Fremde Verwandtschaften - Roman

Fremde Verwandtschaften - Roman

von: Thomas Stangl

Droschl, M, 2018

ISBN: 9783990590157

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 5215 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Fremde Verwandtschaften - Roman



1.

Im September 1911 fährt Franz Kafka in Paris zum ersten Mal mit der Metro; er beschreibt dieses Erlebnis ausführlich in seinen Reisetagebüchern. Ein Satz in dieser Beschreibung lautet: »Man ist auch nicht weit von den Menschen, sondern eine städtische Einrichtung, wie z. B. das Wasser in den Leitungen«. Ich schrieb diesen Satz, als ich ihn in einem Hotelzimmer in Paris, nah der Place de la République, las, gleich in mein Notizbuch ab. Er schien mir alten Träumen, unklaren Phantasien zu entsprechen, für die ich lange keine Form gefunden hatte. Ich stand auf, schaute aus dem Fenster auf die schmale, langgezogene Rue Meslay. Im winzigen Zimmer hinter mir saß die Frau, die ich vom Bahnhof abgeholt hatte, auf dem Bett und las ein französisches Buch.

Es gibt Orte, denkt (hundert Jahre nach Kafkas Zeit) dieser Architekt am Tag vor seiner Abreise, Orte außerhalb von Europa, an denen alles älter ist, einen Tick näher am Verfall, die Steine der Häuser, Paläste und Säulen, die Wände im Inneren der Häuser, rötlich graue, schwitzende Wände, die einen Tick mehr von Zeit getränkt sind, er kann sie sich genau vorstellen, so wie er sich die schnell wachsenden üppigen Pflanzen in den Gärten vorstellen kann, einen über die Ufer tretenden Fluss und den Sand, den der Fluss mit sich nimmt, die Orte sind dicht besiedelt und können doch in jedem Moment aufgegeben werden, die Häuser (die Paläste, die Innenräume) rücken einen unmerklichen Schritt zur Seite, ins Unwahrscheinliche hinein, denkt er, ins Unwahrscheinlichere und eben deshalb Wahrhaftigere.

Außerdem gibt es an diesen Orten Tiere, fast wie aus Zeichentrickfilmen. Das fällt ihm aber (denkt er, am Fenster stehend, seit wie lange schon am Fenster stehend) nur wegen der Kinder ein, nur weil er eigentlich schlafen sollte, vielleicht gar nicht mehr so richtig wach ist, woher denn sonst (denkt er) diese Tiere. Er ist sich nicht sicher, ob er sich auf die Reise freut.

Er steht da, schaut aus dem Fenster, die Straße zieht sich über Hügel hin schnurgerade in die Ferne, weit über den Häusern liegt eine dichte, gleichmäßige, rötlich leuchtende Wolkenschicht. Niemand ist auf der Straße, ein Taxi fährt vorbei, dann ein Auto, das eine junge Frau lenkt (er sieht von oben ihre Knie), dann niemand, von der Durchzugsstraße her das An- und Abschwellen von Folgetonhörnern, dann die roten Lichtpunkte von Zigaretten, zwei junge Männer und ein Mädchen, die sich laut unterhalten, lauter lachen, dann niemand, Sekunden, Minuten, niemand, ein Schwarzer auf einem Fahrrad, dann niemand, die Straße zieht sich zu den niederen Bergen am Rand dieser Stadt irgendwo in Europa, in Mitteleuropa hin, unter seinen Blicken, unter der dunklen wolkenleuchtenden Hand des Himmels.

Er erinnert sich, dass er als Kind oder eher als Jugendlicher in seinem Atlas auf der Europakarte die Städte bunt gekennzeichnet hatte, in denen er bereits gewesen war, dann ein Netz zwischen diesen Städten gezogen: als würde in dem Muster etwas zu erkennen sein, etwas, das ihn betraf und zugleich die Welt. Die Europakarte und seine eigene darübergelegte Karte mit einem Netz von Linien zwischen Metropolen und Badeorten stellten eine Verbindung zwischen ihm und der Welt dar. Später hätte die Europakarte nicht mehr ausgereicht, aber sein Glaube an die Karten war auch verlorengegangen; oder zumindest so weit in den Hintergrund getreten, dass er nicht mehr auf die Idee gekommen wäre, irgendwelche Orte zu markieren. Im Geheimen hat er sich aber vielleicht doch nicht verändert.

