Zickzackkind

Zickzackkind

von: David Grossman

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446260757

Sprache: Deutsch

432 Seiten, Download: 1806 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Zickzackkind



1


Der Zug blies sein Signal und setzte sich in Bewegung. Ein Junge stand in einem der Waggons am Fenster und sah den Mann und die Frau an, die ihm vom Bahnsteig winkten, der Mann mit einer Hand, knapp und verstohlen, die Frau mit beiden Armen und einem riesigen, roten Tuch. Der Mann war der Vater des Jungen, und die Frau war Gabriella, besser gesagt, sie war Gabi. Der Mann trug eine Polizeiuniform, denn er war Polizist. Die Frau trug ein schwarzes Kleid, denn Schwarz macht schlank. Auch Kleider mit Längsstreifen sind vorteilhaft. »Aber was die beste Figur macht«, pflegte Gabi zu lachen, »ist neben jemandem zu stehen, der dicker ist als ich, aber dem bin ich noch nicht begegnet.«

Der Junge am Zugfenster, der abfuhr und sich von den beiden entfernte, sie betrachtete wie ein Bild, das er niemals wiedersehen würde — war ich. Nun würden sie zwei Tage lang allein sein, dachte ich. Alles war verloren.

Der Gedanke daran verfing sich in meinem Haar und zog mich weiter und weiter aus dem Fenster. Vaters Mund begann sich zu jener Grimasse zu verzerren, die Gabi die letzte Verwarnung nannte. Was ging es mich an. Wenn er sich wirklich um mich sorgte, sollte er mich nicht für zwei Tage nach Haifa schicken, ganz davon zu schweigen, zu wem.

Auf dem Bahnsteig pfiff ein Mann in Eisenbahneruniform mit einer schrillen Trillerpfeife in meine Richtung, während er mir mit rudernden Armen Zeichen machte, den Kopf zurückzuziehen. Daß Männer mit Schirmmützen und Trillerpfeifen immer wieder gerade mich ausmachen mußten, sogar in einem besetzten Zug! Ich zog ihn nicht zurück. Im Gegenteil. Vater und Gabi sollten mich bis zum letzten Moment vor Augen haben. Sollte ihnen das Kind nur im Gedächtnis bleiben!

Der Zug rollte noch durch den Bahnhof. Langsam fuhr er durch Wellen heißer, schwerer Luft und den Geruch nach Diesel. Neue Gefühle stiegen in mir hoch. Der Duft der weiten Welt. Freiheit. Ich fahre weg! Ich bin allein! Ich hielt eine Wange hin, dann die andere, ließ mir vom warmen Wind das Gesicht streicheln, wollte seinen Kuß loswerden. Noch nie hatte er mich so vor allen Leuten umarmt. Was küßte er mich, um mich dann wegzuschicken?

Nun trillerten mir schon drei Pfeifen den Bahnsteig entlang hinterher. Ein Orchester hatte ich mir bestellt. Weil Vater und Gabi nicht mehr zu erkennen waren, zog ich meinen Oberkörper zurück, gleichgültig und ohne Eile, um klarzustellen, daß ich auf die Trillerpfeifen pfiff.

Ich ließ mich auf den Sitz fallen. Wenn wenigstens noch jemand im Abteil gewesen wäre. Was nun? Vier Stunden Fahrzeit von hier bis Haifa, und am Ende der Strecke Dr. Schmuel Schilhav, finster, händeringend und an mir verzweifelt, Lehrer und Pädagoge, Verfasser von sieben Werken zum Thema Erziehung und Staatsbürgerkunde und durch einen unglücklichen Umstand mein Onkel, der älteste Bruder meines Vaters.

Ich stand auf. Untersuchte zweimal, wie man das Fenster öffnete und schloß. Klappte den Abfallbehälter auf und zu. Im Abteil gab es sonst nichts, was sich öffnen und schließen ließ. Alles war in einem ordnungsgemäßen Zustand. Ohne Zweifel, der Zug entsprach dem neuesten Stand der Technik.

Dann stieg ich auf die Sitzbank, streckte mich, schaffte es, mich in voller Länge auf die oberste Gepäckablage zu wuchten, ließ mich kopfüber hinunter auf den Boden des Abteils und prüfte, ob jemand zufällig etwas Geld unter den Sitzen verloren hatte. Er hatte nichts verloren, Jemand war gewissenhaft.

Zur Hölle mit Vater und Gabi, mich so an Onkel Schmuel auszuliefern, und das eine Woche vor der Bar Mizwa. Nun gut, Vater empfand Hochachtung vor seinem ältesten Bruder und bewunderte dessen Kompetenz in Sachen Erziehung. Aber Gabi? Die ihn hinter seinem Rücken Uhu nannte? War dies das einzigartige Geschenk, das sie mir versprochen hatte?

