Das terrestrische Manifest

Das terrestrische Manifest

von: Bruno Latour

Suhrkamp, 2018

ISBN: 9783518758045

Sprache: Deutsch

150 Seiten, Download: 7121 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das terrestrische Manifest



9.


Anzudeuten, wir verfügten über keinen genaueren Hinweis auf diesen dritten Attraktor außer durch diejenigen, die vor ihm fliehen, scheint lächerlich. Als ob uns Modernen nie bewusst gewesen wäre, in welchem groben Rahmen unser Handeln verläuft und welche Richtung unsere Geschichte allgemein einschlägt. Als ob wir das Ende des letzten Jahrhunderts hätten abwarten müssen, bis wir bemerkten, dass unsere Projekte gewissermaßen im Leeren schwebten.

Aber sind wir nicht doch genau mit dieser Situation konfrontiert? Das (Plus- wie Minus-)Globale, auf das hin wir uns bis dahin entwickelten, der Horizont, der uns in eine grenzenlose Globalisierung stürzen ließ (und, als Reaktion darauf, die Lokalitäten, die sich vermehrten, um diesem scheinbar unausweichlichen Schicksal zu entkommen): Alldem fehlte schon immer Bodenhaftung, Realität, konsistente Materialität.

Der verhängnisvolle Eindruck, dass die Politik sich aller Substanz entleert hat, dass sie an nichts mehr geknüpft ist, sinn- und orientierungslos, buchstäblich blöd wie gleichermaßen impotent geworden, gründet in nichts anderem als dieser fortschreitenden Entdeckung: Weder das Globale noch das Lokale haben materielle und dauerhafte Existenz.

Folgerichtig ähnelt der erste oben ausgemachte Vektor (Abbildung 1), diese gerade Linie, an der sich Rückschritte und Fortschritte feststellen ließen, einer Autobahn ohne Anfang und ohne Ende.

Dass die Situation sich trotz allem aufklärt, liegt daran, dass wir nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Verweigerung und Hinnahme der Modernisierung schweben, sondern, um 90 Grad gedreht, zwischen dem alten und einem neuen Vektor, vorwärts getrieben von zwei Zeitpfeilen, die nicht mehr in dieselbe Richtung verlaufen (Abbildung 4).

Die ganze Aufgabe ist nun herauszufinden, woraus dieses dritte Element besteht. Was könnte es anziehender machen als die beiden anderen – und warum erscheint es so vielen als abstoßend?

Die erste Schwierigkeit besteht darin, ihm einen Namen zu geben, einen, der nicht mit dem der beiden anderen Attraktoren verwechselt werden kann. »Erde«? Man wird glauben, es handele sich um den Planeten, aus dem Weltall gesehen, den berühmten »blauen Planeten«. »Natur«? Sie wäre viel zu umfänglich. »Gaia«? Das wäre es, aber es erforderte eine Unmenge Seiten, um genauer anzugeben, wie dieser Name zu verwenden ist. »Boden« lässt zu sehr an alte Ausprägungen lokaler Gegebenheiten denken. »Welt«, »Monde«, ja, sicher, allerdings besteht die Gefahr, sie mit früheren Erscheinungsformen der Globalisierung bzw. Mondialisierung zu verwechseln.

Nein, nötig ist ein Terminus, der die verblüffende Originalität (das verblüffende Alter) dieses Agens in sich umfasst. Nennen wir es vorerst das Terrestrische (in Großbuchstaben, um deutlich zu machen, dass es sich um ein bestimmtes Konzept handelt); und weiter, damit schon im Voraus klar wird, worauf man sich hinbewegt: das Terrestrische als neuer Politik-Akteur.

Was massiv verstört und zunächst nur hingenommen werden kann, betrifft in der Tat die Wirkmacht dieses Terrestrischen, das nicht mehr bloß das Dekor oder den Hintergrund des Handelns der Menschen bildet.

Von Geopolitik wird stets gesprochen, als ob das Präfix »geo-« lediglich den Rahmen darstellte, in dem sich politisches Handeln abspielt. Nun vollzieht sich eine Veränderung insoweit, als »geo-« von jetzt an einen Wirkfaktor bezeichnet, der uneingeschränkt an unserem öffentlichen Leben teilnimmt.

Die gegenwärtige Orientierungslosigkeit rührt daher, dass urplötzlich ein Akteur auf die Bühne tritt, der auf die Aktionen der Menschen reagiert und damit die Modernisierungsverfechter im Unklaren lässt, wo sie sich befinden, in welcher Epoche und, vor allem, welche Rolle sie von nun an darin spielen sollen.

Die geopolitischen Strategen, die sich stolz der »realistischen Schule« zurechnen, werden deshalb die Realität, mit denen sich ihre Schlachtpläne auseinanderzusetzen haben, etwas modifizieren müssen.

Abb. 4: Eine Neuausrichtung der Arena der Politik

Früher konnte man noch sagen, dass die Menschen »auf der Erde« leben oder »in der Natur«, dass sie sich »in der Neuzeit« befinden und als »Menschen« mehr oder minder »für ihre Taten verantwortlich« sind.

