Mutterland

Mutterland

von: Paul Theroux

Hoffmann und Campe, 2018

ISBN: 9783455002911

Sprache: Deutsch

656 Seiten, Download: 1052 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mutterland



Teil I


1 Mutter des Jahres


Wetter ist Erinnerung. Sogar der Wind spielt eine Rolle. Das Rauschen des Regens kann Erinnerungen auslösen, ebenso wie ein bestimmtes Licht. Man braucht keinen Kalender, um sich an persönliche Krisen zu erinnern. Man kann sie riechen, sie auf der Haut fühlen, sie schmecken. Wenn man Jahr für Jahr immer am gleichen Ort lebt, bekommt das Wetter eine Bedeutung, es ist voller Omen, und an jedem Jahrestag rufen die Temperatur, das Sonnenlicht, die Bäume und Blätter Gefühle hervor. Alle religiösen Feste verlaufen nach diesem Prinzip der Vertrautheit mit dem Wetter: Sie haben ihren Ursprung in einer Jahreszeit, an einem bestimmten Tag.

An jenem schönen Morgen im Mai wurden wir alle nach Hause gerufen und erfuhren, dass Vater krank war. Mutter – sparsam sogar in Notfällen – führte selten Ferngespräche, deshalb konnte dieser teure Anruf nur bedeuten, dass Vater im Sterben lag und wir für die Totenwache zusammengetrommelt wurden. Ein denkwürdiges Ritual schon als solches.

Eine Familie ist wie ein fernes Land, aus dem jemand kommt. Unseres war völlig abgelegen und hatte seine eigenen Sitten und Grausamkeiten. Niemand kannte uns, und wir vermieden es, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Deshalb sagte ich mir, dass ich zum geeigneten Zeitpunkt meine Familie – das »Mutterland« in jeder Hinsicht – auf der Landkarte einzeichnen würde.

Wir waren acht Kinder, eines davon tot. Unsere Eltern waren streng, eine Folge der harten Arbeit und der Angst vor der Verelendung, die sie in der Weltwirtschaftskrise kennengelernt hatten. Uns kamen sie uralt vor, aber solange sie in unserem Leben waren, ganz gleich wie tatterig, blieben wir ihre kleinen, ungezogenen Kinder, auch als Mutter schon ein lebendes Fossil war. Im Alter lebten wir unsere wahre, schreckliche Kindheit aus – komische Käuze unter der Fuchtel ihrer selbstherrlichen Mutter.

Dass zwei von uns Schriftsteller waren, war den anderen ein Dorn im Auge und oft auch peinlich, da Schreiben in der Familie kein Ansehen genoss. Schriftsteller war für sie gleichbedeutend mit Faulheit. Man nahm mir das, was ich schrieb, übel. Ich bezweifle, dass mein Schreiben in dieser Familiengeschichte eine große Rolle spielen wird, außer wo sie zufällig ein Problem für die anderen wird. Mir geht es hier um das Leben, das ich gelebt habe, als bei mir noch Fluchtgefahr bestand, die Zeit, bevor ich mit ungefähr achtzehn von zu Hause wegging, und die Zeit, als ich vierzig Jahre später zurückkehrte, um Tod, Versagen und Verwirrung gegenüberzustehen – der Anfang und das Ende. Nicht die Bücher meines Lebens, sondern die Buchstützen.

