Der Skandal der Skandale - Die geheime Geschichte des Christentums

Der Skandal der Skandale - Die geheime Geschichte des Christentums

von: Manfred Lütz

Verlag Herder GmbH, 2018

ISBN: 9783451811753

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 697 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Skandal der Skandale - Die geheime Geschichte des Christentums



Vorwort


Das Christentum ist die unbekannteste Religion der westlichen Welt. Das liegt nicht an einem Mangel an Informationen, sondern im Gegenteil an einer Überfülle an Informationen. Allerdings haben diese Informationen gewöhnlich eine merkwürdige Eigenart: Sie sind grotesk falsch.

Das ist an sich nicht weiter schlimm. Mit falschen Überzeugungen kann man gut leben. Lange Zeit glaubte man, dass durch die Arterien Luft fließe, noch länger nahm man an, dass es Drachen gebe und selbst die Überzeugung, dass die Erde eine Scheibe sei, hat die Menschen nicht daran gehindert, ein sinnvolles Leben zu führen.

Fake News können sogar Spaß machen. Wer will die Welt schon von morgens bis abends so sehen, wie sie ist? Und auch ganz persönlich ist Verdrängung eine wichtige Fähigkeit, um lebenstüchtig zu bleiben. Wer dauernd all die Schattenseiten seiner Lebensgeschichte mit sich spazieren trägt, hat’s schwer im Leben.

Doch bei den Falschinformationen über das Christentum geht es nicht um irgendwelche kleinen Irrtümer, amateurhafte Fälschungen oder harmlose Schummeleien. Diese Falschinformationen haben das Christentum in seinem Kern nachhaltig erschüttert und absolut unglaubwürdig gemacht.

Dagegen spricht nicht, dass man öffentlich Papst Franziskus schätzt und Mutter Teresa verehrt. Man schätzt und verehrt sie nicht wegen, sondern trotz der Tatsache, dass sie Christen sind. Man nimmt es ihnen sozusagen nicht übel. Und auch das karitative Engagement christlicher Institutionen achtet man, ja sogar das, was man gerne »christliche Werte« nennt, was immer das dann sein soll. Doch den christlichen Glauben, die Geschichte der christlichen Kirchen, das Christentum selbst hält man bestenfalls für peinlich. In intellektuellen Debatten gilt ein christliches Bekenntnis gewöhnlich unausgesprochen als indiskutabel. Der Ausdruck Fundamentalismus hat sich nicht nur für fanatische Gläubige eingebürgert, sondern gilt inzwischen jedem religiösen, jedem christlichen Bekenntnis, das Religion nicht nur religionswissenschaftlich beschreibt, sondern für wahr hält. Das ist das Ende des realen Christentums als kulturprägende Kraft.

Man mag einwenden, dass immerhin die christlichen Kirchen noch beachtliche Institutionen vorweisen können, die zum Beispiel in Deutschland über enorme Finanzmittel verfügen. Doch ist nicht zu übersehen, dass viele Kräfte durch den Rückbau der einstmals großen Volkskirchen absorbiert werden und Neuaufbrüche eher am Rande des institutionalisierten Christentums stattfinden. Dabei gelingt christliche Mission am ehesten da, wo Menschen direkt spirituell angesprochen werden, eine Gemeinschaft von Überzeugten erleben und so ihr persönliches Leben erneuern. Aber, so paradox das klingen mag, das Christentum, seine Geschichte, seine Institutionen, seine Repräsentanten wirken für die christliche Mission in unseren Breitengraden eher als Hindernis, jedenfalls nicht als Attraktion.

Das liegt daran, dass dem Christentum ein Todesstoß versetzt wurde. Die inzwischen unbestrittene Überzeugung, dass die Geschichte des Christentums eine Geschichte der Skandale ist, erschüttert tatsächlich den Kern des christlichen Glaubens. Denn eine Religion, die an die Mensch-Werdung, also an die Geschichte-Werdung Gottes selbst glaubt, liefert sich rückhaltlos der kritischen Beurteilung dieser Geschichte aus. Und dieses Urteil ist vernichtend. »Der Fluch des Christentums« betitelte der namhafte Philosoph Herbert Schnädelbach im Jahre 2000 einen aufsehenerregenden Text, der in dem Satz gipfelte, das Beste, was das Christentum für die Menschheit tun könne, wäre: sich auflösen! Und die Gründe, die der Philosoph für dieses Todesurteil vorbrachte, waren nicht vor allem philosophische oder theologische Gründe. Schnädelbach äußerte keine Zweifel an der Dreifaltigkeit oder an der Menschwerdung Gottes, sondern er argumentierte fast ausschließlich geschichtlich. Dabei bezog er sich nicht auf irgendwelche historischen Studien, sondern er konnte sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die skandalöse Christentumsgeschichte stützen. Was dieser hochgebildete Philosoph da über die empörenden Kreuzzüge, die brutale Inquisition und den verheerenden Antisemitismus anführte, präsentierte er unbefangen als genauso unbestreitbar, wie man heute selbstverständlich davon ausgeht, dass der Mond um die Erde kreist und der Mount Everest der höchste Berg unseres Planeten ist. Auch dafür braucht man keine Belege. Insofern sprach dieser Text nur prägnant aus, was ohnehin alle dachten.

Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war das ein engagierter Nachruf auf das Christentum.

