Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

von: Jesmyn Ward

Verlag Antje Kunstmann, 2018

ISBN: 9783956142284

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 662 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt



 

 

 

1. Kapitel


JOJO


ICH STELL MIR GERNE VOR, dass ich weiß, was der Tod ist. Ich stell mir gerne vor, dass er etwas ist, dem ich ins Auge sehen kann. Als Pop zu mir sagt, ich soll ihm helfen, und ich das schwarze Messer seh, das hinter seinem Gürtel steckt, folge ich ihm nach draußen und versuche, den Rücken durchzustrecken und die Schultern so gerade wie einen Kleiderbügel zu halten; so geht Pop. Ich tu so, als wär die Sache ganz normal und langweilig, damit Pop denkt, dass ich mir diese dreizehn Jahre verdient hab, damit er weiß, dass ich bereit bin zu tun, was getan werden muss, Eingeweide von Muskeln zu trennen, Organe aus ihren Höhlen zu schälen. Ich will Pop zeigen, dass ich mit Blut klarkomme. Heute ist mein Geburtstag.

Ich halte die Tür fest, damit sie nich zuknallt, dann lasse ich sie ganz leise einklicken. Mam und Kayla sollen nich aufwachen, wenn keiner von uns im Haus is. Besser, sie schlafen. Besser, meine kleine Schwester Kayla schläft weiter, denn in den Nächten, wenn Leonie arbeiten is, wird sie jede Stunde wach, setzt sich im Bett auf und schreit. Besser, Großmutter Mam schläft weiter, denn die Chemo hat sie ausgetrocknet und ausgezehrt, so wie die Sonne und die Luft es bei den Wassereichen machen. Pop schlängelt sich zwischen den Bäumen durch, aufrecht und schlank und braun wie eine junge Kiefer. Er spuckt auf die trockene rote Erde, und die Baumkronen winken im Wind. Es ist kalt. Dieser Frühling ist stur, an den meisten Tagen lässt er keine Wärme durch. Die Kälte bleibt einfach da, so wie Wasser in einer verstopften Badewanne. Ich hab mein Hoodie auf dem Fußboden in Leonies Zimmer liegen lassen, wo ich schlafe, und mein T-Shirt ist dünn, aber ich reibe mir trotzdem nich die Arme. Wenn ich mich von der Kälte ärgern lasse und dann die Ziege sehe, werd ich ganz bestimmt zusammenzucken oder die Stirn runzeln, wenn Pop ihr die Kehle durchschneidet. Und wie ich Pop kenne, wird er es merken.

»Wir lassen die Kleine lieber schlafen«, sagt Pop.

Pop hat unser Haus selbst gebaut, vorne schmal und lang, dicht an der Straße, damit er den Wald auf dem Rest des Grundstücks stehen lassen konnte. Die Ställe für seine Schweine, Ziegen und Hühner hat er auf kleine Lichtungen zwischen die Bäume gesetzt. Zu den Ziegen müssen wir am Schweinestall vorbei. Die Erde dort ist schwarz und matschig vom Kot, und seit Pop mich, als ich sechs war, mal verprügelt hat, weil ich ohne Schuhe im Schweinegehege rumgelaufen bin, war ich nie wieder barfuß hier draußen. Du kannst dir dabei Würmer holen, hatte Pop gesagt. Später an dem Abend hat er mir Geschichten von sich und seinen Geschwistern erzählt, als sie noch klein waren und immer barfuß gespielt haben, weil jeder nur ein Paar Schuhe besaß, und das war zum in die Kirche gehen. Sie haben alle Würmer gekriegt, und wenn sie aufs Plumpsklo gingen, haben sie sich die Würmer aus dem Po rausgezogen. Ich hab es Pop nicht gesagt, aber das hat besser gewirkt als die Schläge.

Pop wählt die unglückliche Ziege aus, legt ihr den Strick wie eine Schlinge um den Hals und führt sie aus dem Stall. Die anderen blöken und stubsen ihn an, rammen ihm ihre Köpfe in die Kniekehlen und lecken an seiner Hose.

»Heh, weg da!«, sagt Pop und tritt nach ihnen. Ich glaub, die Ziegen verstehn sich; ich seh das an den bockigen Kopfstößen, daran, wie sie sich in Pops Hose verbeißen und am Stoff zerren. Ich glaub, sie wissen, was die lose Schlinge um den Hals der einen bedeutet. Der weiße Bock mit dem dunkelgefleckten Fell tänzelt hin und her, er wehrt sich, als ob er schon ahnt, wo es für ihn hingeht. Pop zieht ihn an den Schweinen vorbei, die zum Zaun gerannt kommen und Pop angrunzen, weil sie Futter wollen, und dann den Weg runter zum Schuppen, der dichter am Haus steht. Zweige klatschen an meine Schultern, kratzen mich und hinterlassen dünne weiße Schrammen auf meinen Armen.

»Wieso hast du hier nicht mehr gerodet, Pop?«

»Zu wenig Platz«, sagt Pop. »Und keiner brauch zu sehn, was ich da hinten hab.«

»Man kann die Tiere doch vorn hören. Von der Straße aus.«

»Und wenn einer versucht, sich herzuschleichen und sich an meine Tiere ranzumachen, dann hör ich ihn durch diese Bäume kommen.«

»Du meinst, die Tiere würden sich klauen lassen?«

»Nein. Ziegen sind garstig, und Schweine sind schlauer, als man denkt. Und gemein. So’n Schwein beißt jeden, von dem es nich gewohnt is, Futter zu kriegen.«

Pop und ich gehen in den Schuppen. Pop bindet den Ziegenbock an einen Pfahl, den er in den Boden gerammt hat, und der Bock blökt ihn an.

