'... dann bin ich auf den Baum geklettert!' - Von Aufstieg, Mut und Wandel

'... dann bin ich auf den Baum geklettert!' - Von Aufstieg, Mut und Wandel

von: Dirk Roßmann, Peter Käfferlein, Olaf Köhne

Ariston, 2018

ISBN: 9783641224530

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 5357 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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'... dann bin ich auf den Baum geklettert!' - Von Aufstieg, Mut und Wandel



Kindheit in Ruinen

Ich bin ein Kind der Nachkriegszeit, geboren im September des Jahres 1946. Das Ende des Zweiten Weltkriegs lag noch nicht weit zurück. Die Erinnerungen der Menschen – Täter wie Opfer – an Zerstörung, Terror, Tod und Schuld waren allgegenwärtig, das Trauma des Krieges war in ihre Gesichter gezeichnet. Als ich zur Welt kam, lag diese in Trümmern, in Schutt und Asche. Hannover, meine Heimatstadt, war im Zentrum zu 90 Prozent zerstört. Im gesamten Stadtgebiet hatten die Bomben der Alliierten mehr als die Hälfte aller Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Am 10. April 1945 war die 9. US-Armee, von Nordwesten kommend, in die Stadt einmarschiert und hatte Hannover nahezu kampflos besetzt. Für die Überlebenden war der Zweite Weltkrieg damit beendet. Auch unser Rathaus, eines der Wahrzeichen Hannovers, das eine mächtige Kuppel schmückt, 1913 von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht, wurde von Bomben getroffen, doch die Schäden hielten sich glücklicherweise in Grenzen. Heute kann man in der Eingangshalle des Rathauses vier Stadtmodelle in einer Größe von viereinhalb mal fünfeinhalb Metern besichtigen, die das Stadtbild in verschiedenen Epochen zeigen.

Eines der Modelle dokumentiert das Ausmaß der Zerstörung nach Ende des Krieges. Darauf sieht man auch das Modell des zerbombten Hauses, in dem mein Großvater mütterlicherseits, Edmund Wilkens, früher einen großen Kürschnerbetrieb unterhielt. Die Ursprünge der Wilkens liegen in Bruchhausen-Vilsen, in der Nähe von Bremen. Meinen Großvater Edmund verschlug es um das Jahr 1880 herum nach Hannover, wo er eine Ausbildung zum Kürschnermeister machte. Im Ersten Weltkrieg betrieb er eine Mützen- und Handschuhfabrik in Hannover-Linden mit 200 Leuten, zudem gründete er ein Pelzgeschäft, das er im Lauf der Jahre immer mehr erweiterte, bis es das größte der Stadt war. Die reichen Bürger von Hannover gingen bei Großvater Wilkens ein und aus.

Jedes Jahr fuhr Edmund nach Leipzig, in die damalige Handelsmetropole des Pelzhandels, wo er Waren kaufte und Geschäfte tätigte. Die Familie meiner Mutter war dank des überaus lukrativen Pelzhandels sehr wohlhabend. Großvater Edmund kaufte ein fünfstöckiges Mietshaus in Hannover und baute gleich daneben noch ein ebenso großes. In diesem lebten die Wilkens auf großbürgerlichem Fuß: in einer Wohnung mit zehn Zimmern, mit Haushälterinnen und Bediensteten. Außerdem besaßen sie ein Wochenendhaus in Großenheidorn am Steinhuder Meer.

Meine Mutter Hilde wurde 1909 geboren. Sie hatte zwei Schwestern und besuchte die sogenannte Höhere Töchterschule in Hannover, eine im 18. Jahrhundert gegründete Mädchenschule. Und sie war eine der ersten Frauen in Hannover, die den Führerschein machten. Sie sei sogar die zweite überhaupt gewesen, erzählte sie später stolz. Eine moderne junge Frau also. Das erste Auto meiner Mutter war ein Horch, damals einer der meistverkauften Pkws der Oberklasse. Ihren Erzählungen nach waren meine Mutter und ihre Schwestern drei fröhliche Mädels, denen es an nichts mangelte. Bei ihrer Erziehung wurde viel Wert auf Bildung gelegt. Der Bücherschrank im Hause Wilkens war gefüllt mit den Klassikern der Literatur – von Balzac über Goethe bis hin zu Schopenhauer. Vor allem Letzterer sollte in meinem Leben noch eine große Rolle spielen.

