Was Fische wissen - Wie sie lieben, spielen, planen: unsere Verwandten unter Wasser

Was Fische wissen - Wie sie lieben, spielen, planen: unsere Verwandten unter Wasser

von: Jonathan Balcombe

mareverlag, 2018

ISBN: 9783866483422

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 509 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Was Fische wissen - Wie sie lieben, spielen, planen: unsere Verwandten unter Wasser



PROLOG


Als ich acht Jahre alt war, stieg ich mit dem Leiter eines Sommercamps nördlich von Toronto in ein Aluminiumboot. Er ruderte im flachen Wasser der Bucht eine Viertelmeile weit hinaus, wo wir die nächsten zwei Stunden mit fischen zubrachten. Es war ein ruhiger Sommerabend, und das Wasser lag da wie Glas. Ich saß zum ersten Mal in einem so kleinen Boot, und es war herrlich, auf der sanft bewegten dunklen Weite zu treiben. Ich fragte mich, welche Wesen wohl unter der Oberfläche lauerten, was meine Aufregung noch steigerte, wenn ein plötzlicher Ruck an meiner primitiven Angel – einem entlaubten Zweig mit Leine und Haken – anzeigte, dass ein Fisch angebissen hatte.

Ich fing an diesem Tag sechzehn Fische. Manche warfen wir wieder ins Wasser. Einige andere, große Barsche, behielten wir für das Frühstück am nächsten Morgen. Mr Nelson erledigte die ganze schmutzige Arbeit, er bestückte die Angel mit sich windenden Regenwürmern, drehte den Widerhaken aus den Lippen der Fische und stieß ihnen sein Messer in den Schädel, um sie zu töten. Sein Gesicht verzog sich dabei so eigenartig, dass ich mich fragte, ob er Ekel empfand oder sich lediglich stark konzentrierte.

Ich erinnere mich gern an dieses Erlebnis. Aber als sensibler Junge mit einer Schwäche für Tiere verstörte mich vieles, was in diesem Ruderboot vor sich ging. Im Stillen taten mir die Würmer leid. Ich machte mir Sorgen, ob denn die Fische keine Schmerzen empfanden, wenn ihnen der Haken aus dem knöchern starrenden Gesicht gezogen wurde. Vielleicht hatte ja einer von denen, die wir behalten hatten, den Stoß mit der Klinge überlebt und verendete gerade in dem Drahtkorb, der über den Bootsrand baumelte. Doch der nette ältere Mann im Bug hatte offenbar keine Bedenken, daher schloss ich, dass alles in Ordnung sein musste. Und der Geschmack von frischem Fisch beim Frühstück am nächsten Morgen verdrängte die Sorgen des vorherigen Abends bis auf eine schwache Ahnung.

Das war nicht meine einzige Kindheitsbegegnung mit Fischen, die widersprüchliche Gefühle über den Rang unserer wechselwarmen Verwandten in unserem moralischen Gefüge bei mir aufkommen ließ. Im vierten Schuljahr gehörte ich zu einer kleinen Gruppe Kinder, die in meiner Grundschule in Toronto den Auftrag bekommen hatten, ein paar Lehrmittel von unserem Klassenzimmer in einen Nebenraum zu bringen. Darunter war auch ein Goldfischglas mit einem einsamen Goldfisch. Das Gefäß war zu drei Vierteln mit Wasser gefüllt und recht schwer. Damit der Fisch bloß niemandem in die Hände fiel, der vielleicht weniger gut auf ihn aufpasste als ich, übernahm ich freiwillig die Aufgabe, das Glas an sein Ziel zu bringen: auf einen Tisch beim Waschbecken.

Welche Ironie des Schicksals.

Ich hielt das Glas fest in meinen Kinderhänden und ging Schritt für Schritt durch die Tür, den Gang hinunter und in den anderen Raum. Als ich mich behutsam dem Tisch näherte, rutschte mir das Glas aus den Fingern und zersprang auf dem harten Boden. Wie in Zeitlupe lief das Grauen vor mir ab. Glas zersplitterte, und Wasser schoss über den Boden. Ich stand wie gelähmt da. Jemand, der bei klarerem Verstand war, schnappte sich einen Mopp und wischte Scherben und Wasser beiseite, dann suchten wir zu viert den Boden nach dem Fisch ab. Eine Minute verging, aber keine Spur von ihm. Es war wie in einem Albtraum. Es schien, als wäre er der irdischen Goldfischwelt entrückt und ins Himmelreich der Fische aufgefahren. Endlich fand ihn jemand. Er war hinter die Heizung gerutscht und fünf Zentimeter über dem Boden auf einem Vorsprung des Heizkörpers gelandet, wo man ihn nicht sehen konnte. Er lebte noch und starrte geschwächt ins Leere. Schnell wurde er in einen Becher mit Leitungswasser geworfen. Soweit ich weiß, hat dieser Fisch überlebt.