»Kennst du irgendwen, der seine Tiere draußen hat?«, sagt Pop. Und Pop hat recht. Keiner in Bois lässt seine Tiere frei rumlaufen, weder auf den Feldern noch vorne vor dem Haus.

Der Bock wirft den Kopf hin und her, stemmt sich nach hinten. Versucht, den Strick abzuschütteln. Pop schwingt ein Bein über das Tier, zwängt es ein und schiebt ihm seinen Arm unters Kinn.

»Big Joseph«, sage ich. Als ich das sage, würde ich am liebsten rausgucken, über meine Schulter auf den hellen grünen Tag draußen, aber ich zwinge mich, den Blick auf Pop zu richten, auf den Bock, dem zum Sterben der Hals gestreckt wird. Pop schnaubt verächtlich. Ich wollte den Namen eigentlich gar nicht aussprechen. Big Joseph ist mein Weißer Opa, Pop mein Schwarzer. Ich wohne seit meiner Geburt bei Pop; meinen Weißen Opa hab ich zwei Mal gesehen. Big Joseph ist rund und groß und sieht ganz anders aus als Pop. Er sieht noch nicht mal so aus wie Michael, mein Vater, der schlank ist und überall Tattoos hat. Die hat er sich als Andenken bei Möchtegern-Künstlern machen lassen, in Bois und draußen auf dem Wasser, als er offshore gearbeitet hat, und im Gefängnis.

»Na also«, sagt Pop.

Pop ringt mit dem Bock wie mit einem Mann, und der Bock knickt ein. Er fällt vorwärts in den Sand und dreht den Kopf zur Seite, sodass er mich anguckt und mit der Wange über die schmutzige Erde und den blutbefleckten Schuppenboden schabt. Er zeigt mir sein sanftes Auge, aber ich gucke trotzdem nich weg, zucke mit keiner Wimper. Pop macht den Schnitt. Der Bock gibt einen überraschten Laut von sich, ein Blöken, das von einem Gurgeln erstickt wird, und dann ist überall Blut und Schlamm. Die Beine des Tiers werden schlapp wie Gummi, und Pop kämpft nicht mehr. Mit einer schnellen Bewegung steht er auf, bindet die Fesseln mit einem Strick zusammen und zieht dann den Tierkörper hoch zu einem Haken, der am Dachsparren hängt. Das Auge: noch feucht. Es schaut mich an, als wäre ich derjenige, der ihm die Kehle aufgeschlitzt hat, als wäre ich derjenige, der ihn ausbluten lässt, bis sein Gesicht ganz rot und blutdurchtränkt ist.

»Könn’ wir?«, fragt Pop. Dann schaut er mich kurz an. Ich nicke. Meine Stirn schlägt Falten, mein Gesicht ist verkrampft. Ich versuche, mich zu entspannen, während Pop an den Beinen entlangschneidet, dem Ziegenbock Hosennähte verpasst, Hemdnähte, Schlitze überall.

»Hier festhalten«, sagt Pop. Er zeigt auf einen Schlitz am Bauch des Tiers, also greife ich mit den Fingern hinein und packe zu. Es ist noch warm, und nass. Bloss nicht abrutschen, ermahne ich mich. Nicht loslassen.

»Jetzt ziehen«, sagt Pop.

Ich ziehe. Die Ziege wird von innen nach außen gekehrt. Schleim und Gestank überall, irgendwas riecht muffig und beißend, wie ein Mann, der tagelang nicht geduscht hat. Das Fell lässt sich abschälen wie eine Bananenschale. Ich staune jedes Mal, wie leicht es abgeht, sobald man nur dran zieht. Pop zieht kräftig auf der anderen Seite, und dann schneidet und reißt er das Fell an den Hufen ab. Ich ziehe die Haut auf meiner Seite über das Tierbein bis zum Fuß, kriege sie aber nicht so gut ab wie Pop, deshalb übernimmt er das Abschneiden und Abreißen.

»Andere Hälfte«, sagt Pop. Ich greife in den Schlitz in der Nähe des Herzens. Dort ist die Ziege sogar noch wärmer, und ich frage mich, ob ihr Herz in der Panik so schnell geschlagen hat, dass die Brust ganz heiß geworden ist, aber dann schaue ich zu Pop, der schon dabei ist, die Haut am Fuß abzutrennen, und merke, dass ich durch das Grübeln langsam geworden bin. Ich will nicht, dass er mein Trödeln für Angst hält oder für Schwäche, so als wär ich nich alt genug, um dem Tod ins Gesicht zu sehen wie ein Mann, also packe ich zu und ziehe mit Wucht. Pop trennt das Fell am Fuß ab, und dann baumelt das Tier von der Decke und besteht nur noch aus rosa Muskeln, die das bisschen Licht, das in den Schuppen fällt, einfangen und im Dunkeln glänzen. Von der Ziege ist nur noch das haarige Gesicht übrig, und irgendwie ist dieser Anblick noch schlimmer als der Moment, bevor Pop ihr die Kehle durchgeschnitten hat.

»Hol den Eimer«, sagt Pop, also hole ich den Metallbottich vom Regal hinten im Schuppen und schiebe ihn unter das Tier. Ich hebe das Fell, das schon anfängt, steif zu werden, auf und stopfe es in den Bottich. Alle vier Stücke.

Pop macht einen Schnitt in der Bauchmitte, die Eingeweide...

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