Die Wilkens waren zudem politisch interessierte Bürger, wenn auch nicht immer einer Meinung. Großvater wählte die Zentrumspartei, also die Konservativen, Großmutter Marie hingegen war eine überzeugte Sozialdemokratin. Sie links, er rechts, an lebendigen Diskussionen wird es nicht gemangelt haben. Aber – ganz wichtig – man respektierte die Meinung des anderen. Großvater und Großmutter Wilkens waren kluge und differenziert denkende Menschen, die einen ständigen Dialog miteinander führten. Was nach meinen eigenen Erfahrungen im Übrigen ganz wesentlich dazu beiträgt, eine Beziehung auf Dauer am Leben zu halten.

Nach dem frühen Tod meines Vaters 1958 zog Großmutter Wilkens für kurze Zeit bei uns ein. Ich erinnere mich an sie als eine humorvolle, lockere und offene Frau, sensationell war das damals.

Als ich sie einmal fragte: »Na, Oma, wie geht’s?«, antwortete sie, die Achtzigjährige, in etwa so:

»Keen Tähn in’t Muul, kann nich mehr bieten.

En Blass op’n Moors, kann nicht mehr schieten.

En Pint, de nich mehr deit,

un dor fraagst du noch, woans dat gait?«

(»Keine Zähne im Maul, kann nicht mehr beißen.

Ne Blase auf’m Arsch, kann nicht mehr scheißen.

Ein Pimmel, der nicht mehr steht,

und da fragst du noch, wie es geht?«)

Mein Bruder Axel und ich nannten sie immer die »Große Oma«. Dabei war sie gar nicht mal von besonders großer Statur, ein bisschen voluminöser vielleicht und ein paar Zentimeter größer als die »Kleine Oma«, wie wir unsere Oma Roßmann nannten. Auch die Roßmanns waren Kaufleute. Allerdings ging es in der Familie meines Vaters Bernhard in wirtschaftlicher Hinsicht ganz anders zu. Die Verhältnisse waren einfacher, viel bescheidener. 1909, in dem Jahr, in dem meine Mutter zur Welt kam, gründete mein Großvater Rudolf Roßmann in Hannover eine kleine Drogerie, in der Lortzingstraße, Ecke Podbielskistraße. Seine Frau, die »Kleine Oma«, war eine schlichte Frau. Und obendrein knauserte sie mit allem. Wenn sie sich eine Zigarette anzündete, hielt sie ein bereits abgefackeltes Streichholz ans Heizgerät, bis es Feuer fing, machte damit die Zigarette an, rauchte diese aber nur höchstens bis zur Hälfte, den Rest sparte sie sich auf. In ihrem Wohnzimmer standen – schon in der NS-Zeit und noch bis hinein in die Fünfzigerjahre – die drei berühmten Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Ob sich die »Kleine Oma« selbst so sah, weiß ich nicht. Für mich aber waren die Affen schon damals der Inbegriff von Spießigkeit und Kleine-Leute-Mief, wie ihn der Schriftsteller Walter Kempowski in seinen Werken trefflich beschrieben hat.

Auf meinem Schreibtisch in Burgwedel steht heute noch ein Foto der Drogerie meines Großvaters Rudolf. Ich bin sehr froh, dass es dieses Bild, das einzige überhaupt, von unseren Anfängen gibt. Das Gebäude, in dem sich die Drogerie befand, wurde bei einem Bombenangriff im Krieg völlig zerstört, und meine Eltern eröffneten 1947 eine Art Behelfsdrogerie, ebenfalls in der Podbielskistraße, gleich gegenüber dem alten Laden. Der neue bestand lediglich aus einem kleinen Verkaufsraum mit einem Lager, das auch nur wenige Quadratmeter groß war.