Das hätte es dann gewesen sein können. Wie beim Kommunismus gibt es zwar immer einige, die die Signale nicht hören und betriebsblind nostalgisch unentwegt so weitermachen, als sei nichts geschehen. In Wahrheit aber ging der Text von Schnädelbach an die Substanz der christlichen Religion. Wenn Schnädelbach recht hatte, war das Christentum zweitausend Jahre nach seinem Beginn wirklich am Ende.

Aber hatte er recht? Was sich nach Veröffentlichung dieses Textes abspielte, war spektakulär und völlig unerwartet: Ein international renommierter Historiker nahm die Herausforderung an und ging den Vorwürfen Schnädelbachs auf dem Stand der heutigen Wissenschaft akribisch auf den Grund. Was stimmte und was stimmte nicht? Dieser Historiker heißt Arnold Angenendt, und er legte 2007 ein gewaltiges Werk vor: »Toleranz und Gewalt – Das Christentum zwischen Bibel und Schwert« heißt das Buch, und es ist seitdem ein Standardwerk für alle, die sich kritisch mit Christentum und Kirche auseinandersetzen wollen. Der wissenschaftlichen Gründlichkeit von Angenendt gelang dabei etwas ganz Seltenes. Er überzeugte mit nüchterner Aufklärung und erreichte, dass Herbert Schnädelbach sich korrigierte. Er bedankte sich bei Arnold Angenendt, »der mir einige optische Verzerrungen meines Rückblicks nachwies«. Es stellte sich heraus, dass landläufige Auffassungen über die Geschichte des Christentums der seriösen wissenschaftlichen Untersuchung einfach nicht standhielten.

Allerdings sind diese erstaunlichen Ergebnisse noch keineswegs ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Denn ein wissenschaftliches Werk von 800 Seiten mit über 3000 Anmerkungen nimmt wohl nur der zur Hand, der dem Christentum aus welchen Gründen auch immer besonders verbunden ist, und sei es auch nur, weil er es hasst.

Daher stellte sich die Frage, ob es nicht der Mühe wert sei, die entscheidenden Ergebnisse der Angenendt’schen Studie einer breiteren Öffentlichkeit in lesbarerer Form zugänglich zu machen. Denn was einem hochgebildeten Menschen wie Herbert Schnädelbach passierte, dass er nämlich gewisse falsche allgemeine Auffassungen vom Christentum für unbezweifelbar wahr hielt, das geht ja den meisten Menschen so. Gefragt ist also schlicht Aufklärung im besten Sinne.

Solche Aufklärung ist deswegen dringend nötig, weil der Wegfall des Christentums als verbindende Kraft die ganze Gesellschaft in eine schwere Krise gestürzt hat. Von Linksaußen bis Rechtsaußen wird das unumwunden zugegeben. Der Linkenvorsitzende Gregor Gysi erklärte in der Evangelischen Akademie in Tutzing, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhandenkommen könne, Sozialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum. Und bei der Vorstellung meines Buches »Gott – Eine kleine Geschichte des Größten«, erklärte er freimütig, für die Wertefrage in unserer Gesellschaft sei die Linke noch auf Jahrzehnte diskreditiert. Die einzigen Institutionen, die für die Wertefrage noch relevant seien, seien die christlichen Kirchen. Und wenn Atheismus bedeute, gegen die Kirche zu sein, dann sei er kein Atheist, dann sei er Heide, zu dem der Glaube noch nicht gekommen sei. Merkwürdigerweise lassen aber auch die Rechten von »Pegida« ausdrücklich das christliche Abendland hochleben, selbst wenn sie das Christentum so wenig kennen, dass sie in der Adventszeit lauthals Weihnachtslieder singen.

Doch in Wirklichkeit wird hier eine leere Hülle beschworen. Das Christentum selbst hat sich nicht in 70 Jahren wie der Kommunismus, sondern in zweitausend Jahren offenbar so weit diskreditiert, dass auch die, die es beschwören, kaum sagen können, was sie denn für so erhaltenswert am Christentum halten – wenn man einmal von einigen humanistischen Haltungen absieht, die aber auch der redliche Atheist ohne Weiteres an den Tag legt. Aufklärung über das Christentum müsste also jedem am Herzen liegen, der sich um diese Gesellschaft sorgt, auch dem vernünftigen Atheisten.

Jürgen Habermas, Deutschlands bekanntester Philosoph, der sich selbst für »religiös unmusikalisch« erklärt hat, forderte deswegen mit dramatischen Worten zumindest »rettende Übersetzungen« der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Nur so, glaubt Habermas, könne man die allgemeine Akzeptanz des Menschenwürde-Begriffs, des zentralen Begriffs unserer Gesellschaftsordnung, weiter sicherstellen. Und er wünscht sich Christen, die im öffentlichen Diskurs als religiöse Bürger wahrgenommen werden. Doch dieser fromme Wunsch eines Agnostikers trifft auf Christen, die dazu neigen, ihren Glauben eher als Privatsache zu beschweigen. Vor allem eben, weil sie sich für die Geschichte des Christentums schämen.

Diese Scham hat auch damit zu tun, dass die Christen selbst sich ihrer Skandalgeschichte mit zwei Methoden gestellt haben, die beide nicht wirklich überzeugen. Die einen haben sich nach Kräften bemüht, die Geschichte des Christentums apologetisch reinzuwaschen und jegliches kirchliche Versagen...

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