, die vielleicht mal kleine Fabriken gewesen waren oder für landwirtschaftliche Zwecke genutzt wurden. Fahnen flatterten zaghaft im leichten Wind vor einem Geschäft mit Hochzeitskleidern zu Aktionspreisen. An mehreren Stellen hatte man begonnen, Straßen in die Landschaft zu planieren, die aber in Sichtweite schon abbrachen. An einer solchen offenbar im Stich gelassenen Baustelle standen noch große Baumaschinen, um deren Reifen schon Gestrüpp gewachsen war. Bauland war vorbereitet, die Schilder, die den Hausbau ankündigten, ragten zu schartigen Bruchstücken verkommen schief über den Zaun, ein Wohnwagen, in dem sicher die Beratung für künftige Hausbesitzer hatte stattfinden sollen, steckte bis über die Räder in der schlammigen Erde. Stare kreisten über den Feldern, die vielleicht auch schon unschlüssiges Brachland waren. Die gepflügte Erde war hellbraun mit einem Hauch von Violett im Winterlicht. Ich bog auf eine größere Straße ab, passierte die struppigen Winterreste einer Baumschule neben einer Gärtnerei für tropische Pflanzen, daneben lag ein Gartenrestaurant, das hacienda im Namen führte. Girlanden bunter Glühbirnen wanden sich durch die kahlen Bäume. Neben dem versperrten Zufahrtstor ragten zwei riesige Kakteen auf, die nach Pappmaché aussahen. Wahrscheinlich trugen die Kellner Sombreros, und an Wochenenden gab es eine Stimmungsband mit mexikanischen Klängen, und die Musikanten, Hobbygitarristen und verwirrte Rumba-Rassler aus den Ortschaften zwischen Valmontone und Olevano, Männer zwischen vierzig und fünfzig, die zu alt waren, um die Gegend hinter sich zu lassen, bekamen kleine Portionen Tequila gratis und ein schmächtiges Geld bei Geschäftsschluss. Jetzt war alles geschlossen und verrammelt. Die Musikanten verbrachten die Abende vor dem Fernseher oder lösten Kreuzworträtsel, bis der Frühling kam.

Die Straße nach Palestrina führte bergauf, weite Kurven mit steilen Abgründen zur einen und bewaldeten aufsteigenden Hängen zur anderen Seite, eine schwindelerregende Brücke über eine Schlucht, dann der kleine Ort Cave, der in altem Ocker und Rosa schön sein wollte, entweder die Hässlichkeiten des Olevaner Hinterlands hatte vermeiden können oder vor dem Durchreisenden verbarg. Der Markt wurde abgebaut, hätte ich die Montagshändler etwas genauer studiert, wäre mir vielleicht mancher bekannt vorgekommen.

Palestrina war eine Katzenstadt. Nach einem heftigen Schneeregenschauer waren die Straßen leer bis auf die weißen, sandfarbenen und dreifarbig getigerten Katzen an allen Ecken, Eingängen, Treppenvorsprüngen und in notdürftigen Unterschlüpfen am Rande von Brachen. Manche waren zutraulich und hoffnungsvoll, andere lauernd und bang, nicht wild und mager wie in Osteuropa, eher gewitzte Hüter geheimer Orte, die fürchteten, man könne ihnen und ihren Verstecken auf die Schliche kommen. Ab und zu kurvte ein Mopedfahrer durch die nassen Straßen, das Knattern hallte vom Hang wider, ein Phantommoped in den Lüften, das dem auf der Straße in geringem Abstand folgte. Eine heisere Tonspur der Hoffnungslosigkeit, die über dieser Gegend lag.

Palestrina erwies sich tatsächlich als Geburtsort von Giovanni Pierluigi, wie man ihn hier nannte. Es gab ein feuchtkaltes Geburtshaus zu besichtigen, düster und von einem seltsamen Wärter gehütet, von dem ich mir vorstellte, dass er die langen besucherlosen Stunden und Tage an seinem Arbeitsplatz damit verbrachte, einen brennenden Blick einzustudieren. In unserem kurzen Gespräch behauptete er, nicht zu wissen, dass Giovanni Pierluigi andernorts als Palestrina geführt wird. Vielleicht sagte er die Wahrheit.

