Altes Herz geht auf die Reise - Roman

Altes Herz geht auf die Reise - Roman

von: Hans Fallada

Books on Demand, 2018

ISBN: 9783752860641

Sprache: Deutsch

359 Seiten, Download: 2146 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Altes Herz geht auf die Reise - Roman



1. Kapitel


Worin Professor Gotthold Kittguß von einem Engel besucht und nach Unsadel gesandt wird

 

Es war einmal ein alter Professor namens Gotthold Kittguß, der hatte weder Weib noch Kind. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr war er schlecht und recht an einem Berliner Gymnasium Lehrer der christ-evangelischen Religion gewesen. Zudem hatte er die jüngeren Jahrgänge in die lateinische und griechische Sprache eingeführt, während er mit den älteren, soweit sie sich später der Gottesgelehrsamkeit widmen wollten, das Neue Testament im griechischen Text gelesen und das Hebräische exerziert hatte.

Diese fünfundzwanzig Jahre seines Lehrerdaseins hatte eine wahre Liebe zu den heranwachsenden Knaben erwärmt, und sein eifrigstes Bemühen war dahin gegangen, ihnen nicht nur die Schrift, sondern auch den Geist, der in dieser Schrift wohnt, recht faßlich zu machen. Viele Male schon hatte er den Jungen das Neue Testament erklärt und damit auch die Offenbarung Johannis, aber nie hatte er versucht, gerade an dieses letzte und ihm sehr liebe Buch der Heiligen Schrift mit eigenen Deutungen heranzugehen.

»Da aber ließ mir«, wie er in seinem Tagebuch niedergeschrieben, »der Herr mit einemmal ein Licht aufgehen, durch das mir die Pforte zum göttlichen Bau der Offenbarung aufgeschlossen ward. ›Wie‹, fragte ich mich, ›wenn zwar für die Herrlichkeit des vollendeten Reiches Gottes keine Zeitschranke gesetzt wäre, wohl aber für den vorangehenden Jammer, welcher der Weg zu dieser Herrlichkeit ist?‹ Mit der stärksten Klarheit und Überzeugung stellte sich diese Vermutung vor meine Seele, und ich ward so sehr von ihr eingenommen, daß ich nicht mehr imstande war, die Unterrichtung meiner Knaben fortzusetzen ...«

Trotz mancher an ihn gerichteten Bitte von Mitlehrenden und Schülern suchte er um seine Pensionierung nach, die ihm schließlich auch gewährt wurde. Und nun zog er sich ganz in seine Berechnungen, Textvergleichungen und Schriftdeutungen zurück.

Nur einem Studienfreunde von ehemals, einem Geistlichen Thürke im Mecklenburger Lande, hatte er von den tieferen Gründen zur Veränderung seiner Lebensumstände Mitteilung gemacht, und zwar mit den Briefworten: »Es ist mir nicht möglich, Dir eine Nachricht vorzuenthalten, von der ich gleichwohl wünschen muß, daß Du sie vorerst ganz für Dich behältst ... Unter dem Beistand des Herrn habe ich die Zahl des Tieres gefunden. Dieser apokalyptische Schlüssel ist von Wichtigkeit, denn diejenigen, welche jetzt geboren sind, kommen in wunderbare Zeiten hinein. Auch Du hast Dich darauf gefaßt zu machen, denn Weisheit wird nottun ...«

Dies war im Dezember geschrieben, und es wurde März, ehe Professor Kittguß eine Antwort seines Freundes Thürke in Händen hielt: Es sei ihnen ein Töchterchen geboren, das in der Taufe den Namen Rosemarie erhalten habe, und als Taufpaten habe man auch den Herrn Professor Gotthold Kittguß in das Kirchenbuch eingetragen, weswegen man seine Zustimmung erhoffe. – Es freuten den Freund die wunderbaren Zeiten, denen dies Mägdlein entgegengehe! Indessen möge er, der Kittguß, seine Untersuchungen beschleunigen und sobald wie tunlich abreisen in die ländliche Pfarre, sich das Patenkind zu beschauen. Auch auf dem Lande fehle es nicht an Zeichen kommender guter Zeiten: in diesem Jahre sei der Frühling eher, denn je erhört, gekommen, auf dem Kirchgang seien die Schwalben schon über dem Täufling mit ihrem Zwi-Wit hingeschossen ...

Professor Kittguß hatte einen Augenblick nachsinnend über diesem Brief gesessen, in seiner dunklen Wohnung war es für eine kurze Frist hell gewesen; er hatte den Brief auch beantworten wollen. Dann aber war er zwischen andere Papiere geraten, die Berechnungen, was eine halbe Zeit, ein καιρός, und eine gemessene Ewigkeit, ein αἰών seien, hatten den Professor wieder ganz gefangengenommen. Und so blieb der Brief unbeantwortet und vergessen, durch sechzehn Jahre, wie die ganze Umwelt vergessen und ohne Lebenszeichen vom Professor blieb.

Wir haben ihn uns in all diesen fast nur hinter dem Schreibtisch verbrachten Jahren vorzustellen als einen immer noch ansehnlichen, großen Mann mit einem breiten, fleischigen, weißen Gesicht, festem Kinn, starken, dunklen Augenbrauen, braunen, freundlichen, aber etwas fremden Augen und sorgfältig gescheiteltem, weißem, etwas gewelltem Haar. Er gab viel auf Sauberkeit, stets war er glatt rasiert, seine weißen Halsbinden waren sorgfältig gestärkt und geplättet, seine weißen, sehr kleinen, etwas vollen Hände, an deren Handgelenken erst da und dort der erste gelbe Altersfleck auftauchte, trugen trotz aller Bücher und Schreibereien nie ein Spürchen Staub oder Tinte.

