Ein möglichst intensives Leben - Die Tagebücher

Ein möglichst intensives Leben - Die Tagebücher

von: Lion Feuchtwanger, Nele Holdack, Marje Schuetze-Coburn, Michaela Ullmann

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841216106

Sprache: Deutsch

512 Seiten, Download: 25286 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ein möglichst intensives Leben - Die Tagebücher



Einleitung


Die späte Entdeckung der Tagebücher

Lange glaubte man, Lion Feuchtwanger habe nie Tagebuch geschrieben. 1931, als das »Berliner Tageblatt« ihm sowie Carl Zuckmayer, Heinrich Mann, Alfred Döblin und Ludwig Renn für einen Artikel die Frage stellte: »Führen Sie ein Tagebuch«, lautete seine Antwort: »Ein Tagebuch? Nein. Mir sagt es wenig zu, täglich Bilanz zu machen, wie sehr ich einen Menschen mag oder wie intensiv ich gearbeitet habe. Wenn Sie Tag für Tag minutiös messen, wieviel Milligramm Seele Sie zu- oder abgenommen haben, geraten Sie dann nie in Versuchung, falsche Gewichte zu nehmen? Schminken Sie Ihren Handlungen niemals falsche Motive an? Ich glaube, Sie tun es. Ich jedenfalls würde es tun. Denn Tagebücher geben gemeinhin Wunschbilder. Sie sind wie Heeresberichte. Man redigiert die Ergebnisse so, wie man möchte, dass sie verliefen, nicht wie sie wirklich geschahen.« Welch eine Überraschung, als ein Zufallsfund über dreißig Jahre nach seinem Tod zutage förderte, dass genau das Gegenteil der Fall war: Für den Großteil seines Lebens machte er sich in geheimen Journalen nahezu tägliche Notizen.

1991 entdeckte Harold von Hofe, Professor an der University of Southern California, Direktor des Feuchtwanger Institute for Exile Studies und als enger Freund Marta Feuchtwangers zu ihrem Nachlassverwalter bestimmt, die heute erhaltenen Tagebücher. Damals half er dabei, die Wohnung von Feuchtwangers letzter Sekretärin Hilde Waldo aufzulösen, nachdem sie in ein Pflegeheim gezogen war. Waldo hatte 1940, gleich nach Ankunft der Feuchtwangers in New York, begonnen, für ihn zu arbeiten. Sie folgte dem exilierten Ehepaar nach Südkalifornien, wo sie bis zu seinem Tod 1958 für den Schriftsteller tätig war, anschließend als Assistentin für Marta Feuchtwanger, bis diese 1987 starb.

Wann hatte Hilde Waldo die Tagebücher an sich genommen und warum? Eine Vermutung ist, dass Feuchtwanger während der McCarthy-Ära bereits selbst Teile seiner Aufzeichnungen bei ihr in Sicherheit gebracht hatte, wie er es auch mit anderen Dokumenten tat. Damals, zu Beginn des Kalten Krieges, konnte jeder, der mit politisch »linken« Äußerungen an die Öffentlichkeit trat, ins Visier des FBI geraten. Hilde Waldo galt im Unterschied zu ihm als unverdächtig. Nicht beantworten lässt sich bislang die Frage, was für einen Umfang das originale Tagebuch-Konvolut hatte. Hier können wir vorläufig nur mutmaßen: Rettete Waldo lediglich die Tagebücher aus der Zeit vor dem kalifornischen Exil, vernichtete aber jene aus den späteren Jahren, weil sie selbst darin vorkam? Sie hatte wohl eine Affäre mit Lion Feuchtwanger.

Es gibt Hinweise, dass sich zumindest ein Teil der originalen Niederschriften in den 1970er Jahren noch in Martas Händen befand. Mit Sicherheit wissen wir, dass sie Tagebuchmaterial ausgewählten Forschern, darunter dem Biographen Lothar Kahn, zugänglich machte. Sie selbst griff darauf zurück, als sie Mitte der siebziger Jahre ihre eigene Lebensgeschichte »An Émigré Life« in Gesprächen mit Lawrence Weschler aufzeichnete. So erklärte sie etwa, ihr Mann habe in seinem Tagebuch ihren Einfluss auf seinen Roman »Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau« (1952) hervorgehoben. Daraus lässt sich schließen, dass Feuchtwanger auch während seiner Zeit in Kalifornien Tagebuch führte und dass diese Notate damals noch existierten.

So bleibt noch manches Rätsel um Feuchtwangers Tagebücher vorerst ungelöst. Dass einige der mutmaßlich verschollenen Journale wieder auftauchen, erscheint nach heutigem Kenntnisstand eher unwahrscheinlich, kann aber nicht ausgeschlossen werden.

Glücklicherweise ist ein Großteil der Tagebücher aus den Jahren zwischen 1906 und 1940 nicht nur gefunden, sondern inzwischen auch entschlüsselt worden, was keineswegs selbstverständlich ist, denn in den späteren Jahren verfasste Feuchtwanger seine Notate in der veralteten, nur noch von wenigen beherrschten Gabelsberger-Kurzschrift. Wie mühsam die Entzifferung war, davon berichtet die Editorische Notiz (S. 636). Die endlich publizierten Aufzeichnungen gewähren dem Leser einen einzigartigen Einblick in Feuchtwangers Leben, in seine zutiefst persönlichen Gedanken, intimsten Gefühle und in seinen konfliktreichen Weg zum international anerkannten Romancier und Weltbürger. Über die Jahrzehnte entsteht aus unmittelbarer Nähe ein Zeitgemälde, konturiert von einem lebenserfahrenen Akteur und brillanten künstlerischen Geist, das entscheidende Momente der neueren deutschen Geschichte beleuchtet. 

