Hier ist noch alles möglich - Roman

Hier ist noch alles möglich - Roman

von: Gianna Molinari

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841216182

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 11607 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hier ist noch alles möglich - Roman



Mein Einstellungsgespräch fand in der Fabrikkantine statt. Der Chef saß an einem der quadratischen Tische, vor ihm stand eine Tasse Tee. Der Tee dampfte. Ich gab ihm die Hand und stellte mich vor. Er stellte auch sich vor und fragte mich, ob ich schon einmal als Nachtwächterin gearbeitet hätte. Ich nickte und sagte, dass ich oft in der Nacht wach sei, dass das kein Problem sei für mich, dass ich sehr aufmerksam sei und zuverlässig, dass ich den Job gerne machen wolle.

Wohnen Sie in der Stadt, fragte er, nahm einen Schluck Tee und schaute mich über den Tassenrand hinweg an.

Gibt es nicht die Möglichkeit, auf dem Fabrikgelände zu wohnen, eine Arbeiterwohnung vielleicht, ich bin nicht anspruchsvoll, etwas Kleines reicht.

Ob ich mir denn nicht in der Stadt eine Wohnung suchen wolle, der Weg sei nicht besonders weit, sagte der Chef. Was genau ich mir unter einer Arbeiterwohnung vorstellen würde und ob ich mich nicht umgeschaut hätte, hier gebe es nicht mehr viele Arbeiter, und Wohnungen habe es hier noch nie gegeben. Ich könne aber, wenn ich wolle, einen leer stehenden Raum beziehen, Strom und Wasser seien vorhanden, auf dem Stockwerk gebe es auch Dusche und Klo, es könne halt kalt werden, kein Luxus, Luxus ganz und gar nicht, aber ich könne es mir mal anschauen, über Miete und Weiteres werde man sich schon einig.

Ich ziehe in einen großen Raum, der sich im ersten Stock eines L-förmigen Gebäudes befindet. Daneben und darunter befinden sich weitere Räume. Das Gebäude steht auf dem Fabrikgelände und ist Teil der Fabrik. Gegenüber vom Gebäude befindet sich die Produktionshalle; weit größer, weit höher. Hinter der Produktionshalle sind zwei weitere Hallen, noch eine für die Produktion und eine Lagerhalle.

Die Fabrik liegt außerhalb einer kleinen Stadt. Dort wohnen die wenigen Mitarbeiter, die noch in der Fabrik arbeiten. Rund um die Fabrik liegen Felder, weiter hinten ist der Flughafen. Von meinem Fenster aus kann ich die Flugzeuge landen und starten sehen.

Vielleicht ist der Raum zu klein, um ihn als Halle zu bezeichnen. Ich nenne ihn dennoch Halle. Hier hat noch niemand zuvor gewohnt. Ich bin die erste Hallenbewohnerin.

Wenn ich nachts im Bett liege und an die Decke blicke, meine ich manchmal im Bauch eines Wals zu sein.

Ich versuche, das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden. Ist der Schatten des Vogels, der über den Hallenboden streift, das Wichtige oder ist es der Vogel selbst, den ich vom Stuhl aus nicht sehen kann?

Wichtig sind meine Hände, ebenso die Arme und Schultern, der Kopf, die Augen, der Mund. Auch meine Beine sind wichtig. Sie bringen mich vom Tisch zum Bett, von den Ecken in die Hallenmitte, an die Fensterfront.

Ich frage mich, wie die Oberfläche meiner Lunge beschaffen, wie dicht das Netz meiner Blutgefäße ist, was das Wohnen in der Halle mit mir machen wird.

Hier ist ein neues Umfeld zu erkunden. Hier ist noch alles möglich.

Die Menschen auf dem Fabrikgelände fürchten sich vor dem Wolf. Ich finde einen Zettel an meiner Hallentür: Es wurde ein Wolf auf dem Fabrikgelände gesichtet. Die Tiere suchen nach Nahrung und scheuen die Nähe der Menschen nicht. Falls Sie einen Wolf sichten, bitten wir Sie, uns dies umgehend zu melden.

Ich habe bis jetzt noch keinen Wolf gesehen.

Das Gelände zu betreten, ist für Unbefugte verboten. Das steht auf Schildern. Darauf steht auch: videoüberwacht. Das Gelände hat einen quadratischen Grundriss und ist umzäunt. An vielen Stellen wächst Unkraut am Drahtgitter hoch. Auch ist der Zaun hier und da verbogen. Ich gehe den Zaun entlang und entdecke drei Stellen, an denen er so große Öffnungen frei gibt, dass ich hindurchschlüpfen könnte.

Ich frage den Chef nach dem Wolf.

Der Koch habe den Wolf bei den Containern gesehen, wie er in den Essensresten gewühlt habe, er müsse sich etwas einfallen lassen, sagt er, das sei nicht zu verantworten, dass ein Wolf sich auf dem Gelände herumtreibe.

Ich frage den Chef, warum er das Gelände nicht neu einzäunen, die Löcher ausbessern lasse.

Das ist mir zu teuer, die Fabrik ist keine Investition mehr wert.

Warum haben Sie mich dann eingestellt?

Sie sind keine Investition, sondern eine Notwendigkeit. Ich will, dass alles mit rechten Dingen abläuft, ich will mir zum Ende hin keine Fehler erlauben.

Ich bin erstaunt, in welchem Ton er mir das sagt, als ob er sich selbst nicht recht glaube, als ob er schon längst woanders sei.

Ich werde den Koch fragen, wie der Wolf aussah, wie groß er war, was er tat, wie er schaute oder nicht schaute, wie er sich bewegte.

