Handbuch Literatur & Materielle Kultur

Handbuch Literatur & Materielle Kultur

von: Susanne Scholz, Ulrike Vedder

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2018

ISBN: 9783110416633

Sprache: Deutsch

507 Seiten, Download: 6570 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Handbuch Literatur & Materielle Kultur



1. Einleitung


Susanne Scholz und Ulrike Vedder

Zum aktuellen Interesse an der materiellen Kultur


Ein Handbuch zum Themenkomplex „Literatur und materielle Kultur“ versucht umfangreiche, auch divergierende Forschungsperspektiven zu bändigen, denn Schnittstellen und Berührungspunkte zwischen Literatur und materieller Kultur finden sich auf vielen, zum Teil sehr unterschiedlichen Ebenen. Zum einen ist das Buch selbst (wie auch die Handschrift, das Manuskript, der Brief) als ein materielles Objekt unter dem Aspekt seiner Materialität, Stofflichkeit, Ausstattung, Form und Vorzeigbarkeit zu betrachten. Zum anderen bedienen sich literarische Texte der materiellen Objekte zur Darstellung vielfältiger Sinngehalte: Dinge beschwören realistisch-erkennbare diegetische Welten herauf, fungieren als symbolische Akteure und ästhetisch-poetologische Reflektoren.

Mit seinem Fokus auf literarische Materialien und imaginierte Dinge fügt sich das Handbuch in eine interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Forschungskonstellation ein und widmet sich der Frage nach dem Status des Materiellen bzw. Dinglichen sowie nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekten – die in anderen Disziplinen bereits seit einigen Jahrzehnten systematisch verfolgt wird – im Feld der Literatur und ihrer Wissenschaft.

Für das gegenwärtige dezidierte Interesse der Kultur- und Geisteswissenschaften an den Dingen gibt es verschiedene Gründe. Zum einen lässt es sich sicherlich, wie der Literaturwissenschaftler und Dingtheoretiker Bill Brown vermutet, als Reaktion auf die Digitalisierung der Welt verstehen (Brown 2001, 16), die als Prozess einer zunehmenden Entkörperlichung und Ortlosigkeit wahrgenommen werde. Zum anderen konstatieren unter anderem Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert und Hans Peter Hahn einen beunruhigend schnellen Wechsel wissenschaftlicher Methoden und einen „Verschleiß von Leitkonzepten“ (Samida et al. 2014, 4 und 7), der eine epistemologische Verunsicherung generiere, die durch eine Hinwendung zum vermeintlich Konkreten stabilisiert werden soll. Eine zunehmende Verdrossenheit speziell gegenüber den Methoden der Dekonstruktion und der Diskursanalyse lässt möglicherweise das Materielle und Körperliche als „dry ground“ (Brown 2001, 1) und rettenden Anker erscheinen. Vor dieser nachgerade nostalgischen Rückkehr zu den Dingen warnte Brown bereits zu Beginn der 2000er Jahre, sie sei weder methodologisch tragfähig noch epistemologisch produktiv (Brown 2001, 1).

Disziplinen der Materie- und Dingforschung


Die Material Culture Studies sind, wie etwa Bill Brown und Daniel Miller betont haben, keine eigene Disziplin (Brown 2001; Miller 2005; vgl. auch Daston 2004). Vielmehr haben sich sehr unterschiedliche Disziplinen mit ihrer je eigenen Herangehensweise und ihren je spezifischen Fragestellungen in den letzten Jahrzehnten den Dingen zugewendet und deren Ordnung, Klassifikation, Ausstellung, Darstellung und Semantisierung zum Gegenstand von Analyse und Theoretisierung gemacht. Für die Archäologie, aber auch die Ethnologie und Anthropologie standen schon immer kulturelle Artefakte im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Marcel Mauss etwa betont in den Instructions sommaires des Musée dʼEthnographie von 1931: „[A]uthentic, autonomous objects [...] characterize civilizations better than anything else.“ (6–7, übersetzt bei Pearce 1997, 11) Daher ist es kein Zufall, dass einige der produktivsten Theoretisierungen des Materiellen und der materiellen Kultur aus den Reihen dieser Disziplinen stammen (zum Beispiel Kohl 2003; Miller 1987; Hahn 2015). Auch für die Kunstgeschichte bilden Gegenstände und Artefakte nicht erst mit dem Aufkommen der Readymades, objets trouvés und der object art im 20. Jahrhundert wichtige Untersuchungsobjekte: Bauten und Skulpturen, später auch andere Gegenstände der Gestaltung (Porzellan, Kleidung, Möbel etc.) bis hin zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen haben das Interesse kunstgeschichtlicher Betrachtung erregt (vgl. exemplarisch Ernst H. Gombrichs The Story of Art [1950; Die Geschichte der Kunst], in der Bauen und Bildhauerei einen selbstverständlichen Teil wissenschaftlicher Erörterungen bilden).