Ich stieg die steile Straße hinauf, bis sich das Bleiherz bemerkbar machte. Zwischen kleinen rost- und rosenfarbenen Häusern mit Wellblechdächern und borstigen Steingärten stand ich und schaute hinaus auf eine andere Ebene. Am Fuß des Berges lag die Neustadt von Palestrina, ähnlich planlos wie die Rückseite von Olevano, doch bewohnter als dort. In einiger Entfernung und von den ockerfarbenen Wohnblocks und grauen Einfamilienhäuschen abstechend wie eine kleine Fremde lag der Friedhof, markiert von dichten schwarzen Zypressen, die hinter einer weißlichen Mauer aufragten – die hiesige Tracht der Totenacker. Eine Nekropole, die vielleicht schon immer dort gelegen hatte, fuori le mura, genau in der Mitte des Blickfelds von hier oben, aber auch von dem etwas weiter unterhalb gelegenen Heiligtum, von dem aus die Stadt in Terrassen abfiel und dem Friedhof zustrebte. Ein wenig weiter nach rechts, nach Westen, öffnete sich die Landschaft zu einer großen Weite, und dort begann tatsächlich Rom. Ganz kurz meinte ich sogar in äußerster Ferne das Meer zu erkennen. Über dieser Weite und dem hellen Horizont hing eine große dunkelblaue Wolke mit bräunlichen Bäuchen, die an den Rändern zu gelbgrün bebenden Federn und Bändern ausfranste. Die Sicht unter der Wolke war klar und scharf, bis es wieder zu regnen begann und sich alles in Verschwommenheit auflöste, sogar der Friedhof wurde zu einem undeutlichen Fleck, in dem die Zypressenwipfel jetzt schwankten.

Ich suchte Schutz in dem Museum, das krönend auf dem alten Heiligtum thronte. Die Säle waren angefüllt mit Grabbeigaben, Steinskulpturen, Gefäßen und Schmuck. Ich betrachtete die cippi etruskischer Gräber, zapfenförmige behauene Steine, die den Grabeingang markierten, vielleicht auch – wie die Kiesel, mit denen man früher auf jüdischen Friedhöfen immer wieder die Schiedslinie zwischen Gräbern legte – die Grenze des Grabes. Bis hierher gehe dein Totenreich. Von einer kleinen Empore über einem Schacht, in dessen Tiefe Wasser rauschte, war das Nilmosaik zu sehen, eine riesige Bildertafel aus winzigen Steinchen, die die sagenhaften Geschöpfe, Landschaften und Ungeheuer Ägyptens zeigte, eine Bildergeschichte auf dem Rücken des riesigen Flusses, der den Römern auch Angst gemacht haben mochte. Der Tiber sickerte bescheidener ins Meer. Das Ägypten auf dem Mosaik beherbergt traurige Kentauren mit Eselskörpern, Chamäleons und verschiedene Affen. Schwarze Männer zeigen sich mit Bogen und Schilden als Jäger. Im Fluss steht ein Nilpferd. Reiher scheinen im Flug zur Erde zu stürzen, einer riesigen halb aufgerichteten Schlange entgegen, die bereits einen Vogel verschlingt.

Es hörte auf zu regnen. Aus einem Fenster sah ich die Sonne im Westen, von violettem, orangem, gelbem und bräunlich fleddrigem Gewölk umstanden. Das Licht strömte durchs Fenster, wässrig und weich. Es lag nur an diesem Licht, dass mir in einer Vitrine ein Stück auffiel, ein Ring, Grabbeigabe einer Frau, Mutter von zwei Kindern zweier Väter, wie es in der Beschreibung hieß. Der Ring selbst, das schmale Metallband, war unauffällig, doch in der Fassung...

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