Das große Insektensterben - Was es bedeutet und was wir jetzt tun müssen

Das große Insektensterben - Was es bedeutet und was wir jetzt tun müssen

von: Andreas H. Segerer, Eva Rosenkranz

oekom Verlag, 2018

ISBN: 9783962385170

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 24437 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das große Insektensterben - Was es bedeutet und was wir jetzt tun müssen



 
 
KAPITEL 2
Hummel, Biene & Co. im Sinkflug
Im Sommer 2017 fuhr ich wiederholt nach Unterfranken, um dort Schmetterlinge zu kartieren und, wenn nötig, für genetische Untersuchungen einzusammeln. Während einer Fahrtstrecke von über 200 Kilometern an einem perfekten Sommertag Ende Juni registrierte ich auf der Windschutzscheibe genau drei (!) Einschläge von Insekten nennenswerter Größe. Noch vor 20 oder 30 Jahren wäre die Scheibe voll gewesen mit Insektenschlag, und man hätte sie spätestens in einer Würzburger Tankstelle mit einem Schwamm reinigen müssen, um wieder gut sehen zu können.
Viele Menschen, die mit Insekten weder beruflich noch privat zu tun haben, berichten mir von derselben Erfahrung, alle Entomologen sowieso. Inzwischen ist es schlichtweg »normal«, dass sich auf Windschutzscheibe und Kühlergrill nur noch ein winziger Bruchteil dessen ansammelt, was man noch vor der Jahrtausendwende beobachten konnte. Und die Ursache dafür ist eindeutig.
In Großbritannien haben bereits 2004 knapp 40.000 Menschen in einer landesweiten Studie (Big Bug Count) mit ihrem Auto Insekten »erlegt« – und das Phänomen bestätigt.1 Initiiert von der großen britischen Vogelschutzorganisation Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) bekamen teilnehmende Autofahrer eine standardisierte Platte – den Splatometer – an die Frontstoßstange montiert und fuhren damit in der Zeit vom 1. bis 30. Juni durchs Land. Nach jeweils 20 bis 80 gefahrenen Meilen zählten die Fahrer die toten Insekten an ihrem Splatometer aus, reinigten ihn und notierten die Zahl der Insekten sowie die zurückgelegte Strecke. Bei diesem Citizen-Science-Projekt (Bürgerwissenschaft) ergab sich eine Gesamtzahl von 324.814 Insekten. Das hört sich nach viel an, ist aber erschreckend wenig: Umgerechnet auf die zurückgelegte Strecke, maßen die Splatometer im Durchschnitt nämlich nur einen Einschlag alle acht Kilometer … (Zum Vergleich: Ein einziges Paar Rauschschwalben fängt in einer Brutsaison 250.000 Insekten.) Eine solch geringe Zahl hatte niemand erwartet.

Es flattert, summt und brummt nicht mehr


Viele Bürger bestätigen mir eigene Beobachtungen: Sie sehen im Freien viel weniger Schmetterlinge als früher, insbesondere am Sommerflieder oder »Schmetterlingsstrauch« (Buddleja davidii) im heimischen Garten – und auch dieser Eindruck ist keine Sinnestäuschung. Zu Beginn der Sommerferien in Bayern sah man noch Anfang der 1970er-Jahre die Blütentrauben des Sommerflieders kaum, weil sie über und über voll von Schmetterlingen waren, darunter insbesondere Tagpfauenaugen (Aglais io) und Kleine Füchse (Aglais urticae), die häufigsten bodenständigen »Nesselfalter«.
Es bereitete mir keine Schwierigkeit, über die ersten drei Augustwochen verteilt mehrere hundert Exemplare dieser Arten zu zählen (natürlich inklusive Wiederholungssichtungen).
Heute, in den 2010er-Jahren, komme ich in meinem Garten im Schnitt nur noch auf 10 Sichtungen – pro Jahr! Meist Tagpfauenaugen, nur ab und zu mischt sich überhaupt noch ein Kleiner Fuchs darunter.
Übrigens gibt es auch eine nicht-einheimische Verwandtschaft der Nesselfalter; dazu zählt unter anderem der Distelfalter (Vanessa cardui), ein regelmäßiger Einwanderer aus dem Süden. In manchen Jahren bilden sich in Nordafrika große Schwärme, die dann auf Wanderschaft gehen und auch bei uns einfallen; zuletzt waren 2003 und 2009 starke Distelfalterjahre. Dann sieht man plötzlich viele Distelfalter an der Buddleja und man könnte meinen, um die Schmetterlinge Deutschlands sei es doch nicht so schlimm bestellt. Ein Irrtum – Distelfalter sind kein Bestandteil unserer heimischen Fauna.
Zwei unserer häufigsten »Nesselfalter«: Tagpfauenauge (Aglais io, links) und Kleiner Fuchs (Aglais urticae, rechts).
Früher summte und brummte es in unserem Garten zur Zeit der Obstbaumblüte ununterbrochen an Apfelbaum und Weichsel (Sauerkirsche). Heute sind die blühenden Bäume regelrecht verwaist; die eine oder andere Hummel und vielleicht mal eine Biene, das ist alles, was mir beim flüchtigen Hinschauen noch auffällt. Selbstverständlich ist mein Garten nur ein einzelner Beobachtungspunkt, Verallgemeinerungen verbieten sich hier von selbst. Aber: Viele Privatleute über ganz Deutschland verteilt machen ähnliche Erfahrungen, und die Imker wissen es sowieso. Das große Bild manifestiert sich in der Zusammenschau vieler Einzelbeobachtungen.