Betreut wurde der Professor von der Witwe Müller, die hinten in der Küchenregion lautlos wirtschaftete, lautlos ihm das Essen hinstellte, an jedem Sonnabend ungefragt die frische Wäsche über den Stuhl legte und nie ein überflüssiges Wort sprach.

Die beiden waren so ineinander eingelebt, daß sie oft viele Wochen nicht einmal miteinander sprachen. An jedem Morgen jedes Monatsletzten fand Professor Kittguß über seinen Schreibtischsessel gebreitet liegen: den Mantel, dazu den Hut und den Stock. Aus einer Lade hob er dann das Sparbuch, ging langsam durch die Straßen zu seiner Kasse, wartete bedächtig versonnen am Schalter, bis er angesprochen wurde, hob das – immer gleiche – Wirtschaftsgeld ab, ließ den Rest der Pension seinem Guthaben zuschreiben und ging langsam – jetzt schon wieder voll mit seiner Arbeit beschäftigt – nach Haus. Dort wartete bereits im Flur die Müllern – nahm Mantel, Hut, Stock und Wirtschaftsgeld wortlos entgegen, und Professor Kittguß setzte sich wieder für einen neuen Monat an seine geduldige, grüblerische Arbeit.

Zu Beginn seiner Studien hatte er in der Erleuchtung gemeint, dem Ziele ganz nahe zu sein. Aber je länger er arbeitete, um so ferner schien es zu rücken. Er saß und sann und grübelte über jedem Wort, und die Jahre rannen dahin. Aber wenn wir von ihrer sechzehn gesprochen haben, so muß bemerkt werden, daß Professor Kittguß von dieser Zahl nichts wußte, denn sie waren ihm alle wie ein Tag. Daß er selbst nun schon stark auf die siebziger Jahre seines Lebensalters losmarschierte, war ihm noch nie bewußt geworden über der Auslegung eines Briefes, wie dieser ist: »Und ich hörete eine Stimme in der Mitte der vier Tiere sagen: Ein Vierling Weizen um einen Zehner und drei Vierling Gersten um einen Zehner, und dem Öl und dem Wein tue kein Leid.«

Er saß und las und sann und schlug nach und bedachte dieses und jenes, und schließlich schrieb er nieder: »Hier ist die Rede von einer Zeit, die für das Öl und den Wein besser ist als für die Gerste und den Weizen. Alles miteinander aber zielt auf eine gemäßigte Teuerung. Weizen und Gerste, Öl und Wein sind die gemeinsten und nötigsten Lebensmittel. Also hält der hier gegebene Befehl gar viel in sich. Unter Trajans Regierung hat es, besonders im Süden, in Ägypten, das sonst ein fruchtbares Land und vieler Völker Kornboden war, eine namhafte Teuerung gegeben. Wenn der Nil sich nicht hoch genug, sondern unter vierzehn Schuh ergoß, gab es gewiß Teuerungen, wie Plinius Buch 5, Kapitel 9 bezeugt. Anno 110 im dreizehnten Jahre Trajans stieg der Nil nur auf sieben Schuh, wie Harduinus mit einer alten Münze beweist ...«

So weit war Professor Kittguß mit seiner Auslegung der Offenbarung Johannis an diesem trüben Oktobernachmittag des Jahres 1912 gekommen, als ihm bewußt ward, daß es an seiner Tür gepocht hatte, daß jemand an seinem Schreibtisch stand. Langsam und ein wenig widerwillig blickte er hoch und sah in das Gesicht der Witwe Müller. Dieses Gesicht drückte so vielerlei aus, vom Unwillen über die Störung an, die sie verursachen mußte, bis zu einem gewissen, ziemlich deutlichen Ekel, daß er ganz unwillkürlich sein Schweigen brach und fragte: »Nun, Witwe Müller, was gibt es?«

»Ein Junge«, flüsterte die Witwe Müller unwillig.

»Also ein Junge«, antwortete der Professor beruhigend, und eine Erinnerung an seine Lehrerjahre kam ihm. Er sah zur Tür und meinte schon den Klassenprimus Porzig eintreten zu sehen, die rote Schülermütze mit dem weißen Band in der Hand. Manchmal hatte Porzig – oder auch ein anderer – ihn in solch dämmriger Stunde aufgesucht und hatte die eine oder andere Frage gestellt, die schließlich alle darauf hinausliefen: wenn ich gläubig bin, muß ich alles glauben?

Wie eine Vorahnung kommender Ereignisse rührte den alten Professor ein Erinnern an jenes holde, vertrauensvolle Ehemals an – er sah auf die Tür, die Müllern ...

Er vergaß, daß der Klassenprimus Porzig jetzt ein Mann Mitte der Dreißiger sein mußte, daß ihm eine sehr lange Spanne Zeit über dem Papier zerronnen war, daß es unter den jetzt Jungen niemanden gab, der auch nur seinen Namen wußte.

Beinahe lächelnd sagte der alte Mann: »Und warum kommt der Junge nicht herein, Frau Müller?«

Die Müller wußte viel von ihrem Herrn, sie hatte ihn schon verstanden. »Nicht solch ein Junge«, murmelte sie unwillig.

»Nun, was es auch für ein Junge sei«, sagte der Professor fröhlich und stand groß und stattlich hinter seinem Schreibtisch auf, »lassen Sie ihn herein, Witwe Müller. Unsere Tür ist niemandem verschlossen.«

Er nickte ihr aufmunternd zu und ging selbst, das Deckenlicht einzuschalten. Dann blieb...

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