Um fünf Uhr früh wird das Taxi vor der Tür stehen. Ein Kaffee und Küsse auf die Stirnen der Schlafenden.

Die aus dem Fenster in der Rue Meslay aufgenommenen Fotos zeigen fast nichts als perspektivisch aufeinanderzulaufende Linien: die Dächer, die Straße, die parkenden Autos, Pfeile, die in die Ewigkeit schießen, Raum erzeugen: Fluchtlinien, in denen ich ein unbestimmtes Versprechen wahrnehmen wollte. Dass auch Autos oder Menschen auf den Fotos zu sehen sind, hat fast keine Bedeutung. Damals war ich, nach langer Zeit, zum zweiten Mal in Paris, wo ich niemals gelebt habe und das mir doch viel eher als Wien, wo ich andauernd lebe und wovon ich andauernd schreibe, als meine Stadt erscheint.

Das erste Bild ist allerdings ein Spiegelbild und zeigt die Zerstörung, mit der alles beginnt und endet. Ich bin sechzehn Jahre alt und zum ersten Mal allein, ohne Familie, nur mit Freunden verreist.

Ich stehe im Foyer eines Zweisternhotels, frühmorgens, übermüdet, irgendwo im zweiten Arrondissement in der Nähe der Oper, im Sommer 1982, habe nichts zu sagen, weil andere das für mich erledigen, warte, unbeteiligt an allem, ein großer Spiegel steht da, auf den (oder eher in den) mein Blick fällt. Ich sehe mich, wie es scheint, in diesem Spiegel zum ersten Mal selbst, ohne den Schutz eines eigenen Raumes, in einer Welt, zu der ich nicht gehöre. In meinem käsig weißen leeren Gesicht nehme ich einen lächerlichen Ausdruck von Panik wahr. Das Gesicht zerfließt, bietet keinen Halt, die Augen halten keinem Blick stand. Dieses Spiegelbild musste ich auslöschen; es ersetzen; eine Aufgabe für Jahre und Jahrzehnte. Ich muss zur Stadt gehören (zu dieser hier? zu meiner? zu irgendeiner?). Das einfache Vergessen konnte nicht gelingen (auch wenn ich, natürlich, zunächst, in den nächsten Tagen, zu vergessen schien); es musste Mittel zur Täuschung geben, Umwege: dennoch steht am Beginn das weiße, zerstörte, lächerliche Gesicht, das, wie mir schien, niemals zu einem erwachsenen Menschen gehören würde können.

Im Hotel in der Rue Meslay, an das ich mich weit besser erinnere als an das Hotel aus dem Jahr 1982, war die Liftkabine innen mit schwarzem Samt ausgekleidet, und an der Decke war ein Spiegel angebracht. Wenn ich hochsah, waren da die Gesichter irgendwelcher Menschen, eines Mannes und einer Frau, nichts Besonderes (nur, dass sie in der Spiegelwelt mit dem Kopf nach unten und etwas verzerrt in der Luft hingen). Das waren zweifellos wir selbst. Ich muss zur Stadt gehören, denke ich, an Spiegeln vorbeilaufen, in Hotelzimmern wohnen wie ein Teil der Einrichtung, nackt und so gut wie niemand, die abgelegten Kleider im Zimmer sind dagegen fast lebendige Wesen, mit einer geleeartigen Haut, fisch- oder froschhaft, fast fähig, sich selbst zu bewegen. Wir schauen sie vom Bett aus, vom Fenster aus an.

Ich ging durch die Stadt, an ganz wenigen Punkten kreuzte ich meine alten Spuren.