Alternative Fakten lassen grüßen


Selbstverständlich stellen interessierte Kreise – namentlich aus der Agrar- und Chemieindustrie – derartige Beobachtungen in Frage, halten sie für Erfindung und unterstellen damit implizit, dass Zehntausende von Bürgerinnen und Bürgern an kollektiver Gedächtnisfehlleistung und an Wahrnehmungsstörungen leiden. Oder sie zaubern Halbwahrheiten und »alternative Fakten« (also Lügen) aus dem Hut: Etwa, dass der Mangel an Einschlägen auf der Frontscheibe der höheren Windschlüpfrigkeit moderner Fahrzeuge geschuldet sei und nicht einem »angeblichen« Insektensterben.
Das Heimtückische an solchen Fake News ist, dass sie zwar insgesamt absurd, im Detail aber nicht gänzlich falsch sind. In der Tat ist es nämlich so, dass sowohl bei geringerer Aerodynamik als auch höherer Fahrgeschwindigkeit mehr Insekten an den Autos verenden als umgekehrt. Es sind aber nicht alle Autos moderner als früher, und schon gar nicht sind sie heute alle langsamer unterwegs – und Fahrzeuge sind keineswegs das einzige Instrument, an dem sich der Zusammenbruch der Biodiversität ablesen lässt. Auch jedes noch so gewitzte aerodynamische Argument kann nicht einen solch massiven Rückgang erklären, wie wir ihn überall im Land sehen – und den selbst die FAZ kürzlich als »Zukunftsfrage der Menschheit« bezeichnet hat.
Das alles wissen vermutlich auch die Verantwortlichen für solche Gerüchte. Aber eine differenzierte Darstellung der Situation ist nicht opportun; das Ziel ist vielmehr, die Öffentlichkeit zu verunsichern und die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft zu erschüttern.

Wissenschaft in Beweisnot?


Von der Wissenschaft wird immer wieder der ultimative Beweis für ein Insektensterben gefordert, wohl wissend, dass das unmöglich ist.
Abgesehen von der Feinheit, dass sich eine Hypothese oder Theorie mit naturwissenschaftlicher Methodik nie verifizieren, sondern immer nur falsifizieren lässt – was wäre nötig, um den unzweifelhaften Beleg für ein umfassendes Insektensterben vorweisen zu können?
Dazu bräuchte man eine Langzeitstudie, die die Bestandsentwicklung sämtlicher Insektenarten Deutschlands flächendeckend dokumentiert hat, zeitlich mindestens hundert, besser zweihundert Jahre zurückreichend. Bei mindestens 33.000 Insektenarten in Deutschland, der im Verhältnis dazu vernachlässigbar kleinen Schar von Artenkennern und der großen Fläche unseres Landes ist klar, dass es so etwas nie gegeben hat und in dieser Form wohl auch nie geben wird.
Trotzdem kann die Wissenschaft etwas tun und hat es auch getan: möglichst viele existierende Datensätze – Bausteine – zusammentragen und in ein Gesamtbild einordnen, aus dem sich aussagekräftige Schlüsse ziehen, fundierte Hypothesen formulieren lassen.
Wenn sich viele unabhängige, repräsentative Einzelstudien zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen – dann wird trotzdem ein Schuh draus, lässt sich ein klares Bild von der Situation ableiten, entsteht schließlich wissenschaftlicher Konsens.
Letztlich läuft es also auf einen Indizienprozess hinaus. Doch wir wissen alle: Auch mit Indizien – wenn sie denn insgesamt stimmig und in sich widerspruchsfrei sind – lässt sich das Verbrechen rekonstruieren und der Mörder rechtsgültig überführen.

Das Insektensterben ist weder Fiktion noch Überraschung


Ich kann deshalb versichern: Das Artensterben ist real und deutlich belegt, die Details dazu folgen gleich im Anschluss. Es ist keine Erfindung »irrer« Wissenschaftler, wie manch einer behauptet, sondern stellt vielmehr für die Menschheit insgesamt eine noch größere Bedrohung dar als der Klimawandel (mehr dazu in Kapitel 3). Auch über die maßgeblichen Ursachen herrscht unter Forschern (sofern von unabhängigen Stellen bezahlt) prinzipiell Einigkeit.
Im Übrigen kommt das Insektensterben für Biodiversitätsforscher keinesfalls überraschend; die Entwicklung war vorherzusehen, und die Weichen wurden bereits vor über hundert Jahren gestellt. Da der Prozess aber schleichend Fahrt aufgenommen hat, bemerkten ihn anfangs nur Fachleute. Deren Warnungen und Mahnungen wurden aber nie besonders ernst genommen. So konnte die Entwicklung fortschreiten und an Dynamik gewinnen. Über viele Jahrzehnte hinweg, also (zu) lange Zeit, blieb demnach die Diskussion weitgehend auf die überschaubaren Fachkreise beschränkt, und das Problem kam in der Gesellschaft nicht an. Erst in jüngster Zeit hat sich das grundlegend geändert.
Dies ist vor allem das Verdienst der Kollegen vom Entomologischen Verein Krefeld e. V., die im Rahmen einer hochrangig publizierten wissenschaftlichen Studie das Insektensterben in Deutschland publik gemacht haben.2 Die Autoren verstanden es, die Medien auf ihre alarmierenden Zahlen aufmerksam zu machen; die Zeit war reif, um das Thema endlich in die Öffentlichkeit zu bringen.

Das Insektensterben beginnt schon im 19. Jahrhundert


Das Insektensterben ist keineswegs ein Phänomen unserer Tage und nicht erst...

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