Alles hat seine Zeit - Roman

Alles hat seine Zeit - Roman

von: Karl Ove Knausgård

btb, 2018

ISBN: 9783641239213

Sprache: Deutsch

640 Seiten, Download: 4898 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Alles hat seine Zeit - Roman




Abel hatte wärend seiner gesamten Kindheit den Lichtschein der Cherubim am Himmel über den Bergkämmen im Westen ge­sehen, tags ein nahezu unsichtbares Flirren in der Luft, das in der Dämmerung zu glühen begann, stärker und stärker, je kompakter die Dunkelheit wurde, bis das rötliche Schimmern der Flammen nachts am Himmel hin und her wogte. Er mag gedacht haben, dass die schwarzen Bergkämme in Wahrheit Kohlen waren, denen der Abendwind Leben eingehaucht hatte, und muss mehr als ein­mal in das verlockende Licht gestarrt haben, über das sein Vater nie sprechen wollte, wenn er sich nach einem langen Arbeitstag mit schmerzenden Muskeln auf eine Hacke oder ein Recheisen gestützt hat, während die Stimmen der anderen, auf dem Weg ins Haus, um etwas zu essen, hinter ihm immer schwächer werden und schon bald endgültig verklungen sind. Er denkt nicht mehr daran, woher das Licht kommt, so wenig, wie er daran denkt, wo­her die Bäume an den Berghängen kommen, es ist ein Teil seiner Landschaft, und wenn er es dennoch Abend für Abend anstarrt, geschieht dies, weil er es schön findet. So wie er den Sternenhim­mel schön findet, den Grund des Flusses, die Fische, die dort glän­zen.

Er dreht sich um und blickt zu den Häusern hinüber, die am an­deren Ende des Ackers unterhalb eines Hügels liegen, und sieht, dass die Gestalten, aus dieser Entfernung kaum größer als Käfer, bald ihr Ziel erreicht haben werden. Den ganzen Tag sind ihre Stimmen auf dem Acker erklungen. Den ganzen Tag haben sich ihre Körper auf dem Acker bewegt, sich gebückt, kleine Steine aufgehoben, sie in Körbe gelegt, die Körbe zum Waldrand getra­gen und dort ausgeleert, oder mit einem Keilhammer einen der Findlinge bearbeitet oder die Erde um einen der Baumstümpfe ausgehoben oder während der Mittagspause ausgestreckt im Gras unter den Bäumen gelegen und gegessen oder geschlafen. Und es ist, als hätten die anderen ihn gefesselt, denn erst jetzt, da sie nicht mehr da sind, tritt die Landschaft, in der er sich den ganzen Tag aufgehalten hat, vor ihm in Erscheinung.

Der gewellte Acker mit seiner gräulichen, staubigen Oberfläche, die im Sonnenlicht an manchen Stellen beinahe golden glänzt. Der üppige Kranz von Bäumen, der zwischen dem Acker und den umliegenden Bergen wächst - auf der anderen Seite des Tals scheinbar ein einziges Band aus Grün, an dem Hang in seiner Nähe unterscheidbar nach einzelnen Bäumen: Eschen, Erlen, Ei­chen, Salweiden, Kiefern, Fichten. Die kleinen, jede für sich ein­zigartigen Stellen, an die sie gehören. Der Felsgrund unter der Kiefer, mancherorts von trockenem, grünem Moos überwuchert, an anderen Stellen nackt und blaugrau, überall von gelben Nadeln übersät. Der blühende Hagebuttenstrauch, der daneben wächst, die Luft darüber, voller Hummeln und Wespen. Die Wurzeln, die sich schlangengleich auf den Felsgrund legen und dahinter in der Erde verschwinden. Der schnurgerade Kiefernstamm, rötlich im Schein der Nachmittagssonne, der Schatten, den er auf Dickichte und Sträucher am Hang wirft. Die Grasfläche darunter, nach dem Winter noch voller gelber Flecken, die kaum ein Jahr alten Bäume, die dort wachsen, schmächtig und unsicher, als hätten sie sich auf so dünnes Eis begeben, dass sie nicht wagen, ihren Weg fortzusetzen, jedoch ebenso wenig wagen, kehrtzumachen und in die Geborgenheit des Waldes zurückzukehren, und deshalb ein­fach regungslos stehen und darauf warten müssen, dass ihnen je­mand zu Hilfe eilt.

Nichts von all dem war ihm aufgefallen, als sie arbeiteten. Die Landschaft war wie ein Gedanke, der sich regelmäßig einstellte, etwas, das ihm plötzlich einfiel und das er ebenso plötzlich wie­der vergaß. Nun sieht er sie. Doch während die Landschaft vor seinen Augen Gestalt annimmt, scheint sie sich zugleich von ihm zurückzuziehen. Als rückte sie näher und entfernte sich gleichzei­tig in einem. Denn indem er alles sieht, wendet sich alles, was er sieht, langsam von der Vertrautheit, mit der er es umfasst, ab und erscheint plötzlich als etwas zutiefst Fremdes und Beängstigendes. Der Acker liegt stumm. Die Bäume stehen stumm. Der Himmel mit seinem tiefen Blau und den sachte dahinziehenden Wolken ist stumm. Und die Werkzeuge, die wenige Meter entfernt auf ei­nem Haufen liegen, sind stumm. Und die Körbe. Und die Steine. Und die ausgerissenen, ineinander verflochtenen Baumstümpfe auf dem Gras am Waldrand.