Als ich noch sehr klein war, pflegte meine Mutter mir mit strahlendem Lächeln die Geschichte eines Mannes zu erzählen, der gehängt werden sollte. Als letzte Bitte äußerte er: »Ich will mit meiner Mutter sprechen«. Sie wurde zum Galgen gebracht, wo ihr Sohn bereits in Handschellen stand. »Komm näher, Mutter«, sagte er, und als sie den Kopf zu ihm neigte, tat er so, als wolle er vertraulich mit ihr sprechen, und biss sie ins Ohr. Als sie vor Schmerzen schrie, spuckte der Verurteilte das Stück Ohr aus und sagte: »Du bist der Grund, warum ich hier bin und gleich sterben muss!«

Wenn sie diese Geschichte erzählte, faltete meine Mutter die Hände im Schoß und nickte zufrieden. Wollte sie mir damit sagen, dass ich besser dran war als dieser Mann, dass sie nicht so eine Mutter war? Oder fand sie, ich sei zu stolz und störrisch? Ich wusste nicht, warum, aber die Geschichte machte mir Angst, weil ich mich oft wie jener verurteilte Mann fühlte, jemand, der bestraft werden musste, ein Kind unter verstockten Kindern, ein potenzieller Ohr-Abbeißer.

Sechzig Jahre später benahmen wir uns noch immer gleich – streitsüchtig und von Neid zerfressen wie eh und je. Die Rangeleien nahmen kein Ende. Schubsende, drängelnde, alternde, dickbäuchige Kinder mit Glatzköpfen und ersten Gebrechen, die übereinander lästerten und drohend mit dicken Fingern wackelten. Als wir älter waren, gab es viel mehr, über das man lästern konnte.

Unser kindisches Verhalten war so offensichtlich, dass Floyd einmal sagte: »Wer war noch mal der versonnene französische Philosoph, der von der ›ewigen Kindheit‹ sprach? Eine bewegungslose, ewige Kindheit im Mantel der Geschichte. Niemand in dieser Familie hat natürlich eine Ahnung! Pecos Bill? Zeit ist der Erz-Satiriker. Nein, es war Gaston Bachelard.«

Wir alle hatten den gleichen Vater. Er war eine feste Größe, wenn auch oft krank. Er war ein zwanghafter Geizkragen. Sparen war seine Obsession. Er teilte einen Streifen Kaugummi in der Mitte durch, weil es nutzloser Luxus war, einen ganzen Streifen zu kauen. Er sammelte Bindfäden, rostige Nägel und Schrauben in einer Dose, sammelte alte Holzbretter, einfach alles. Gegen Ende seines Lebens entwickelte er eine große Vorliebe für die städtische Müllhalde und die Schätze, die er dort fand. Zur Müllhalde zu gehen war für ihn wie ein Sonntagsspaziergang. Wenn er aufbrach, lächelte er, als ginge er zu Filene’s Basement, wo es immer Sonderangebote gab. Er nahm den vollen Mülleimer und trug ihn zur Müllhalde, brachte ihn aber halb gefüllt mit allen möglichen Fundstücken zurück. Die Müllhalde war einer seiner Treffpunkte. Er hatte Freunde dort. Der andere Treffpunkt war die Kirche. Eine Kindheit in Armut hatte ihn mit einer schwelenden Krankheit geschlagen. Er trug sie sein ganzes Leben lang in sich. Doch er war dankbar, am Leben zu sein.

Mutter war undurchschaubar und rätselhaft, manchmal uneinsichtig, wie eine zornige Gottheit. Unsicher in ihrer Macht besaß sie eine ungeduldige, fordernde Grausamkeit, die aus einem anderen Jahrhundert, einer anderen Kultur zu stammen schien und nie befriedigt war. Das machte sie zu einem notorischen Spielverderber. In ihren Widersprüchlichkeiten, ihren Launen, ihrer Ungerechtigkeit, ihrer Illoyalität und ihrer Willkür war sie zu jedem von uns anders: Jeder musste mit seiner eigenen Version von ihr klarkommen, jeder hatte eine andere Mutter oder übersetzte sie, so wie ich es jetzt tue, in sein ganz eigenes Idiom. Fred könnte zum Beispiel dieses Buch lesen und sagen: »Wer ist diese Frau?« Franny oder Rose hätten bestimmt Einwände. Hubby würde knurren: »Du Vollidiot.« Gilbert kannte die Frau nicht, die mich großgezogen hat. Aber Floyd, der andere Schriftsteller in der Familie, wusste, wovon ich sprach, und wenn wir miteinander redeten, ballte er die Faust und sagte: »Die Furien! Der Verrat! Der Kannibalismus! Es ist das Haus des Atreus!«

