Die Bibliothekarinnen von Renens - Reden

Die Bibliothekarinnen von Renens - Reden

von: Karl Markus Gauss

Otto Müller Verlag, 2018

ISBN: 9783701362608

Sprache: Deutsch

170 Seiten, Download: 521 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Bibliothekarinnen von Renens - Reden



Die Geselligkeit freier Menschen


Vom Reden zur Rede


Vielleicht fing es damit an, dass ich immer der Jüngste und Kleinste war. Ich hatte drei ältere Brüder, die über Dinge sprachen, von denen ich nichts verstand, und in der Gegend, in der wir aufwuchsen, liefen lauter raue Buben herum, die mich umstießen, zur Seite schubsten, verscheuchten. Sicherlich wird es in der Vorstadtsiedlung, die zum wachsenden Raum meiner Selbsterkundung wurde, auch Gleichaltrige und Jüngere gegeben haben, aber die fielen wiederum mir nicht auf, und auf die Idee, mich zu ihnen zu gesellen und mit ihnen die unserem Alter gemäßen Spiele zu spielen, bin ich nicht gekommen. Nein, so weit ich mich zurückerinnern kann, war ich von jeher darauf aus, mich unter den Älteren zu bewähren und mich in ihrem Kreise zu behaupten. Ich ging noch nicht zur Schule, da hatte ich bereits etwas gefunden, das mir ihre Aufmerksamkeit sicherte, und da ich sie, die zwei oder mehr Jahre vor mir geboren wurden, nicht an Jahren einholen und so groß, stark, geschickt wie sie werden konnte, musste es etwas Anderes sein, das mit körperlichen Kräften nichts zu tun hatte, ja diese ersetzte und in gewissem Sinne sogar überbot. Es war das Mundwerk, in dem ich mich wie von selbst ausgebildet hatte, die Fähigkeit, mit schnell gefundenen frechen Worten und treffenden Bemerkungen meine Anwesenheit zu bezeugen und zuerst beachtet, dann geachtet zu werden. Dazu kamen bald die haarsträubenden Geschichten, die ich erzählte, früh darauf versessen, dass man mir zuhöre, und von denen die Übelwollenden unter den Erwachsenen, als zeuge es von meinem fragwürdigen Charakter, geradezu verärgert sagten, es wären nichts als Räuber- und Lügengeschichten.

Wenig hat mich als Kind so angetrieben wie der Wunsch, mir meinen Platz in der kleinen Welt der Siedlung redend zu erobern, und bei keiner Sache war ich so erfolgreich wie in diesem Streben. Der Beifall, der mir für meine Schlagfertigkeit gezollt wurde, zu der auch die Ruchlosigkeit gehörte, Stärkere in ihren Schwächen bloßzustellen, war mir der liebste, den ich bekommen konnte. Meine heroischen Taten wollte ich durchaus als Maulheld bestreiten, und tatsächlich verstehe ich bis heute nicht, wie man den Charakter des Maulhelden so ins Verächtliche wenden kann, ist er doch einer, der sich nicht ins Gefecht der Waffen und Körper wirft, sondern versucht, seine Sache mit nichts als Worten zu verfechten. Wie hätte ich, der körperlich Schwächere, mich anders als Held erweisen können als dadurch, dass ich mich furchtlos unter die Größeren stellte und einzig mit meiner Rede für mich einstand? Prügel setzte es genug, denn mancher, der mir an Kräften weit überlegen war, aber sich gegen meine Sprüche nicht zu verteidigen wusste, hat sich jäh auf mich gestürzt und mich in einer kurzen wüsten Rauferei niedergerungen; dieses Sieges konnte er aber nicht froh werden, war er doch das Eingeständnis, dass er meiner anders als mit roher Gewalt nicht Herr zu werden wusste.

Ich konnte darauf vertrauen, dass es mir nie die Rede verschlagen wird, und dieses, fast möchte ich sagen, Urvertrauen hat mich nicht gerade unverwundbar gemacht, aber doch mutiger, als es meinem ängstlichen Naturell entsprach. Was immer mir an Bösem widerfahren würde, ich wusste, dass mich die Fähigkeit, es am Ende immerhin mit einem geringschätzigen Wort abzutun, nicht verlassen werde. So habe ich meine Persönlichkeit gewissermaßen redend entwickelt und die Welt redend zu der meinen gemacht.

Die Beredsamkeit hat ihr humanes und ihr gefährliches Potential. Zu einer freien Gesellschaft, wie ich sie mir vorstelle, gehört die Geselligkeit des offenen Gesprächs; aber es muss ein Gespräch zwischen Freien sein, und nicht eines, in dem die Leute einander übers Ohr hauen oder jene Gewalt zufügen, die nicht strafbar, aber grausam ist wie deren handgreifliche, hierarchische, bürokratische Varianten. Die Reden, die ich viel später, eigentlich erst seit meinem fünfzigsten Jahr, in der Öffentlichkeit zu halten begann, haben mit dem Hang zum Reden und Erzählen, wie er mir von früh auf eigen war, zwar zu tun; gleichwohl ist es etwas anderes, sich für das Ideal der Geselligkeit zu begeistern oder sich in öffentlichen Reden mit Bedacht und Leidenschaft zu bestimmten gesellschaftlichen Fragen zu äußern. Bei diesen geht es nicht darum, spontan auf ein unerwartetes Ereignis zu reagieren oder sich der geistreichen Wechselrede in privater Runde zu erfreuen; so hatten alle meine Reden ihren mehr oder weniger bedeutsamen Anlass, und sie wurden auf Punkt und Komma am Schreibtisch verfasst.