Ich werde in die Kantine gehen, vielleicht eine Suppe essen und den Koch fragen, wie er reagiert habe, ob der Wolf ihn erschreckt habe, ob er Angst gehabt habe, ob er sich nicht habe bewegen können, wer von beiden sich zuerst bewegt habe, der Koch oder der Wolf, in welche Richtung der Wolf verschwunden sei, ob er zurückgeschaut habe, ob der Koch das habe sehen können. All das werde ich ihn fragen und die Suppe bis zum Tellerboden aufessen.

Zu den sichtbaren Grenzen gehören die Waldgrenze, die Grenze zwischen Land und Wasser, zwischen Licht und Schatten, die Wände meiner Halle und die Umzäunung der Fabrik. Diese Grenzen sind leicht zu erkennen. Andere sind es nicht.

Ein Stockwerk unter meiner Halle befindet sich der Überwachungsraum. Oft sitze ich in diesem Raum und schaue abwechselnd auf die vier Monitore. Ich sehe selten einen der Angestellten das Gelände verlassen oder betreten; zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto. Ich sehe selten Lastwagen ein- oder ausfahren.

Seit ich weiß, dass sich ein Wolf auf dem Gelände herumtreibt, sehe ich oft Katzen über den Bildschirm huschen. Manchmal wird das bewegte Bild zu einem Standbild, weil sich nichts darauf bewegt, weil die Einfahrt, die Ausfahrt, das Zentralgelände und der Haupteingang unverändert daliegen. Die einzig auszumachenden Veränderungen sind das Licht, das heller oder dunkler wird, und die Schatten, die langsam über den Betonboden wandern.

Häufig sitze ich im Überwachungsraum und lese in einem Buch. Dann linse ich nur aus den Augenwinkeln auf die Monitore.

Manchmal meine ich mitten in einem Satz eine Bewegung zu sehen. Der Wolf, denke ich, aber bis ich meinen Blick vollständig von den Zeilen löse und auf den Bildschirm richte, ist der Schatten weg.

Die Nachtwache ist in zwei Schichten aufgeteilt, von 17:00 bis 24:00 Uhr und von 00:00 bis 07:00 Uhr. Die zweite Nachtwache heißt Clemens. Sechs Tage die Woche lösen wir uns ab. Am Sonntag arbeitet niemand. Am Sonntag ist Sonntag, sagt der Chef. Das gilt auch für Einbrecher, es gibt Statistiken.

Und wie ist es bei den Wölfen mit Sonntag, frage ich den Chef.

Das ist ein ungelöstes Problem.

Wie wir uns die Schichten aufteilen, überlässt der Chef uns. Also haben wir beschlossen, dass wir im Wochenrhythmus die frühere und die spätere Schicht tauschen, so wie Clemens und meine Vorgängerin das auch gemacht haben.

Clemens wohnt in der Stadt. Er kommt mit dem Fahrrad zur Fabrik.

Das Wohlergehen der Fabrik ist mir egal. Ich interessiere mich für den Wolf. Es wird nicht mehr lange dauern, wenige Monate noch, dann werden die Maschinen abgestellt, die Produktion eingestellt. Einst wurden hier Stulpschachteln, Tragpackungen, Versandkuverts, Geschenkschachteln, Kartonboxen, Archivschachteln, Transport-, Verkaufs-, und Präsentationsverpackungen jeder Form und Größe hergestellt, aus Well-, Voll-, Hartkarton, Kompakt- oder Graupappe. Jetzt beschränkt sich die Produktion auf Faltschachteln.

Clemens kommt auf dem Monitor mit dem Fahrrad näher. Seine Mütze hat er tief in die Stirn gezogen. Mitten im Bild hebt er kurz die Hand zum Gruß, biegt dann rechts ab und verschwindet aus dem Sichtfeld.

Er öffnet die Tür zum Überwachungsraum so schwungvoll, dass sie von der Wand zurückprallt.

Hast du den Wolf gesehen? Er zieht seine Mütze vom Kopf und setzt sich neben mich vor die Monitore.

Kein Wolf, sage ich und erkenne vereinzelte graue Strähnen in seinen schwarzen Haaren.

Sonst etwas?

Das fragt er mich jede Nacht, und jede Nacht sage ich: Nein, nichts.

Oder soll ich ihm erzählen, dass ich eine Maus sah, die unter einem Gabelstapler verschwand, dass eine Eule schrie oder sonst ein Vogel, dass der Mond nicht zu sehen war, dass die Luft frisch war und nach Sumpf roch, obwohl gar kein Sumpf in der Nähe ist, dass ich mit meinen Händen Schattentiere an die Fabrikwand warf, auch den Schatten eines Wolfes?

Na dann. Gute Nacht.

Ich stehe auf und klopfe mit meiner Handfläche zwei Mal auf den Tisch. Die Monitorbilder zittern leicht.

Ich sehe noch, wie er sich die Augen reibt, dann gehe ich an ihm vorbei, zur Tür hinaus, die Treppe in den oberen Stock hoch und betrete meine Halle. An einem kleinen Waschbecken putze ich mir die Zähne und wasche mir das Gesicht, dann lege ich mich ins Bett. Das Bett ist direkt über der Stelle, an der Clemens jetzt sitzt.

Den Tisch und den Stuhl, die in der Halle stehen, habe ich vor der Lagerhalle gefunden; das Bett hat mir Clemens gebracht. In die Halle habe ich nur wenige Kleider, meine Kamera und mein Universal-General-Lexikon mitgebracht, das von großer Wichtigkeit ist. Ich schreibe fortlaufend neue Einträge hinein oder ergänze das Geschriebene. Gestern fügte ich in...

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