Es ließ sich eine »physische« und eine »Humangeografie« unterscheiden, als handelte es sich um zwei übereinandergelagerte Schichten. Aber wie kann angegeben werden, wo wir uns befinden, wenn dieses Etwas, »auf« oder »in« dem wir sitzen, auf unsere Handlungen zu reagieren beginnt, zu uns zurückkommt, uns umschließt, uns beherrscht, etwas von uns verlangt und uns in seinem Lauf mitreißt? Wie lässt sich unter diesen Umständen noch zwischen physischer Geografie und Humangeografie unterscheiden?

Solange die Erde noch stabil schien, konnte man von Raum sprechen und sich darin und auf einem Stück Territorium, das wir angeblich besetzt hatten, platzieren. Was aber soll man tun, wenn das Territorium selbst an der Geschichte teilzunehmen beginnt, Schlag auf Schlag zurückgibt, kurzum: sich mit uns beschäftigt? Die Bedeutung des Ausdrucks »Ich gehöre (zu) einem Territorium« hat sich gewandelt: Er bezeichnet jetzt die Instanz, die den Eigentümer in Besitz hat!

Das Terrestrische stellt nicht länger allein den Rahmen menschlichen Handelns dar, es ist vielmehr Teil davon. Der Raum ist nicht mehr der mit ihrem Raster aus Längen- und Breitengraden erfasste der Kartografie, sondern ist zu einer bewegten Geschichte geworden, in der wir selbst nur Beteiligte unter anderen sind, die auf Reaktionen anderer reagieren. Augenscheinlich landen wir mitten in der Geogeschichte.31

Sich in Richtung des Globalen aufmachen hieß, auf einen unendlichen Horizont zu immer weiter fortschreiten, eine endlose Grenze vor sich hertreiben; wandte man sich dagegen der anderen Seite zu, hin zum Lokalen, dann in der Hoffnung, die Sicherheit einer stabilen Grenze und die Geborgenheit einer festen Identität wiederzufinden.

Dass es uns heute so schwerfällt, zu erkennen, welcher Epoche wir angehören, rührt daher, dass dieser dritte Attraktor allen bekannt und zugleich vollkommen fremd ist.

Das Terrestrische ist zweifellos eine Neue Welt, ähnelt aber keineswegs der einst von den Modernen »entdeckten«, dann aber entvölkerten. Das ist keine neue Terra incognita für Forscher mit Kolonialhelm. Keinesfalls handelt es sich um eine res nullius, bereit zur Appropriation.

Im Gegenteil, die Modernen migrieren auf eine Erde zu, ein Terroir, einen Boden, einen Landstrich, ein Gelände, egal, wie man es nennen will, das bereits besetzt, seit je bevölkert ist. Und das, seit Kurzem, von einer Vielzahl derer wiederbevölkert wird, die lange vor den anderen gespürt haben, wie notwendig es war, sich schleunigst dem Gebot der Modernisierung zu entziehen.32

In dieser Welt befindet sich der moderne Geist gleichsam im Exil. Er wird lernen müssen, mit jenen zusammenzuleben, die er bisher als Altvordere, Traditionalisten, Reaktionäre oder schlicht als Lokalpatrioten betitelte.33

Doch so alt dieser Raum auch sein mag, er ist für alle neu, da es, verfolgt man die Diskussionen der Klimaspezialisten, für die gegenwärtige Situation schlicht keinen Präzedenzfall gibt. Da haben wir die wicked universality, den universellen Mangel an Erde.

Was wir Zivilisation, Kultur nennen, sagen wir die im Laufe der letzten zehn Jahrtausende angenommenen Gewohnheiten, hat sich, so erklären die Geologen, innerhalb eines erstaunlich stabilen geografischen Raums und Zeitabschnitts vollzogen. Das – von ihnen so bezeichnete – Holozän wies alle Merkmale eines »Rahmens« auf, innerhalb dessen man mühelos das Handeln der Menschen unterscheiden konnte – so wie man im Theater Räumlichkeit und Kulissen vergessen und sich auf die Handlung konzentrieren kann.

Das trifft auf das Anthropozän nicht mehr zu, diesen umstrittenen Terminus, mit dem einige Experten gerne den gegenwärtigen Zeitabschnitt bezeichnen würden.34 Hier geht es nicht mehr um kleine klimatische Schwankungen, sondern um eine das gesamte Erdsystem tangierende Erschütterung.35

Natürlich haben die Menschen schon immer ihre Umwelt verändert, aber dieser Begriff bezeichnete nur ihr Umfeld, das, was sie im präzisen Sinne umgab. Sie selbst bildeten weiterhin die Hauptfiguren, veränderten lediglich am Rande das Dekor ihrer Dramen.

Heute sind alle: Dekor, Kulissen, Hinterbühne, das gesamte Gebäude, auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspielern die Hauptrolle streitig. Das schlägt sich in den Textbüchern nieder, legt andere Ausgänge der Intrigen nahe. Die Menschen sind nicht mehr die einzigen Akteure, sehen sich zugleich aber mit einer Rolle betraut, die viel zu groß für sie ist.36

Dass man sich nicht mehr dieselben Geschichten erzählen kann, steht jedenfalls fest. Die Spannung ist auf dem Höhepunkt.

Also zurück? Nochmals die alten Rezepte lernen? Mit einem veränderten Blick die tausendjährigen Weisheiten...

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