Thalamus

Thalamus

von: Ursula Poznanski

Loewe Verlag, 2018

ISBN: 9783732012534

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 1433 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Thalamus



2

Den ersten wachen Augenblick, an den Timo sich später wirklich erinnern sollte, durchlebte er an dem Abend, als es Kürbisbrei mit Kartoffeln gab. Man hatte das Kopfteil von Timos Bett aufgerichtet. Ein junger Pfleger saß mit dem gefüllten Teller neben ihm und versuchte, ihn zu füttern.

Es klappte. Timo kaute, schluckte und hörte, wie der Pfleger ihn für jeden Bissen lobte. »Guter Junge. Toll machst du das. Ganz toll!«

Als würde er mit einem Hund reden, aber das störte Timo nicht, denn er verstand jedes Wort. Sein Blick klebte förmlich an dem Pfleger, und er wünschte sich, dass die Bewusstlosigkeit ihn nicht gleich wieder einfangen würde.

»Noch ein Löffel. Sehr gut. Und noch einer.«

Timo aß und lauschte. Mit jedem Wort gewann die Welt ein Stück ihrer Bedeutung zurück.

Ein paar Tage später konnte er bereits Gesprächen folgen, die neben seinem Bett geführt wurden. Seine Eltern waren hier, und einer der Ärzte, ein gewisser Dr. Schmiedeberg, erklärte ihnen, Timo würde morgen auf die Normalstation verlegt werden. »Er macht unglaublich rasante Fortschritte. Wenn man sich überlegt, dass wir vor drei Wochen nicht damit rechnen durften, dass er überhaupt wieder aufwacht … es hat nicht gut ausgesehen, das wissen Sie ja.«

Vor drei Wochen. So lange lag er also schon hier.

»Wie wird es jetzt weitergehen?«, hörte er seine Mutter sagen. »Wird er … also, wird er wieder gesund? Ganz gesund?«

»Ich will Ihnen keine Versprechungen machen.« Timo blieb kurz an dem Wort Versprechungen hängen. Was war das? Ach ja.

»Aber wenn Ihr Sohn sich weiter so gut erholt, hat er reelle Chancen, später ein normales Leben führen zu können.«

Was sollte das denn heißen? Natürlich würde er ein normales Leben führen, was für eines denn sonst? Timo öffnete den Mund, wollte dem Arzt erklären, wie er das sah, doch die Worte ließen ihn immer noch im Stich, gewissermaßen. Er verstand sie zwar jetzt, doch er wusste nicht mehr, wie man sie produzierte.

Das Gespräch war ohnehin längst weitergegangen.

»… zur Rehabilitation in eine spezielle Einrichtung überweisen«, sagte der Arzt gerade. »Dort ist man auf Fälle wie den von Timo spezialisiert, die Kollegen erzielen hervorragende Ergebnisse, besonders bei Jugendlichen.«

»Ja, Professor Kleist hat uns schon davon erzählt«, sagte Papa zögernd. »Es ist nur eben sehr weit weg …«

Mamas blasses Gesicht tauchte über Timo auf, sie beugte sich zu ihm hinunter, drückte ihm einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn. »Bis morgen, mein Schatz.«

Er blinzelte ihr zu, sie lächelte, küsste ihn noch einmal, streichelte seinen Arm. »Es wird alles wieder gut«, sagte sie. »Alles.«

Dann gingen sie nach draußen. »Ich gebe Ihnen Informationsbroschüren mit«, hörte Timo Dr. Schmiedeberg noch sagen. »Der Markwaldhof hat einen großartigen Ruf, und ich bin sicher, Timo würde sich dort wohlfühlen.«

Von wegen. Er wollte in kein Rehabilitationszentrum, er wollte nach Hause, er würde auch so klarkommen. Der Arzt hatte doch selbst gesagt, dass er sich gut erholte. Auch wenn er jetzt schon wieder entsetzlich müde war und keinen Gedanken festhalten konnte.

Ein Bild tauchte auf und verschwand wieder. Augen. Grüne Augen, umrahmt von langen, geschwungenen Wimpern. Dann Dunkelheit.

Als er wieder wach wurde, hatte die Umgebung sich verändert. Kein Piepsen mehr, keine eiligen Schritte, auch das allgegenwärtige rhythmische Zischen, ein Geräusch wie von einem schwer atmenden Riesen – fort.

Stattdessen Ruhe. Cremefarbene Wände, Bilder von grünen Hügeln und gelben Blumen. Sehr vorsichtig drehte Timo den Kopf zur Seite, das hatte er bei jedem bisherigen Versuch mit furchtbaren Schmerzen bezahlt.

Diesmal hielten sie sich in Grenzen. Schwindelig wurde ihm allerdings, und zwar sehr, obwohl er doch flach auf dem Bett lag. Er atmete tief gegen die aufsteigende Übelkeit an. Außer seinem eigenen stand nur ein weiteres Bett im Zimmer. Der Patient, der dort lag, war deutlich älter als Timo – schätzungsweise so alt wie sein Vater. Er hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht, Schläuche führten zu den Zugängen in den Venen, an einem Infusionsständer hing ein halb voller Beutel mit einer glasklaren Flüssigkeit.

Normalstation, der Begriff formte sich in Timos Kopf. Das hatte jemand gesagt, er wusste bloß nicht mehr, wer es gewesen war. War das hier die Normalstation?

Die Tür öffnete sich, eine Krankenschwester kam herein. Sie lächelte ihm zu. »Na? Du bist ja wach, das ist schön. Lass mal sehen, was dein Tropf macht, und dann messen wir Fieber.« Sie klopfte sanft gegen den Beutel, der auch über Timos Bett hing, drehte ein wenig am Regler und schob dann ein Thermometer unter Timos Achsel. »In fünf Minuten bin ich wieder da«, kündigte sie an und wandte sich zur Tür.

