Die Frau, die liebte - Roman

Die Frau, die liebte - Roman

von: Janet Lewis

dtv, 2018

ISBN: 9783423433785

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 998 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Frau, die liebte - Roman



1 ARTIGUES


An einem Vormittag im Januar 1539 wurde in dem Dorf Artigues Hochzeit gefeiert. In der Nacht lagen die beiden Kinder, die miteinander vermählt worden waren, im Elternhaus des Bräutigams zusammen im Bett. Die zwei waren Bertrande de Rols, elf Jahre alt, und Martin Guerre, der auch nicht älter war, beides Kinder reicher Großbauern, die so altehrwürdig, so feudal und stolz waren wie alle Großbauern der Gascogne. Im Zimmer war es kalt. Draußen lag der Schnee in einer dünnen Decke auf dem steinigen Boden, doch in manchen Ecken war er zusammengeweht worden, und davor blieb die Erde schneefrei. In höheren Lagen bedeckte er große Flächen und türmte sich zu Schneedünen auf, er säumte die Kämme und füllte die waldigen Täler hin zu den Gipfeln von La Bacanère und der langen Kammlinie von Le Burat, und nach Süden hin, jenseits des langen Tals von Luchon, stand der Granitgipfel des Maladetta, umhüllt von Eis und Schnee. Die Pässe nach Spanien waren unter dem Weiß begraben. Zur Winterzeit bildeten die Pyrenäen eine unüberwindbare Mauer. Die Spanier, die nach den ersten heftigen Schneefällen im September noch auf der französischen Seite waren, blieben dort, und die Franzosen, ob Schmuggler, Soldaten oder einfache Reisende, die auf der falschen Seite von Port de Venasque feststeckten, mussten bis zum Frühling dort verweilen. Mit den Schafen im Pferch, dem Vieh im Stall und den Reisigbündeln, die hoch entlang der Mauern der Hofgebäude gestapelt waren, verharrten die Bewohner der Bergdörfer in erzwungener Untätigkeit und Abgeschiedenheit. In diesen Monaten hatte man Muße, Hochzeiten zu feiern.

Bertrande hatte Martin in ihrem Leben schon oft gesehen, aber noch nie mit ihm gesprochen, und bis zum Abend zuvor hatte sie nicht gewusst, dass die Heirat beschlossen worden war. Am Morgen hatte sie mit Martin vor seinem Vater gekniet und war dann tapfer in einem neuen roten Cape, begleitet von vielen Freunden und Verwandten und zum Klang einiger Geigen, neben ihm durch den Schnee zur Kirche von Artigues gegangen, wo die Eheschließung vollzogen wurde. Sie hatte die ganze Zeremonie als so ernst empfunden wie die Erstkommunion.

Danach war sie, immer noch von Geigentönen begleitet, die in der kalten Luft dünn und scharf klangen, zum Haus ihres Gemahls zurückgekehrt, wo in dem großen, mit Weinlaub umrankten Kamin ein riesiges Feuer aus Eichenscheiten brannte und in der Küche, dem Mittelpunkt des Hauses, Tische aus Böcken und langen Planken aufgestellt waren. Die Steinplatten des Fußbodens waren mit Efeu- und Lorbeerblättern frisch bestreut. Im Widerschein der Flammen funkelten die Kupfertöpfe rötlich, und das reiche Aroma von Braten und frisch eingeschenktem Wein würzte die Luft. Der Schnee schmolz von den Holzpantinen, Tauwasser sammelte sich unter dem Grünzeug auf dem Boden. Der Geruch von Menschen und dampfender Wolle vermischte sich mit dem der Speisen, und der Raum erschallte vom Lärm der Stimmen.