Das Lederpolster meines Sitzplatzes hatte ein kleines Loch. Ich steckte einen Finger hinein und machte daraus ein großes Loch. An solchen Stellen findet sich gelegentlich ein Geldstück. Ich fand jedoch nichts außer Schaumgummi und Sprungfedern. In vier Stunden vermochte ich mich mit dem Finger durch wenigstens drei Abteile zu arbeiten, einen Tunnel in die Freiheit zu bohren, zu verschwinden und nicht bei Schmuel Schilhav (ehemals Fejerberg) anzukommen, und dann würden wir ja sehen, ob sie mich abermals losschicken würden.

Mein Finger war erledigt, lange bevor die drei Abteile erledigt waren. Ich legte mich, Beine in die Höhe, auf die Sitzbank. Eingesperrt war ich. Ein mobiler Gefangener. Auf dem Transport zum Gericht. Mein Bargeld fiel mir aus der Tasche. Die Münzen rollten durch das Abteil. Einen Teil fand ich wieder, einen Teil nicht.

Jedes der jüngeren Familienmitglieder hatte einmal im Leben diese gnadenlose Behandlung durch Onkel Schilhav über sich ergehen lassen müssen, diese Folterzeremonie, die Gabi die Anfeuerung nannte. Für mich jedoch würde es das zweite Mal sein. In der Geschichte hat es kein Kind gegeben, das sie zweimal durchmachte, ohne daß die Seele dabei Schaden genommen hätte. Ich schwang mich auf die Bank und begann, an die Wand des Abteils zu trommeln. Später ging ich dazu über, einen Takt zu klopfen. Möglicherweise saß im Nachbarabteil ein ebenso elender Inhaftierter wie ich, der daran interessiert war, mit einem Leidensgenossen zu korrespondieren? Vielleicht war der Zug überhaupt besetzt mit jugendlichen Straftätern, die geschlossen zu meinem Onkel gebracht wurden? Ich hämmerte erneut, diesmal mit dem Fuß. Wer kam, war der Schaffner, der brüllte, ich solle stillsitzen. Ich saß still.

Die letzte Anfeuerung reichte mir für den Rest meines Lebens. Sie geschah, nachdem mir die Sache mit der Kuh Pesja Mautner unterlaufen war. Damals hatte sich Vaters Bruder mit mir in eine enge, stickige Kammer begeben und sich mir erbarmungslos zwei volle Stunden lang gewidmet. Er hatte seine Unterweisung wohlwollend und in gedämpftem Flüsterton begonnen und sogar meinen Namen gewußt, aber nach ein paar Minuten war ihm passiert, was ihm stets passierte, er vergaß ganz und gar, wo er sich befand und in wessen Begleitung, und er wähnte sich auf einer großen Bühne, am Versammlungsort der Stadt, vor einer großen Zuhörerschaft aus Schülern und Getreuen, die sich allesamt eingefunden hatten, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Und nun — das Ganze noch einmal. Einfach so. Ohne Verfehlung meinerseits. »Vor der Bar Mizwa mußt du dir anhören, was Onkel Schmuel dir zu sagen hat«, hatte Gabi gemeint. Auf einmal war er Onkel Schmuel.

Dabei wußte ich: Gabi wollte mich nur aus dem Weg räumen, um meinem Vater den Laufpaß geben zu können.

Ich stellte mich hin. Stand aufrecht. Taumelte. Setzte mich wieder. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Ich kannte sie. Wenn ich nicht in der Nähe war, würden sie streiten und sich schreckliche Dinge an den Kopf werfen, und nichts wäre wiedergutzumachen, und es war mein Los, über das dort zur Zeit bestimmt wurde.

»Warum sprechen wir nicht auf der Arbeit darüber?« fragt mein Vater Gabi gerade. »Ich bin spät dran.«

»Weil auf der Arbeit immer lauter Leute im Zimmer sind und ständig jemand dazwischen klingelt und man dort nicht miteinander reden kann. Komm, laß uns in ein Café gehen!«

»In ein Café?« wundert sich Vater. »Am hellichten Tag? So ernst ist die Lage?«

»Hör auf, dich über alles lustig zu machen!« wird sie ungehalten, und ihre gerötete Nasenspitze deutet bereits auf Tränen hin.

»Wenn es wieder um die Sache geht —«, sagt Vater und seine Stimme wird hart, »dann vergiß es. Bei mir hat sich, seit wir darüber gesprochen haben, nichts geändert. Ich bin noch nicht soweit.«

»Diesmal wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe«, sagt Gabi, »und du wirst mich ausreden lassen. Wenigstens zuhören wirst du mir!«

Sie steigen in den Streifenwagen, und Vater läßt den Motor an. Die Dienstgrade auf seinen Schultern glänzen warnend. Seine Miene ist verschlossen. Gabi ist in sich zusammengesunken. Obwohl sie ihre Aussprache nicht einmal begonnen haben, sind sie schon mitten im Gefecht. Gabi holt einen kleinen, runden Spiegel aus ihrer Tasche. Schaut für einen kurzen Moment in das Gesicht, das ihr entgegenblickt. Versucht, das Dickicht ihres gewellten Haares, den gekräuselten Hügel, an den Kopf zu drücken. Affenfratze,...

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