Bestseller - Bücher, die wir liebten - und was sie über uns verraten

Bestseller - Bücher, die wir liebten - und was sie über uns verraten

von: Jörg Magenau

Hoffmann und Campe, 2018

ISBN: 9783455001358

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 1714 KB

 
Format:  EPUB

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Bestseller - Bücher, die wir liebten - und was sie über uns verraten



Voraussetzungen


Die Bücher, die mir als Kind begegneten, waren immer schon da. So wie die große, weite, rätselhafte Welt um mich herum immer schon da war. Räuber Hotzenplotz, Pippi Langstrumpf, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer traten als mythische Figuren aus einer zeitlosen Gegenwart heraus. Sie waren vollkommen präsent und so wahrhaftig wie Hänsel und Gretel, Hänschen im Blaubeerwald oder der Mönch von Heisterbach, der an einem einzigen Nachmittag gleich dreihundert Jahre im Wald verbracht hatte und am Abend in eine veränderte Welt zurückkehrte. Ich fragte nicht danach, wer diese Figuren ausgedacht und aufgeschrieben hatte oder seit wann es sie schon gab. Dass Hotzenplotz und Jim Knopf damals nicht viel älter waren als ich selbst, nahezu Neuheiten der Saison, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Zeit und Geschichte gab es nicht in der Kindheit, also auch keine Neuerscheinungen und schon gar keine Bestseller. Jedes Buch, das ich las, war ein Klassiker. Jedes Buch, das ich las, war ein Buch für mich. Karlsson vom Dach, Grischka und sein Bär, Tecumseh wurden meine Freunde, und wenn einer von ihnen starb, dann beweinte ich seinen Tod. Oder ich fieberte mit ihnen wie mit dem Müllerburschen Krabat, der dem Teufel begegnete. Aber das war dann schon ein paar Jahre später.

Die frühesten Bücher hatten keine Autoren, sondern bestanden aus Figuren, Geschichten und Bildern. Sie waren nicht geschrieben, sondern ganz einfach der Wirklichkeit entnommen. Irgendwann aber kehrten sich die Verhältnisse um. Erwachsen werden bedeutet, wissen zu wollen, woher etwas kommt, und Ordnungen zu erschaffen, in die sich die Einzelphänomene einordnen lassen. Jetzt wurde ich zu einem Leser, der sich zuerst an den Schriftstellernamen orientierte. Ich las nicht mehr einzelne Bücher, sondern ganze Werke. Dabei fing ich chronologisch mit dem Debüt an und hörte beim letzten Roman auf. Der Gegenwart war ich damit immer noch fern, aber aus anderen Gründen. Ich durchlief, wie wir alle, meine Hermann-Hesse-Phase. Dass es sich bei Siddhartha, Narziss und Goldmund oder dem Steppenwolf um Allzeit-Bestseller handelte, war mir nicht klar. Bestseller hätte ich instinktiv abgelehnt, denn was für alle gut ist, kann doch nicht auch für mich das Richtige sein. Es folgten die Max-Frisch-Phase, die Martin-Walser-Phase, die Jean-Paul-Sartre- und dann auch die Simone-de-Beauvoir-Phase, und überall versteckten sich Bestseller: Homo Faber, Ein fliehendes Pferd, Der Ekel, Die Mandarins von Paris.

Dass es nicht so außergewöhnlich ist, von Hesses meditativem Indien ins existentialistische Frankreich überzusiedeln, hätte mir bewusst sein können. Ich bewegte mich im Kanon, obwohl ich mit dem Markt nichts zu tun haben wollte. Geist ist doch etwas anderes als das, was alle kaufen. Dabei gab es auch Johannes Mario Simmel, die Harmlosigkeiten von Ephraim Kishon oder Wum und Wendelin. Und Jimmy ging zum Regenbogen hatte ich gerne gelesen, über Kishons Familiengeschichten hatte ich herzlich gelacht, und Loriot war schon damals unsterblich. Die kamen direkt von der Bestsellerliste, aber das wusste ich nicht. Geballte Ablehnung dann erst später, gegenüber Uta Danella, Rosamunde Pilcher und dergleichen, aber warum eigentlich, ich hatte sie ja nie gelesen. Das Vorurteil, Bestseller sind Bücher für alle, also für den Durchschnitt, verfestigte sich mehr und mehr.