Obwohl der Zwischenfall mit dem Goldfisch mich offenbar tief beeindruckt hat, wie meine lebhafte Erinnerung noch vier Jahrzehnte später beweist, entwickelte ich dadurch noch kein neues Mitgefühl für Fische. Am Angeln habe ich allerdings nie größeren Gefallen gefunden: Der kleine Rest Begeisterung nach dem Ausflug mit Mr Nelson war schnell dahin, als es ans Befestigen der Köder und ans selbstständige Herausziehen der Haken ging. Aber ich brachte weder die Barsche, die ich so jäh aus der Sturgeon Bay gezerrt hatte, noch den unglücklichen kleinen Goldfisch, der mir in der Edithvale Elementary School heruntergefallen war, mit dem anonymen Fisch zusammen, der bei Familienausflügen zum nächsten McDonald’s in den leckeren Filet-o-Fish-Burgern steckte. Das war in den späten Sechzigerjahren, als McDonald’s sich bereits mit dem Slogan »over one billion served« brüstete. Damit konnten sowohl über eine Milliarde Fische oder Hühner gemeint sein, die über die Theke gingen, als auch die gleiche Anzahl Gäste vor der Theke. Aber wie in meinem Kulturkreis üblich, blieb mir gnädigerweise der Bezug zu den ehemals atmenden Lebewesen, die bei mir als Mittagessen auf den Tisch kamen, erspart.

Erst als ich zwölf Jahre später, im letzten Jahr meines Biologiestudiums, einen Ichthyologie-Kurs belegte, fing ich an, meine Beziehung zu Fischen und anderen Tieren ernsthaft zu hinterfragen. Ich war ebenso fasziniert von der vielfältigen Anatomie und den Anpassungen der Fische an ihre Lebensräume, wie mich die lange Reihe der reglosen, einst lebendigen Körper verstörte, die wir mithilfe unserer Seziermikroskope und Artenschlüssel bestimmen sollten. Während des Semesters machte der Kurs eine Exkursion ins Royal Ontario Museum, wo uns einer der führenden Fischkundler Kanadas außer der Reihe durch die ichthyologische Sammlung des Museums führte. Irgendwann schloss er eine große Holzkiste auf und öffnete den Deckel, unter dem eine enorme Seeforelle in einem öligen Konservierungsmittel trieb. Mit ihrem Rekordgewicht von rund 47 Kilogramm war sie 1962 im Lake Athabasca gefangen worden. Ihre Größe und ihr Körperbau wurden einem Hormonungleichgewicht zugeschrieben, das sie steril gemacht hatte; die Energie, die normalerweise in die aufwendige Laichproduktion geflossen wäre, war stattdessen der Körpermasse zugutegekommen.

Ich empfand Mitgefühl für diesen Fisch. Er war namenlos, wie die meisten, denen wir begegnen, und seine Lebensgeschichte blieb ein Geheimnis. Wie ich fand, verdiente er eine würdevollere Existenz, als in einer Holzkiste begraben zu sein. Ich hätte es vorgezogen, dass er gegessen worden wäre, dass sein Körpergewebe zurück in den Kreislauf der Nahrungsketten geflossen wäre, statt jahrzehntelang, verseucht von Chemikalien, im Dunkel zu treiben.

Tausende Bücher sind über Fische geschrieben worden, ihre Vielfalt, ihre Ökologie, ihre Fruchtbarkeit, ihre Überlebensstrategien. Und sicher lassen sich einige Regale füllen mit Büchern und Zeitschriften darüber, wie man Fische fängt. Doch bis heute ist kein Buch im Namen der Fische geschrieben worden. Ich rede dabei nicht von den Erklärungen der Umweltschützer, die das Schicksal bedrohter Arten oder die übermäßige Ausbeutung der Fischbestände anprangern (ist Ihnen übrigens schon einmal aufgefallen, dass der Ausdruck »übermäßige Ausbeutung« die Ausbeutung an sich legitimiert und dass »Bestände« Tiere zu einer Ware, vergleichbar mit Weizen, herabsetzt, deren einziger Zweck die Versorgung des Menschen ist?). Mein Buch hat zum Ziel, den Fischen auf eine Weise eine Stimme zu geben, wie es bislang nicht möglich gewesen ist. Dank verschiedener Durchbrüche in der Verhaltensforschung, Soziobiologie, Neurobiologie und Ökologie können wir heute besser als je zuvor verstehen, wie die Welt in den Augen der Fische aussieht, wie Fische die Welt sehen, fühlen und erfahren.

Bei den Recherchen zu diesem Buch habe ich den Plan verfolgt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse durch Geschichten von Begegnungen zwischen Mensch und Fisch aufzulockern. Anekdoten sind unter Wissenschaftlern nicht sonderlich angesehen, doch sie vermitteln einen Eindruck davon, welche Fähigkeiten, die noch wissenschaftlich zu erkunden sind, in Tieren schlummern, und sie können zu einem gründlicheren Nachdenken über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier anregen.

Dieses Buch stellt eine simple Hypothese von weitreichender Bedeutung vor. Die simple Hypothese lautet, dass Fische Individuen sind, deren Leben einen Eigenwert besitzt – unabhängig vom Nutzwert, den sie für uns etwa als Quelle für Profit oder als Mittel zur Unterhaltung haben mögen.1 Die weitreichende Bedeutung dessen besteht darin, dass sie damit berechtigt wären, in unsere Moralgemeinschaft aufgenommen zu werden.

Warum sich darüber Gedanken machen? Dafür gibt es zwei wichtige Gründe. Erstens bilden Fische zusammengenommen die am stärksten ausgebeutete Wirbeltierklasse der Erde (bis hin zur »übermäßigen Ausbeutung«). Und zweitens ist die Forschung, die sich mit dem Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen der Fische beschäftigt, inzwischen so weit fortgeschritten, dass es Zeit...

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