Es war ein frohes, ein bedeutungsvolles Ereignis. Alle freuten sich über die Maßen, wenngleich der kleinen Braut recht wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Nach den Umarmungen und Komplimenten zu Beginn saß Bertrande neben ihrer Mutter an einem der langen Tische und aß, was die Mutter ihr von den großen Platten auftat. Hin und wieder spürte sie den Arm der Mutter, der sich warm um ihre Schultern stahl, und spürte den Druck, mit dem die Mutter sie stolz und wie zur Bekräftigung an die Brust drückte, doch im Verlauf des Festessens wurde die Mutter zunehmend in das Gespräch zwischen dem Priester, der ihnen am Tisch gegenübersaß, und dem Vater des Bräutigams, der auf der anderen Seite saß, einbezogen, so dass Bertrande inmitten dieser angeblich ihr zu Ehren ausgerichteten Feierlichkeiten nicht weiter beachtet wurde, und sie konnte sich ausgiebig im Raum umsehen und den wolligen Pyrenäen-Schäferhund mit dem langen Schwanz, der unter dem Tisch seine Schnauze auf ihren Schoß gelegt hatte, mit harten, in Bratenfett gestippten Brotkanten füttern. Als nach und nach Suppe und Braten abgeräumt und stattdessen gekochte Kastanien mit Honig, Käse und getrocknete Früchte aufgetischt wurden, verließ Bertrande ihren Platz und begann, den Raum zu erforschen.

Hinter dem Tisch, an dem sie gesessen hatte, standen die Betten, Fußende an Kopfende, und die Vorhänge aus derber gelber Wolle waren fest darumgezogen, so dass jedes Bett für sich in einem Abteil stand. Das Kind bewegte sich entlang der Vorhänge, vorbei an den kräftigen Rücken der Feiernden zum anderen Ende des Raumes, stellte sich an den hohen Geschirrschrank und beobachtete von dort das Treiben. An der Wand ihr gegenüber nahm der rußgeschwärzte Kamin bestimmt ein Drittel der Fläche ein, und bei dem hellen Schein der hoch lodernden Flammen versanken die Zimmerecken auf beiden Seiten in undeutlichem Halbdunkel. In der Mitte der Wand zur Rechten erspähte Bertrande eine Tür, auf die sie jetzt langsam zuging. Sie entdeckte, dass dies der Eingang zu einem langen kalten Flur war, von dem Türen in Vorratsräume und Kammern für die Hirten abgingen und in den nur durch ein kleines Fenster Licht fiel, dessen Läden jedoch geschlossen waren. Noch jemand hatte sich von den Feierlichkeiten hierher zurückgezogen, jemand, der fest entschlossen war, die Riegel der Läden zu öffnen. Nachdem er einen der Fensterläden aufgeklappt hatte, strömte kaltes, schneeiges Sonnenlicht in den Flur, und in der Helligkeit sah Bertrande, dass es Martin war. Sie machte zögernd einen Schritt, und als Martin das Geräusch hörte, drehte er sich um und kam mit ausgestreckten Händen und einem furchterregenden Ausdruck auf seinem langen Jungengesicht auf sie zu. Verheiratet zu werden hatte ihm nicht gefallen, und um sein Missfallen auszudrücken, aber auch seine Macht, die seine neue Stellung ihm verlieh, gab er Bertrande jetzt eine Ohrfeige, kratzte sie im Gesicht und zog sie an den Haaren, alles ohne ein Wort. Auf ihre Schreie hin kam eine Retterin: die Schwester von Bertrandes Mutter, die den Bräutigam zurechtwies und die Braut wieder mit in die Küche nahm, wo das Mädchen blieb, bis es an der Zeit war, dass ihre Mutter und ihre Schwiegermutter sie in das Zimmer der Brautleute führten, das der Küche gegenüberlag und wo das große Bett stand, das jetzt den Formalitäten der Heirat gewidmet war.