Die Museumskunde hat in der Folge der ‚materiellen Wende‘ eine besondere Aufwertung erfahren, wobei Sammlungs- und Ausstellungspraktiken sowie Problematiken der adäquaten (Re)Präsentation von Kulturen anhand von Gegenständen im Licht der Theoriedebatten neu überdacht wurden. Besonders wichtig und mit der Museumspraxis eng zusammenhängend sind materielle Überreste, Artefakte und Gegenstände auch im Bereich der Memory Studies, für die ein enges Zusammenspiel von Materialität und Medialität der Überlieferung geradezu konstitutiv ist (Erll und Nünning 2004; siehe auch 2.6 ERLL). Objekte fungieren als persönliche oder kollektive Erinnerungsträger und -auslöser; ihre Bewahrung, Archivierung, gegebenenfalls auch Digitalisierung sind nicht nur ein wesentliches kulturelles Anliegen, sondern auch Gegenstand gesellschaftlicher wie wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Ausgehend vom Stichwort der ‚Materialität der Kommunikation‘ haben die Medienwissenschaften ebenfalls die Frage der Materialität in ihre Theoriebildung einbezogen (Gumbrecht und Pfeiffer 1988; siehe auch 2.3 ORTLIEB).

Die Psychologie widmet sich unter dem Vorzeichen der Identitätsformation den Objektbeziehungen der Subjekte, dem Einfluss der Dinge auf die Identitätsbildung, der Interaktion zwischen Subjekten und den Objekten in ihrer Umgebung, der kulturellen Symbolfunktion von Gegenständen und ihrer Instrumentalisierung als Medien affektiver Beziehungen (Habermas 1999). Im Bereich der Traumsymbolik, der Psychogenese (vgl. das Fort-Da-Spiel mit der berühmten Zwirnrolle), in der Untersuchung von pathologischen Überbesetzungen (Stichwort ,Fetischismus‘) spielen materielle Objekte eine wichtige Rolle.

In der Philosophie wird die Subjekt-Objekt-Dichotomie im Gefolge der phänomenologischen Kritiken von Edmund Husserl, Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty diskutiert und die ‚ursprüngliche‘ Einbettung aller zuhandenen Dinge in einen praktischen Bewandtniszusammenhang betont (siehe auch 2.11 DRÜGH): Als Zeug sind die Dinge je schon Teil menschlicher Praxis und stehen im Horizont bestimmter Zwecke (Heidegger 1987; Merleau-Ponty 2003). Auch für die Kritische Theorie sowie für Konstruktivismus und Dekonstruktion spielt die Frage nach dem Status des Materiellen eine wichtige Rolle. In Abgrenzung sowohl von metaphysischen wie auch von transzendentalphilosophischen Ansätzen bewerten sie das subjektkonstituierende Potenzial des Materiellen neu und werten damit Materialität und materielle Dinge als wesentliche Faktoren der Subjektwerdung auf. So spricht Theodor W. Adorno (1970, 186) im Zusammenhang seiner Kritik der Erkenntnistheorie vom „Vorrang des Objekts“, während Judith Butler (1993) in ihren Überlegungen zur Materialisierung von Geschlecht einen ,body that matters‘ postuliert.

Soziologische Ansätze beziehen sich vielfach auf Pierre Bourdieus praxeologische Forschungen zur Bedeutung der Dinge bei der Ausgestaltung soziokultureller Praktiken, wo sie als Gradmesser der sozialen Positionierung, mithin als Instrumente der gesellschaftlichen Distinktion fungieren (Bourdieu 1987). Auch Arjun Appadurais mittlerweile klassische Aufsatzsammlung The Social Life of Things von 1986 führt die Aufwertung von Dingen bereits im Titel und macht den „methodological fetishism“ (Appadurai 1986, 5) zum Programm, nach dem Dinge nicht von handelnden Subjekten mit Bedeutung aufgeladen werden, sondern umgekehrt über die historischen und sozialen Verortungen ihrer Besitzer/innen Aufschluss geben. In ähnlicher Weise kommentiert Andreas Reckwitz die Indienstnahme des Ästhetischen zur Aufrüstung des sozialen Potenzials und symbolischen Kapitals von Dingen (Reckwitz 2012; vgl. auch Drügh 2011, 9−44).

Schließlich gesteht die Wissenschafts- und Technikgeschichte den unbelebten Dingen sogar eine Handlungsfähigkeit wie belebten Wesen zu. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) betont die aktive gestalterische Kraft von Gegenständen und geht so weit, das subjektdifferenzierende Kriterium der agency auf Artefakte und Naturdinge auszuweiten (Latour 2008). Auch Gegenstände und bislang als Sachen wahrgenommene Lebewesen (zum Beispiel Tiere) sollen als Handelnde betrachtet werden. Hans Peter Hahn kritisiert diese (von Latour später selbst zurückgenommene [vgl. Latour 1999]) Zuspitzung und plädiert für eine stärker auf Kontext und Kopräsenz fokussierte Betrachtung des „Eigensinns“ der Dinge (Hahn 2015).

Für die Literaturwissenschaften schlägt sich das erstarkte Interesse am Materiellen unter anderem in einer Neubewertung der Medialisierung und materiellen Überlieferung der erschlossenen oder noch zu erschließenden Texte nieder, bezogen auf Buch- und Manuskriptgestaltung, Beschreibstoffe, Schreibgeräte und neuerdings digitale Nachlässe. Editionsphilologie, Handschriftenkunde, Buchkunde rücken als wichtige Teildisziplinen verstärkt in den Blick (Meier et al. 2015; Schubert 2010; siehe auch...

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