Okay, wollte Timo sagen, aber erst kam gar nichts aus seinem Mund und dann, als die Schwester schon draußen war, ein lang gezogener Laut, der einfach nur schrecklich klang. Wie der eines Tieres.

Der Mann im Nebenbett hatte sich nicht gerührt, also versuchte Timo es noch einmal. Leiser. Er dachte an das Wort Okay, konzentrierte sich darauf. Dann sagte er es, oder meinte jedenfalls, das würde er, aber es war wieder nur ein Geräusch, als hätte er Schmerzen.

Die Erkenntnis sickerte langsam in Timos Bewusstsein ein, und ihm wurde innerlich kalt. Etwas war kaputtgegangen, die Verbindung zwischen seinen Gedanken und der Fähigkeit, sie auszudrücken, existierte nicht mehr.

Aber das würde er wieder lernen können, oder? Wenn er trainierte, als wäre Sprechen ein Sport, dann würde es eines Tages doch wieder funktionieren?

Er versuchte es noch einmal. Mit etwas ganz Einfachem, seinem Namen nämlich. Timo. Ti-mo.

»Daaaaaauuuu–«

Entsetzt brach er ab. Er klang wie der Junge, der ein paar Straßen weiter wohnte und den seine Eltern oft im Rollstuhl in den Park schoben. Seine dünnen Arme waren immer angewinkelt, sein Kopf lag auf der linken Schulter, als wäre er zu schwer für den Hals. Und wenn er zu sprechen versuchte, hörte er sich an wie Timo jetzt eben.

Das durfte nicht sein. Durfte nicht. Jemand musste ihm helfen, so schnell wie möglich.

In dieser Nacht träumte Timo von den dunkelgrünen Augen, und diesmal wurden sie von einem Gesicht umrahmt, das er gut kannte und das ein Gefühl reinen Glücks in ihm weckte. Alles war gut. Sie war da, sie waren zusammen. Er nahm sie in die Arme, drückte sie fest an sich. Was hatte er sie vermisst.

Dann zog sie ihn mit sich, einen Hügel hinunter, auf dem gelbe Blumen wuchsen. Einmal stolperte er, und etwas stach ihn in den Arm – ein Ast oder etwas Ähnliches, doch das war egal. Er und sie fanden einen Platz an einem Bach, wo sie sich ins Gras legten und in den Himmel schauten …

»Ach du liebe Zeit, wie ist denn das passiert? Wie kann das überhaupt sein? Regine? Walter? Kommt ihr bitte schnell?«

Jemand packte ihn an der Schulter, und Timo schlug die Augen auf. Eine der Krankenschwestern kniete neben ihm. Und er lag nicht im Bett, sondern … auf dem Boden. In der Ecke direkt neben der Tür.

»Er hat sich den Zugang rausgerissen, und er muss irgendwie vom Bett bis hierher gelangt sein. Ist mir ein Rätsel, er ist doch kaum kräftig genug, um einen Arm zu heben.«

Zwei weitere Gestalten tauchten auf, eine weiblich, die andere männlich, und griffen nach ihm. »Kannst du aufstehen?«

Konnte er nicht, ebenso wenig wie antworten. Mit Mühe schaffte er es, ein Bein anzuwinkeln, aber an eigenständiges Gehen war nicht zu denken.

»Los, tragen wir ihn zurück. Regine, holst du Schmiedeberg oder Kleist?«

Sie hoben ihn hoch, jemand stützte seinen Kopf, der jetzt zu schmerzen begann. Scharfes Pochen, vom Nacken bis zu den Schläfen.

»Was du für Sachen machst.« Der Pfleger mit dem hellbraunen Pferdeschwanz streckte Timos rechten Arm aus, suchte eine Vene und legte einen neuen Zugang, an den er die Infusion hängte. »Steckt mehr in dir, als wir alle gedacht haben.« Er grinste. »Aber das ist ein gutes Zeichen. Nur zieh die Show nicht gleich noch mal ab, okay?«

Selbst wenn Timo gewollt hätte, wäre er dazu nicht imstande gewesen. Es war ihm selbst ein Rätsel, wie er die Strecke bis zur Tür zurückgelegt hatte. Vielleicht war er es ja gar nicht selbst gewesen, sondern jemand hatte ihn getragen?

Nein. Totaler Quatsch. Vom Personal würde das keiner tun, und von den Patienten war hier niemand dazu fähig.

Plötzlich hatte er die tiefgrünen Augen wieder vor sich, die Augen des Mädchens, dessen Namen er nicht mehr wusste. Wahrscheinlich gab es sie gar nicht, er hatte sie im Traum erfunden, aber sein Gefühl, das war echt gewesen.

War es immer noch. Da steckte so viel Sehnsucht in seinem kaputten Körper; die konnte nur daher kommen, dass es das Mädchen wirklich gab und sie sich kannten. Vielleicht sogar gut.

Bloß konnte er niemanden fragen, weder nach ihr noch nach all dem anderen Zeug, das er nicht mehr wusste. Warum er überhaupt hier war, zum Beispiel. Was passiert war. Das konnte keine Kleinigkeit gewesen sein, wenn man sich seinen Zustand vor Augen führte.

Aber niemand kam auf die Idee, ihm einfach zu sagen, was Sache war. Sie behandelten ihn, als wäre er überhaupt nicht anwesend, redeten über ihn, während sie an seinem Bett standen, aber mit ihm sprachen sie nur dann, wenn sie ihn begrüßten oder sich verabschiedeten.

Wenn das so blieb, dann …

Die Tür wurde geöffnet, Schritte näherten sich. »Hallo, Timo.« Ein...

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