An manchen Stellen sind diese alten Spuren in meiner Erinnerung jedoch deutlich zu sehen, nicht weniger deutlich als die Spuren späterer Besuche in der Stadt, die Gegenwart von 1982 ist nicht weiter entfernt als die späteren Gegenwarten.

Zum ersten Mal, noch harmlos, fast spielerisch, erfasst den Architekten am Flughafen für einen Moment ein Gefühl, als wäre er eben erst auf die Welt gekommen. Es ist kein Gefühl, das aus ihm selbst kommt, ihm scheint, es käme von den anderen Menschen her, den auf ihren Bahnen aneinander vorbei und nebeneinander her laufenden Reisenden. Die meisten Läden sind noch geschlossen, aber das Licht ist grell, hinter den Metallgittern und dem Glas der Auslagenscheiben sind die Markenkleider, die Koffer, die teuren Kosmetika zu sehen, die Cafés sind finster. Die Leute kommen aus ihren fremden Nächten in diesen falschen Morgen, als Touristen oder, so wie er, als Geschäftsleute verkleidet. Er weiß für einen Moment, dass jeder dieser Menschen sein eigenes Leben hat, manchmal würde ein Wort genügen, eine Geste, und irgendeines dieser Leben könnte ihn selbst einfach aufnehmen, er könnte dazugehören (so wird er später, in Afrika denken, als dieses Wissen ihn immer noch nicht losgelassen, sich in immer neuen Anläufen in ihm festgesetzt hat), dazugehören und alles vergessen, was er bisher gewesen ist. Das wäre die einzige Art zu reisen.

Die Rolltreppen. Die Laufbänder, auf die er sein Sakko (Schlüssel rein, Geldbörse) und seine Tasche (Laptop raus) gelegt hat. Gürtel, Schuhe. Thank you, sir: er freut sich, nicht in seiner Muttersprache angeredet zu werden; als würde es bedeuten, nicht erkannt zu werden, unerkennbar zu sein. Er schiebt den Gürtel durch die Schlaufen am Hosenbund, seine Arme in die Ärmel des Sakkos, die Geldbörse (Fotos der Kinder darin) in die Gesäßtasche seiner Hose, den Laptop zurück in die Tasche.

Natürlich ist er völlig übermüdet, er hat in der Nacht (wenn das Schlaf war, dieses Aufblitzen von Bildern in einem tiefen Dunkel) höchstens eine Stunde lang geschlafen. Er ist froh, dass er auf der ersten Strecke alleine reist, so wie er auf der zweiten, der langen Strecke froh sein wird, dass sein Platz neben Unbekannten ist und nicht, zum Beispiel, neben dem Präsidenten. Jetzt wird er gehalten von den automatischen Abläufen: er ist sein Gepäck los, hat Pass und Boardingkarte in der Sakkotasche, hat noch einen Kaffee getrunken und sitzt mit übergeschlagenen Beinen vor dem sogenannten Gate. Im Grunde fühlt er sich wohl in dieser Umgebung, er braucht kaum da zu sein. Es scheint ihm wunderbar, wie alles funktioniert, Verkehrsmittel bringen ihn zum Flughafen und vom Flughafen in sein Hotel oder nach Hause (in wenigen Wochen, zu Frau und Sohn und Tochter, wenn er das möchte und was sollte er sonst wollen); vergisst er zum Schalter zu gehen, wird sein Name aufgerufen; sein Gepäck reist ohne ihn und parallel zu ihm (und wenn doch nicht, reist es ihm nach), so wie seine Daten von der Internetbuchung übers Einchecken und die Passkontrollen bis zum Wiedereinschalten des Handys, des Laptops, dem Ein- und dem Auschecken im Hotel, wenn er seine Kreditkarte überreicht oder durch ein Lesegerät schiebt, parallel zu ihm durch andere Räume reisen, Räume, die keine Wirklichkeit mehr...

Kategorien

Service

Info/Kontakt