Mutters Geschichten und Vertraulichkeiten variierten, je nachdem mit welchem Kind sie redete. Ich hätte schon früh darauf kommen können, weil sie uns für gewöhnlich immer nur einzeln empfing. Sie ermutigte uns, sie einzeln zu besuchen, und deutete an, dass sie es liebte, mit Geschenken überrascht zu werden. Aber ihr bevorzugtes Kommunikationsmittel war das Telefon. Es kam ihrem Bedürfnis nach Geheimniskrämerei und Manipulation entgegen. Sie wurde gerne vom Klingeln des Telefons überrascht, liebte die Unberechenbarkeit des Gesprächs, die Macht aufzulegen. In sieben Telefonaten – bedürftige Leute sind chronische Telefonierer – erzählte sie sieben unterschiedliche Versionen ihres Tages.

Vielleicht war Fred am Telefon, das einzige Kind, dem sie sich unterordnete. Er war Anwalt, mit der typischen Verbindlichkeit eines Anwalts und der Fähigkeit, zwei gegensätzliche Ansichten im Kopf zu haben, an die er beide nicht glaubte. Sie schüttete ihm ihr Herz aus, und er sagte: »Genau so solltest du es tun, Ma«, und im selben Atemzug: »Oder du könntest es so machen.« Später wurde er zu ihrem Berater, ihrem Verteidiger, ihrem Welterklärer.

Vielleicht rief auch Floyd an, der zweitälteste, den sie verachtete und fürchtete. Über ihn sagte sie: »Er hatte immer unrecht.« Er war Universitätsprofessor und ein gefeierter Lyriker. Floyd pflegte zu sagen: »Kunst ist das Paradies, in dem Adam und Eva die Schlange essen.«

Oder die Schwestern, Franny oder Rose, beide korpulent und atemlos wie diese anonymen, erschreckten Augenzeugen im Fernsehen, die keuchen: »Ich wohne schon mein ganzes Leben lang hier, und so etwas habe ich noch nie gesehen!« Beide waren Grundschullehrerinnen und redeten mit jedem, als sei er ein Kind.

Oder Hubby, der Grübler, von dem Mutter sagte: »Er ist so geschickt mit den Händen«. Er war Krankenpfleger in der Notaufnahme und besaß einen unerschöpflichen Fundus an grausigen Geschichten.

Oder Gilbert, ihr Liebling, Diplomat, auf eine fröhliche Art unaufrichtig. »Er hat so viel zu tun, der arme Junge, aber ich bin stolz auf ihn.« Mutter konnte ihm nichts abschlagen.

Oder ich. Von Geburt an wurde ich nur JP genannt. Mutter war misstrauisch mir gegenüber und kniff verunsichert die Augen zusammen, wenn ich sie besuchte. Von der ersten Minute an wartete sie ungeduldig darauf, dass ich wieder ging. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn ich Arzt geworden wäre. Dass ich Schriftsteller war, hat ihr nie gefallen. Wenn jemand eines meiner Bücher lobte, sagte sie: »Na, so was.« Wie jemand, den man stupst, weil er eingeschlafen ist.

Mutter redete auch mit Angela – indem sie betete. Angela war das tote Kind. Sie war bei der Geburt gestorben, war kaum eine Stunde alt, als ihr Leben erlosch. Aber sie hatte einen Namen. (»Sie war wie ein Engel.«) Sie hatte eine Persönlichkeit, gewisse liebenswerte Marotten und war Teil der Familie. Oft wurde Angela geradezu als Wunderkind hingestellt, an dem wir uns ein Beispiel nehmen sollten.

»Du weißt bestimmt,...

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