Das europäische Jahrhundert - Ein Kontinent im Umbruch - 1815-1914

Das europäische Jahrhundert - Ein Kontinent im Umbruch - 1815-1914

von: Richard J. Evans

Deutsche Verlags-Anstalt, 2018

ISBN: 9783641188719

Sprache: Deutsch

1024 Seiten, Download: 15892 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Das europäische Jahrhundert - Ein Kontinent im Umbruch - 1815-1914



Vorwort

Dieses Buch ist eine Geschichte Europas von 1815 bis 1914 und schließt in der Reihe »Penguin History of Europe« an den Band The Pursuit of Glory (»Das Streben nach Ruhm«) an, der die Zeit zwischen 1648 und 1815 behandelt. Wie der Autor dieses Buches, mein Kollege hier in Cambridge Tim Blanning, richtig anmerkt, setzt jede Darstellung eines Abschnitts der europäischen Geschichte zwangsläufig mit einem willkürlich gewählten Zeitpunkt ein, aber manche sind willkürlicher als andere. Wir sprechen gewohnheitsmäßig vom »19. Jahrhundert« oder vom »20. Jahrhundert«, doch jedem Historiker ist klar, dass der Zeitabschnitt von 1801 bis 1900 oder von 1901 bis 2000 jenseits der rein chronologischen keine historische Bedeutung hat. Die Geschichte ist voller unabgeschlossener Entwicklungen, und selbst bei Ausbruch oder am Ende großer Kriege, die so häufig als Endpunkt geschichtlicher Werke über einen bestimmten Abschnitt der europäischen Vergangenheit herangezogen werden (so auch hier), bleiben viele Fragen offen. Die verschiedenen Aspekte der Geschichte folgen ihrer je eigenen Chronologie, so dass eine Jahreszahl, die in der Politik-, Militär- oder Diplomatiegeschichte bedeutsam ist, in der Sozial-, Wirtschafts- oder Kulturgeschichte möglicherweise kaum eine Rolle spielt. Französische Historiker der Annales-Schule haben sich angewöhnt, von einer »unbeweglichen Geschichte« (histoire immobile) zu sprechen, die in vielen Teilen Europas bis weit in die Neuzeit hinein fortgedauert hat: Obwohl das Ancien Régime politisch betrachtet Ende des 18. Jahrhunderts am Ende war, hatte das wirtschaftliche und gesellschaftliche Ancien Régime bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein Bestand. Bis dahin dauerte es beispielsweise, ehe die Leibeigenschaft fast überall in Europa von der Bildfläche verschwunden war. Und das demographische Muster von hohen Geburtenraten und Sterbeziffern begann, sich (abgesehen von Frankreich) erst während des sogenannten »demographischen Übergangs« der Jahrzehnte nach 1850 zu wandeln. Umgekehrt blieb die Industrialisierung bis in jene Zeit hinein ein auf kleine Bereiche der europäischen Wirtschaft beschränktes Randphänomen. Ja, einige Historiker – insbesondere Arno Mayer in seinem Buch Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft, 1848 – 1914 (1981) – haben argumentiert, die traditionelle Adelselite habe ihre vorherrschende Stellung bis hin zum Ersten Weltkrieg verteidigt, so dass sich trotz aller oberflächlichen Turbulenzen auch auf politischer Ebene wenig geändert habe. Doch Mayers Sichtweise hat sich unter Historikern nicht durchgesetzt: Im Europa des 19. Jahrhunderts gab es sehr wohl Wandel, nicht nur politisch, sondern auch in anderen Lebensbereichen.

Mancher kam sogar zum Schluss, der ergiebigste Betrachtungszeitraum sei das »Zeitalter der Revolutionen«, wie Eric Hobsbawm den ersten Band seiner Geschichte der Jahre 1789 bis 1914 betitelte (The Age of Revolution, 1962). Übernommen wurde die Periodisierung Hobsbawms von Jonathan Sperber, der in seinem Buch Revolutionary Europe (2000) dieselbe Zeitspanne wählte wie Hobsbawm für seinen ersten Band: 1789 bis 1848. Doch die Entscheidung für diesen Zeitabschnitt hat ihren Preis, denn was folgte, war ein ganz anderes Europa, das sich sehr viel schwieriger mit einem einzigen Interpretationsrahmen fassen lässt. Es ist kein Zufall, dass Sperbers Folgeband Europe 1850 – 1914 (2008) einen langen Untertitel hat, der (zweifellos unbewusst) von den Schwierigkeiten des Autors zeugt, ein verbindendes Thema zu finden: Progress, Participation and Apprehension (»Fortschritt, Partizipation und dunkle Vorahnungen«). Hobsbawm schrieb zwei weitere Bände, The Age of Capital (1975; dt. Die Blütezeit des Kapitals), der die Jahre 1848 bis 1875 abdeckt, sowie The Age of Empire (1987; dt. Das imperiale Zeitalter), der die Geschichte bis zum Ersten Weltkrieg nachzeichnet. Wer sich vornimmt, eine Geschichte Europas im 19. Jahrhundert zu verfassen, kommt an diesen drei bahnbrechenden Büchern, die alles andere überragen, was über diese Epoche geschrieben worden ist, nicht vorbei. Und mit seiner verblüffenden Gabe, innovative Begriffe zu prägen, bezeichnete Hobsbawm die gesamte Epoche, die seine Trilogie behandelt, als das »lange 19. Jahrhundert« – ein Vorbild, dem viele Lehrbücher und Einführungen gefolgt sind, etwa William Simpson und Martin Jones in Europe 1783 – 1914 (2000). Allerdings ist das lange 19. Jahrhundert eine janusköpfige Epoche, wird sie doch von den Revolutionen von 1848 in zwei sehr ungleiche Hälften geteilt. Da nimmt es nicht wunder, dass viele Historiker, die über die Zeitspanne von der Französischen Revolution oder dem Sturz Napoleons bis zum Ersten Weltkrieg geschrieben haben, gar nicht erst den Versuch machten, ein übergreifendes Thema zu finden, und sich stattdessen, um das Beispiel von R. S. Alexanders politischer Geschichte zu nehmen, für nichtssagende Titel wie Europe’s Uncertain Path (2012) entschieden.

Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts erachteten Historiker den Aufstieg der Nationalstaaten und die Konflikte zwischen ihnen als die zentralen Merkmale der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Der Triumph des Nationalismus ließ neue politische und kulturelle Gebilde entstehen und entfachte Revolten gegen große, als unzeitgemäß erscheinende Vielvölkerreiche, Aufstände gegen die Unterdrückung durch andere Nationen oder den Ehrgeiz, andere Nationen zu beherrschen. Dieses Modell des Nationalstaats wurde im 20. Jahrhundert in die ganze Welt exportiert, was seine Entstehung im Europa des 19. Jahrhunderts um so wichtiger erscheinen ließ. Einst sahen Historiker diesen Prozess in einem positiven Licht und feierten in ihren Darstellungen die Einigung Italiens und Deutschlands, die Entstehung eines tschechischen und polnischen Nationalgefühls und andere Ergebnisse, die das Zeitalter des Nationalismus zeitigte. Als sich nationale und ethnische Rivalitäten allerdings im gigantischen Flächenbrand des Zweiten Weltkriegs entluden, erschien der Aufstieg des Nationalismus in einem weit düstereren Licht – eine Sichtweise, die von den Balkankriegen der 1990er Jahre verfestigt wurde. Seither jedoch leben wir in einem Zeitalter der fortschreitenden Globalisierung: Seit die Barrieren aus der Zeit des Kalten Kriegs gefallen sind, haben internationale Institutionen, weltumspannende Kommunikationsnetze, multinationale Firmen und viele weitere Einflüsse dafür gesorgt, dass nationale Grenzen zusehends durchlässig geworden und wir alle zu einer Weltgemeinschaft vereint worden sind. Seit der Jahrhundertwende hat das auch unseren Blick auf die Vergangenheit verändert, unter Historikern setzt sich zunehmend eine globale Perspektive durch. Der Ruf nach einer Weltgeschichtsschreibung an sich ist nichts Neues: Er wurde bereits in den 1970er Jahren laut, namentlich seitens des französischen Historikers Marc Ferro, und war schon in der Idee einer »Universalgeschichte« inbegriffen, wie sie im 19. Jahrhundert Leopold von Ranke und im 20. Jahrhundert Arnold Toynbee und William H. McNeill betrieben. Eine Globalgeschichte jedoch, die die verschiedenen Teile der Welt zueinander in Beziehung setzt, anstatt nur ihre je eigene Geschichte zu erzählen, ist erst in jüngerer Zeit entstanden, als Historiker sich Fragestellungen wie den Auswirkungen des Imperialismus auf die Volkswirtschaften, Gesellschaften, Kulturen und politischen Systeme Europas (vor allem, aber nicht nur, auf Großbritannien) zugewandt haben, dem interaktiven Geflecht globaler Wirtschaftsbeziehungen, das Europa mit anderen Erdteilen verband, sowie der Entstehung von Weltreichen als europaweitem Prozess, und nicht als spezifischem Phänomen in einzelnen europäischen Ländern. Zugleich haben Historiker eifrig die Geschichte einzelner Nationen im globalen Kontext neu geschrieben und dabei die Auswirkungen der europäischen Diaspora – der Millionen Europäer, die auf andere Kontinente emigriert sind – auf das »Mutterland« ebenso herausgearbeitet wie die Anreicherung des europäischen Nationalismus mit Elementen der Rassentheorie, die mit der Erfahrung der Kolonisation Afrikas oder Asiens einherging, und die Entwicklung einer globalen Geopolitik zu einem Schlüsselfaktor in den Beziehungen europäischer Staaten untereinander.

In besonderem Maße beeinflusst ist mein Ansatz in diesem Buch von dem deutschen Historiker Jürgen Osterhammel, der in seinem Werk Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (2009) im Gegensatz zum Eurozentrismus von Hobsbawms Trilogie einen wahrhaft weltgeschichtlichen Ansatz verfolgt. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit einer erstaunlichen Vielfalt von Themen wie »Gedächtnis und Selbstbeobachtung«, Zeit, Raum, Mobilität, Lebensstandards, Städte, »Frontiers«, Macht, Revolutionen, Staat, Energie, Arbeit, »Netze«, Hierarchien, Wissen, »Zivilisierung«, Religion und vielem mehr. Osterhammel befasst sich gezielt mit übergreifenden Themen, Verbindungen zwischen unterschiedlichen Erdteilen, parallelen Entwicklungen und globalen Prozessen. Allerdings geht die argumentative, reflektierende Präsenz des Autors über den Horizont der Menschen, über die er schreibt, in der Regel deutlich hinaus. Auch verbringen historische Überblicksdarstellungen häufig zu viel Zeit damit, die allgemeinen Interpretationslinien darzulegen, anstatt zu versuchen, sie aus dem Leben und den Erfahrungen von Zeitgenossen herauszupräparieren. In einem knappen Lehrbuch, dessen Hauptzweck darin besteht, Studenten auf Prüfungen vorzubereiten, mag das nachvollziehbar sein. Doch in einem...

Kategorien

Service

Info/Kontakt