Auf die Werke folgten die Epochen. Jetzt waren es nicht mehr einzelne Autoren, die ich las, sondern ich benutzte die Bücher, um dadurch etwas über ihre Entstehungszeit zu erfahren. Sturm und Drang, Realismus, Nachkriegsliteratur: Das fing im Deutschunterricht an und setzte sich im Germanistikstudium fort. Die Entdeckung der Zeitgeschichte bedeutete, das Geschriebene historisch zu relativieren. Jetzt waren es nicht mehr einfach nur brauchbare Erkenntnisse, Gefühlslagen und Geschichten, die mir erzählt wurden, sondern zeitgebundene Indizien. Sie verkündeten keine Wahrheiten, sondern verwiesen auf die bestimmten Zustände ihrer Epoche. Als Literaturkritiker, zu dem ich schließlich wurde, ohne das beabsichtigt zu haben (wer will schon Literaturkritiker sein?), versuchte ich, beides miteinander zu verbinden: das Buch als ein Gegenüber zu betrachten, das sich objektiv beschreiben lässt, und dabei doch ein Leser zu bleiben, der in seine Lektüre eintaucht und dabei vor allem etwas über sich selbst erfährt. Denn das Lesen ist ja immer eine Begegnung, zu der zwei gehören: das Buch und der Leser.

Wie aber werden wir zu Lesern? Und wann fangen wir damit an, in Buchhandlungen nicht nach dem Ewigen zu suchen, sondern nach dem Neuen? Oder ist das ein ganz falscher Gegensatz? Wir wollen überrascht werden. Wir wollen lernen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Wir wollen verstehen. Und wir wollen entführt und abgelenkt werden, um über uns und den eigenen Horizont hinauszugelangen. Deshalb lesen wir und spüren unserer Gegenwart mit ihren immer neuen Phänomenen und erstaunlichen Geschichten hinterher. Der Buchmarkt ist ein Spiegelbild all dessen, was sich ereignet Jahr für Jahr. Er zeigt, was uns umgibt und wie reich an Möglichkeiten die Wirklichkeit ist. Er umfasst in jedem Moment unsere ganze Geschichte und all unsere Wünsche. Damit sind wir nie allein. In den Büchern begegnet uns das, was uns ausmacht und was uns mit allen anderen verbindet. Manchmal sprechen sie zu uns persönlich, ganz direkt, als ob sie uns kennen würden. So genau erfassen sie, was wir denken und wie wir fühlen, nur dass wir selbst es vielleicht nicht so ausgedrückt hätten. Sie nehmen uns auf und führen uns hinaus in unbekannte Regionen.

Erfolg ist kein Makel, sondern ein Ausweis von Aktualität. Das ist an sich weder gut noch schlecht. Ein Platz auf der Bestsellerliste ist kein Qualitätsmerkmal für das betreffende Werk, aber doch ein Beleg dafür, dass es auf irgendeine Weise jetzt gerade, heute, zu uns spricht. Darum geht es mir in dieser kleinen Geschichte der Bestseller. Warum waren bestimmte Titel in Deutschland zu ihrer Zeit so erfolgreich? Was erzählen sie über uns? Welche Instinkte, welche Ängste, welche Hoffnungen verknüpfen sich mit den Büchern, die wir liebten? Das wollte ich wissen, und so fing ich an, vieles von dem zu lesen, was ich früher zur Seite gelegt hatte. Und siehe da: Es gab einiges zu entdecken.