Die genauen Umstände, wie sich meine Mutter Hilde und mein Vater Bernhard Roßmann kennenlernten, sind mir nicht bekannt. Eines aber liegt auf der Hand: Mit den großbürgerlichen Wilkens und den kleinbürgerlichen Roßmanns trafen zwei Welten aufeinander. Bernhard Roßmann war ein netter Kerl, Hilde verliebte sich in ihn, und in den Dreißigerjahren wurde geheiratet. Meine Eltern zogen in eine Wohnung in der Rubensstraße. Ihr Riesenglück war, dass dieses Haus – als eines der wenigen – den Bomben der Alliierten nicht zum Opfer gefallen war. Die Wohnung war klein, hatte drei Zimmer, und gleich nach dem Krieg mussten meine Eltern Heimatlose aufnehmen, die ausgebombt oder vertrieben worden waren. Entsprechend beengt ging es zu, aber wir hatten wenigstens ein Dach über dem Kopf.

In diese Nachkriegswelt wurde ich hineingeboren, zwei Jahre nach meinem Bruder Axel. Mein Start ins Leben war alles andere als einfach. Meine Mutter erzählte, dass ich 1948, noch keine zwei Jahre alt, schwer krank wurde, alle Krankheiten der Welt muss ich gleichzeitig durchgemacht haben. Erst litt ich an einer doppelseitigen Lungenentzündung, dazu gesellte sich Scharlach, und dann bekam ich auch noch andere, damals für Kinder lebensbedrohliche Krankheiten, deren Namen ich nicht mehr weiß. In unserer kleinen Wohnung war es immer eiskalt, man hatte im Winter nichts zum Heizen. Und kaum etwas zu essen, gesunde Ernährung war ein Fremdwort. Als meine Mutter den Arzt fragte, ob sie mich ins Krankenhaus bringen solle, schüttelte der nur resigniert den Kopf. Es sei doch schöner für alle, sagte er, »wenn der kleine Dirk zu Hause stirbt, im Kreise seiner Familie«. Meine Eltern waren geschockt. Sie wussten nun auch nicht weiter. Aber wie man sieht, habe ich diese schwere Zeit überlebt.

Als Kind muss ich einen starken Überlebenswillen gehabt haben. Heute denke ich manchmal, dass ich ein so unglaublich sonnenhungriger Mensch bin, lieber schwitze, anstatt zu frieren, liegt möglicherweise an dieser Kälte der frühen Jahre. Kälte vertrage ich bis heute nicht gut. Auch wenn ich natürlich keine Erinnerungen an die Krankheiten und an die Todesnähe habe, die ich als Zweijähriger erfuhr, muss doch etwas, eine tiefe Prägung, davon zurückgeblieben sein.

War es damals eine gute Zeit, um aufzuwachsen? Wer kann das schon sagen? Die Menschen waren verstört, depressiv, verwirrt und voller Ängste. Das galt auch für meine Eltern, Hilde und Bernhard Roßmann. Was aber ist das Allerwichtigste, das ein Kind braucht? Ein lebensfrohes Umfeld, Eltern mit Zuversicht, Mut und einer positiven Sichtweise auf die Zukunft – all dies gab es in diesen Jahren kaum. Der Kampf ums nackte Überleben war alles, worum es ging. Möglicherweise war dieser Kampf aber auch der Grund, warum meine Eltern, die aus konträren geistigen Welten stammten, überhaupt zusammenblieben.

Einmal erlebte ich einen Streit meiner Eltern, in unserer kleinen Wohnung, der mich als Kind völlig verunsicherte und mich in Panik versetzte. Wie fast immer ging es um finanzielle Probleme. Meine Eltern schrien sich an, laut und hasserfüllt. Ich...

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