Bertrande wurde entkleidet, man zog ihr ein Nachtgewand an, dazu bekam sie eine Nachthaube. Martin wurde hereingeführt und ebenso angekleidet, und die beiden Kinder wurden in Gegenwart der gesamten Hochzeitsgesellschaft zu Bett gebracht. In Anbetracht der Jugend der Brautleute blieb jedoch der Vorhang aus dichter Serge offen, und eine an der Wand befestigte Fackel durfte weiterbrennen.

Die Gäste blieben eine Weile im Zimmer, lachten und scherzten, wie man das zu tun pflegt, während die Kinder ohne sich anzusehen ganz still im Bett lagen. Nach und nach verzog sich die Hochzeitsgesellschaft wieder in die Küche; als Letzter blieb Martin Guerres Vater in der Tür stehen und wünschte den Kindern in aller Form eine gute Nacht. Bertrande sah seine Züge, die im Schein der Fackel übertrieben wirkten und von großer Ernsthaftigkeit geprägt waren, und die Tatsache, dass ihr Leben fortan unter seiner Hoheit stand, wurde dem Mädchen plötzlich und nachdrücklich bewusst. Die Tür schloss sich hinter ihm. Die Läden vor der scheibenlosen Fensteröffnung waren verschlossen, aber ein Windzug blies durch die Ritzen herein und brachte die Flamme der Fackel zum Zittern. Sonst war die Luft still und tot. Kein Teppich lag auf dem Steinfußboden, und abgesehen von einigen mit Schnitzereien verzierten Truhen, die entlang der Wand standen, und dem großen Bett, in dem die Kinder lagen, gab es keine Möbel. Bertrande war müde und verängstigt. Sie wusste nicht, auf welche Gedanken Martin kommen würde und ob er ihr etwas antun wollte. Jetzt rührte er sich.

»Ich bin das alles leid«, sagte er, drehte sich auf seine Seite und vergrub den Kopf im Kissen. Bald hörte Bertrande seinen regelmäßigen Atem, und ohne sich zu regen, entspannte sie sich. Ihr würde nichts geschehen. Ihr Mann schlief.

Auf dem hohen Kissen liegend betrachtete sie die Fackel, das Flackern der Flamme, die brennenden Fädchen, die sich lösten und qualmend zu Boden fielen. Eins brauchte lange, bis es abfiel, es hielt fest, eine glühende Faser, und die Flamme zuckte und rauchte. Dann fiel es doch herunter. Die Wärme des mit Wollflocken gestopften Oberbetts umgab den kleinen dünnen Körper mit so etwas wie Geborgenheit, ein Gefühl fast so wie zu Hause. Die Fackel schien zu erlöschen. Das Kind döste ein.

Eine Stunde später ging die Tür auf, und eine große Gestalt in einem weiten braunen Wollgewand und einer gestärkten Haube aus weißem Leinen betrat das Zimmer mit einem Tablett, das sie gemessenen Schrittes zum Bett trug. Ob es das Gefühl war, dass ein Blick auf ihr ruhte, ob der Steinfußboden unter den Schritten gehallt oder das Silber auf dem Tablett leise geklirrt hatte – Bertrande erwachte, und als sie die Augen aufschlug, sah sie in das Viereck eines wohlwollenden Gesichts und die warmen braunen Augen einer Frau, die sie vage als Mitglied des Haushalts Guerre erkannte. Aber es war nicht das Gesicht ihrer Schwiegermutter, nein, es war das Gesicht der Dienerin, die in der Tür gestanden hatte, als die Hochzeitsgesellschaft aus der Kirche zum Haus der Guerres kam.

»Du bist wach. Das ist gut«, sagte die Frau mit einem Lächeln. »Gewiss würde der Junge, wenn er acht Jahre älter wäre, um diese Zeit nicht tief und fest schlafen.«

Sie stellte das Tablett aufs Bett, beugte sich über Bertrande und schüttelte Martin an der Schulter.

»Aber es ist doch noch nicht Morgen«, sagte Bertrande.

»Nein, mein Kind,...

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