In der vorliegenden Ausgabe werden die fortlaufend geschriebenen Tagebücher in sechs Kapiteln bzw. Lebensabschnitten präsentiert. Die Einführungstexte der Herausgeberinnen geben Auskunft über die jeweilige Lebenssituation sowie über die Jahre, zu denen keine Aufzeichnungen überliefert sind: Auf die Studentenzeit in Berlin und München (1906) folgt die Suche nach einem Weg ins literarische Establishment (1909–1911), die Lebensform als arrivierter Bohemien in München (1915−1921), die Phase der internationalen Anerkennung einschließlich der überragenden Amerika-Tournee, die unmittelbar ins französische Exil mündet (1931−1934), die Jahre in Sanary mit dem immer lauter werdenden Zeitgeschehen und der Vereinnahmung durch die Repräsentanten gegensätzlicher Strömungen (1935−1937), schließlich die Phase wachsender Kriegsgefahr und der Internierung in Frankreich (1938–1940).

Feuchtwanger als Tagebuchschreiber

Feuchtwangers Bibliothek enthält eine Reihe von Tagebuchausgaben aus den verschiedenen Jahrhunderten, die er als Material und Charakterstudien für seine historischen Romane verwendete, so etwa die Tagebücher von Samuel Pepys und die zahlreicher Zeitzeugen der Französischen Revolution. Als er sich im »Berliner Tageblatt« über das Tagebuch-Genre äußerte, tat er das vor diesem Horizont. Seine eigenen Diarien stehen in diesem Sinne nicht im konkreten Widerspruch zu seinem dort artikulierten Misstrauen gegen das Tagebuch als Ort des Selbstbetrugs. Er wirkte diesem Misstrauen in gewisser Weise aktiv entgegen – nicht durch den Verzicht auf das tägliche Notieren, vielmehr durch die Art seiner Einträge: Er konzentrierte sich auf Ereignisse, Fakten und Konkretes. Über Motive liest man bei ihm wenig.

Lion Feuchtwanger notierte Bücher, die ihm gefielen, Theaterstücke, die ihm missfielen, woran er arbeitete, mit wem er sich austauschte, welche Frauen vorübergehend oder für längere Zeit in sein Leben traten. Das allgemeine Weltgeschehen bleibt lange Hintergrundmusik, bis sich die politische Lage in der Anbahnung des Zweiten Weltkrieges so zuspitzt, dass es mehr Raum einnimmt. Über die Jahre entsteht ein großer Blick aus dem Kleinen heraus: Er geht mit gleichermaßen kritischer Geste an die Menschen heran wie an literarische und dramatische Werke, an Institutionen wie an politische Ereignisse. Er erweist sich als hellsichtig, wenn er 1933, von seiner Amerika-Tournee kommend, direkt ins schweizerisch-französische Exil geht, ohne noch einmal den Fuß auf deutschen Boden zu setzen, wo inzwischen Hitler zum Reichskanzler gewählt worden ist; wenn er wider seine Natur das heute unentbehrliche »Networking« betreibt, um seine Etablierung im Kulturbetrieb zu sichern, zunächst als ambitionierter Emporkömmling, später als staatenloser Schriftsteller im Exil. Er beweist Mut, wenn er politisch Stellung bezieht und Nachteile dafür in Kauf nimmt: wenn er Charlie Chaplin bereits Anfang 1933 den Vorschlag zu einem Hitlerfilm unterbreitet und sich in der amerikanischen Presse öffentlich gegen Hitler stellt, wenn er sich für Tom Mooney, den Dreyfus Amerikas, ausspricht oder sich später, vermittelt durch Lola Sernau, für den Arzt Lothar Wolf engagiert, der mit seiner Familie nach Moskau emigriert war und dort der Vernichtung anheimfiel. Für seine Offenherzigkeit musste er mitunter einen hohen Preis zahlen, vor allem nach seiner Russland-Reise und dem Buch »Moskau 1937«, beides Teil einer Positionierung, die den Streit um seine Person über seinen Tod hinaus nicht verstummen ließ. Weil er sich nie öffentlich von der Sowjetunion distanzierte, geriet Feuchtwanger auch im Kalten Krieg zwischen die ideologischen Fronten.

Da die Tagebucheinträge zu keinem Zeitpunkt für die Publikation gedacht waren, tritt uns der Verfasser Tag für Tag ungeschönt und unverstellt entgegen. Lässt er als junger Mann noch einen gewissen Hang zur Selbststilisierung erkennen, sind die meist knappen Notate schon bald gänzlich frei davon. Nichts wird ausgebreitet oder gar ausgemalt, was zählt, ist die pulsierende Intensität der Suche nach seinem Platz im Leben, in der Gesellschaft und der Literaturszene, für den Leser unmittelbar nachvollziehbar durch das Festhalten aller Schritte, die der Notierende auf diesem Weg unternahm.

Der Zugang zu Feuchtwangers Journalen wurde nach ihrem Auffinden lange Zeit strengstens reglementiert; nur im Archiv selbst konnten Forscher Einblick nehmen, das Anfertigen von Kopien war nicht zugelassen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Die Verwendung der Gabelsberger-Kurzschrift, die eine Veröffentlichung allein aus praktischen Gründen äußerst erschwerte, stellte einen Schutzwall dar, um die häufig explosiven, ja verstörenden Aufzeichnungen vor dem Blick seiner engeren und weiteren Umgebung geheim zu halten. Er hat sich je nach momentaner Befindlichkeit über Bekannte und Freunde geäußert, insbesondere über Schriftstellerkollegen, mit denen ihn meist ein ambivalentes Verhältnis verband. Thomas Mann bewunderte er fast ehrfürchtig, zugleich bestand zwischen den beiden eine gewisse Rivalität....

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