Wenn ich mit Freunden über dieses Thema sprach, dann leuchteten die Augen auf. Dann nannten sie sofort Titel, die für sie wichtig waren, und gerieten in eine erinnerungsfrohe Begeisterung. Kommt denn auch Vom Winde verweht drin vor? Oder Doktor Schiwago? Oder die Love Story? Und was ist mit Heinrich Böll, Luise Rinser oder Hochhuths Stellvertreter? Was mit Jussi Adler-Olsen und Henning Mankell? Mit Michael Crichton und Dan Brown? Mit Otto Waalkes und Axel Hacke? Mit Umberto Eco oder Isabel Allende? Jede Biographie ließe sich auch entlang der eigenen großen, lustvollen Leseerlebnisse erzählen. Wenn der Mensch ist, was er isst, dann ist er noch viel mehr das, was er liest. Und wenn ich mit Schriftstellern zusammentraf, berühmteren zumal, was berufsbedingt öfters geschieht, und mit ihnen über mein Thema sprach, waren sie zart beglückt von der Aussicht, dass es dann ja wohl auch ein Kapitelchen über sie geben müsse und ihren größten Erfolg. Aber ach! Ich musste sie fast alle enttäuschen. Sind so viele Bücher, kann man nicht alle erwähnen, ja die allermeisten bleiben notwendigerweise außen vor, wenn das Ganze nicht enzyklopädische Ausmaße oder lexikalische Nachschlagehaftigkeit annehmen soll.

Die Auswahl, die sich schließlich ergab, ist ganz und gar subjektiv. Es kann nicht anders sein. Und so sehe ich schon jetzt die unendliche Mängelliste und die Beschwerden derer, die nicht darin enthalten sind, die ihr Lieblingsbuch vermissen oder ganz andere epochale Zäsuren gesetzt hätten. Doch Subjektivität ist keine Beliebigkeit. Sie folgt vielmehr den Notwendigkeiten, die sich aus dem eigenen Blick und aus dem Zusammenhang ergeben. Und sie folgt durchaus Kriterien. Darum ging es dann auch immer sehr schnell, in all den Gesprächen mit den Freunden: Wie willst du das denn entscheiden, was in so eine Geschichte hineingehört und was nicht? Ist zum Beispiel die Auflagenhöhe ein Kriterium? Ja und nein, sagte ich. Es werden sicher nicht nur Millionenseller sein, aber auch keine Titel mit weniger als ein paar hunderttausend verkauften Exemplaren. Da Verlage nur selten ehrliche Zahlen herausgeben, ist es schwer, sich nach der Verkaufsauflage zu richten. Außerdem sagt die schiere Quantität nicht so viel aus. Es gibt Millionenseller, die spurlos im Vergessen versunken sind, und andere, nicht so exorbitant gut verkaufte Bücher, die aber heftige Debatten auslösten. Viele der großen Erfolge waren dann halt doch bloß gute Unterhaltung und nicht weiter der Rede wert. Dagegen ist nichts zu sagen, aber eben auch nichts darüber. Die hier vorliegende Geschichte konzentriert sich auf Bestseller, die idealerweise beides verbinden: Hohe Auflagen und Aufmerksamkeit mit einer spürbaren Wirkungsgeschichte. Das Typische ist dabei wichtiger als die lückenlose Dokumentation der konkreten Einzelfälle.

Aus rein pragmatischen Gründen konzentriere ich mich darüber hinaus auf deutschsprachige Titel – von einigen Ausnahmen abgesehen. Der deutsche Buchmarkt ist ja wie die deutsche Kultur überhaupt keine autonome Insel, sondern ein Abbild weltweiter Verflechtungen, Beeinflussungen und Interessen von uns Lesern. Der Buchmarkt ist ganz sicher eine Einwanderungsgesellschaft, die nach keiner Obergrenze verlangt. Wissen und Erfahrungen kommen von überall her. Internationale Phänomene wie Harry Potter...

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