Insofern sind sie gar keine echten öffentlichen Reden, werden diese doch, im Unterschied zu den meinen, nicht aus einem ausgefeilten Manuskript vorgetragen, sondern erst auf dem Podium, am Rednerpult, vor dem Auditorium entwickelt. Kundige und begabte Rednerinnen und Redner wissen zwar, was sie sagen möchten, und überlegen sich im Voraus, wie sie es anstellen werden, rednerisch dorthin zu gelangen, wo sie hinmöchten; aber außer dem Gerüst von Themen, dem Rahmen der Argumente haben sie nicht vieles, was ihnen vorgegeben wäre und an das sie sich halten müssten.

In der griechischen Antike war die Rhetorik die Kunst, sich in geschliffenen Worten, mit überzeugenden Wendungen und auf dramaturgisch klug aufgebaute Weise an jene Volksversammlung zu wenden, die über die politischen Angelegenheiten, also die Entwicklung des Staatswesens entschied. Die berühmtesten Redner Athens, deren Namen wir noch kennen, seien es Sokrates oder Demosthenes, kannten den vorgegebenen Kanon an Stilmitteln, haben sie ihn doch selbst miterschaffen; freilich nutzen sie diesen je nach der Stimmung, in der sie ihre Zuhörer vorfanden, und nach dem Echo, das ihre Ausführungen hervorrief. Ihre Reden waren konzipiert, aber haben ihre Gestalt erst im freien Sprechen gefunden, sie waren Anklage oder Verteidigung, Aufruf oder Absage und wurden gehalten, um zu überzeugen oder zu überreden, zwei Dinge, die die antike Rhetorik noch nicht unterschied. Dem Über-Reden haftete noch nicht das Gewaltsame von heute an, da jemand, indem man ihn überredet, in seiner Integrität angetastet und dazu verlockt wird, gleichsam seine Überzeugung zu wechseln, nicht weil er belehrt, sondern weil er manipuliert wurde.

Die Rhetorik war und ist eine Technik, also etwas, das man erlernen kann, auch wenn es freilich nicht jeder darin zur Meisterschaft bringen wird. Das Technische, Erlernbare prägt die öffentlichen Debatten der Gegenwart auf so verheerende Weise, dass wir es mit professionell geschulten Rednern ohne jedwede Beigabe von Persönlichkeit zu tun bekommen. Wer ein politisches Amt oder eine hohe Position im Geschäftsleben anstrebt, wird heute durch ein gnadenloses Coaching gezwungen, in dem ihm seine eigene Sprache und natürliche Ausdrucksweise geraubt, seine Identität zerlegt und schließlich Stück für Stück wieder neu zusammengebaut wird. Darum verlassen die digital aufgerüsteten rhetorischen Lehranstalten so viele automatenhaft wirkende Sprecher, die dasselbe fünf Mal hintereinander sagen und denen das menschliche Gefühl für Peinlichkeit, das eine große Errungenschaft des zivilisatorischen Prozesses darstellt, ausgetrieben wurde, bis ihnen die souveräne Selbstpräsentation völlig frei von Skrupeln und Bedenken gerät. Es mag der reine Stuss sein, den sie triumphierend verkünden, aber sie wissen sich dabei zu präsentieren, als würden sie sich gerade völlig ehrlich zu einer Frage von großer Dringlichkeit äußern.

Es gibt den Beruf des Redenschreibers, der den Politikern oder den Führungsoffizieren börsennotierter Unternehmen, die periodisch ihre Kleinaktionäre bei Versammlungen überzeugen müssen, jene Manuskripte liefert, die diese dann glaubwürdig so vorzutragen haben, als wäre sie von ihnen selbst aus der Mitte ihres Weltverständnisses geschaffen worden. Ich habe noch keine Rede für jemand anderen geschrieben, bin aber selbst eine Art von Redenschreiber; dieser Verfasser von Reden ist nämlich über die Jahre ein Teil von mir als Autor geworden, wenngleich seine Rolle für meine schriftstellerische Gesamtpersönlichkeit eine bescheidene ist. Denn weder schreibe und halte ich andauernd Reden noch ist es mir unter den Freuden, die mein Beruf für mich bereithält, die größte, meine Reden dann selbst vorzutragen. Indem ich sie schreibe, also schriftlich im Voraus verfasse, gehören meine Reden zu meinem literarischen Werk, während ich ihren öffentlichen Vortrag für eine Art von staatsbürgerlichem Wirken halte. In der Literatur geht es mir freilich nie darum, jemanden zu überzeugen oder gar zu überreden, sondern darum, Zeugnis zu geben: von mir, von meinem Versuch, mir die Welt in der Nähe und Ferne anzueignen, von dieser Welt selbst. Das gilt für meine Reportagen und Reiseerzählungen, für die Journale und Essays, für jedwede Form von Prosa, die ich schreibe, also auch für meine Reden.

Diese gehören zu meiner...

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