Er legt seine Hacke auf den Werkzeughaufen und geht mit ei­nem Keilhammer zu einem der großen Steinblöcke am Ende des Ackers. Der erste Schlag hallt zwischen den Bergwänden wider, ein kurzes Klack, das über das Tal geschleudert wird und in der nächsten Sekunde den Berg trifft. Klack-ka. Er hebt den Hammer über den Kopf und schlägt erneut zu. Klack-ka. Nach ein paar Schlägen findet er seinen Rhythmus, und erfüllt von Freude an der Wiederholung stößt er bei jedem Auftreffen des Hammers einen Ruf aus. O-he! ruft er, hebt den Hammer über die Schulter, schwingt ihn in einem Bogen Richtung Stein, löst unmittelbar vor dem Aufprall den Griff der unteren Hand und lässt sie den Schaft hinaufgleiten, spürt dennoch, wie der Schlag durch den Arm läuft, ruft sein O-he!, hört den Schlag zwischen den Berghän­gen widerhallen, bewegt die Hand wieder nach unten, greift zu, hebt den Hammer über die Schulter, schwingt ihn in einem Bogen Richtung Stein, ruft. O-he! Klack-ka. O-he! Klack-ka. Schließlich birst der Stein, und er biegt die Teile auseinander und trägt sie nacheinander an den Feldrand. Nachdem er das getan hat, wischt er sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn, dreht sich zu den Häusern um und sieht, dass sich ihm auf dem Acker eine Gestalt nähert.

Das muss Kain sein, der kommt, um mich zu holen, denkt er. Doch obwohl er weiß, wie sehr Kain dies hasst, geht er ihm nicht entgegen, sondern bleibt stehen, wo er ist.

Schon bald wird die Dunkelheit aus ihren gewaltigen unterirdi­schen Bassins hervorsickern und sich im Tal ausbreiten. Am liebs­ten wäre er hier stehen geblieben und hätte beobachtet, wie sich die Dunkelheit lautlos um die Bäume am Waldsaum, die Stein­mauer und den abgespannten Pflug, der daneben steht, verdichtet,

um die drei Holzkübel, die wie kleine Augen auf dem Feld liegen, die Sträucher am Bachufer, den Felsvorsprung am Berghang, der sich hoch oben über ihn lehnt. Wie sie das Tal langsam wie eine Schüssel füllen und ihn auf ihrem Grund zurücklassen wird, so dunkel, wie die Nacht um ihn herum dunkel ist.

Er dreht sich um und sieht, dass sein Bruder mittlerweile fast den halben Weg zurückgelegt hat. Als er sich erneut von ihm ab­wendet, steht etwa fünfzig Meter von ihm entfernt am Waldrand ein Reh und starrt ihn an. Nach einigen Sekunden völliger Reg­losigkeit hebt das Tier mehrmals den Kopf, um die Gerüche vom Acker zu wittern. Als das Reh sich vergewissert hat, dass keine Ge­fahr droht, oder doch so wenig wie möglich, setzt es sich parallel zum Rand des Ackers in Bewegung. Im nächsten Moment tauchen zwei weitere Rehe aus dem Wald auf und dann noch zwei.

Wie seltsam, denkt er. Sie kommen doch sonst immer erst in der Dämmerung auf den Acker hinaus. Hat sie etwas erschreckt? Seine Augen folgen ihnen, bis sie hinter der Anhöhe verschwin­den. Dann blickt er ein letztes Mal zum Lichtschein der flammen­den Engel in der Ferne, ehe er sich umdreht, um seinem Bruder entgegenzugehen.

Im gleichen Moment schallt Kains Ruf übers Feld.

»Abel!«

Er glaubt, der Ruf sei ein Ausdruck von Ungeduld, und versucht, möglichst munter zu klingen, als er antwortet.

»Ich komme ja schon!«, ruft er. »Warte einfach!«

»Nein!«, ruft sein Bruder zurück. »Ich komme. Du wartest da!«

Ein wenig erstaunt befolgt Abel Kains Anweisung. Er friert mittlerweile und reibt sich mit den Händen ein paar Mal über die Unterarme, während er zur hageren Gestalt seines Bruders hinü­berspäht, der sich ihm mit langen Schritten auf dem Weg nähert, der am Bach entlang führt. Es muss etwas passiert sein. Aber die Bewegungen seines Bruders enthüllen nichts, er geht, wie er im­mer schon gegangen ist, mit vorgeneigtem Oberkörper, die Augen auf den Erdboden gerichtet, als hätte er Angst, die Verbindung zum Untergrund könnte abreißen, wenn er nicht Acht gibt.

Mein Bruder Kain, denkt er und muss lächeln. Selbst wenn sein Bruder alleine ist und sich unbeobachtet wähnt, strahlt seine ganze Gestalt Widerwillen aus. Als wäre ihm alles, was er tut, selbst eine so simple Sache, wie den einen Fuß zu heben und ihn vor den an­deren zu setzen, aufgezwungen worden. Widerwillen und Miss­trauen. Das ist Kain. Lächelt man ihn an, wirkt das Lächeln nicht ansteckend, wie es bei normalen Menschen der Fall ist, oh nein: Augenblicklich blickt Kain auf und durchbohrt einen mit seinem Misstrauen.

Oh, wenn er sich doch wenigstens manchmal gehen lassen könnte! Wenn er aufhören würde, die Grenzen seines Selbst zu bewachen, und sich allem öffnen könnte, was um ihn herum vor­geht!

Abel weiß schon gar nicht mehr, wie oft er versucht hat, den Bruder mitzureißen. Aber Kain istunverrückbar. Man...

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