Die Überwindung der Schwerkraft - Roman

Die Überwindung der Schwerkraft - Roman

von: Heinz Helle

Suhrkamp, 2018

ISBN: 9783518758892

Sprache: Deutsch

180 Seiten, Download: 2406 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Überwindung der Schwerkraft - Roman



Bald bin ich so alt


Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb. Vielleicht denke ich deshalb in letzter Zeit wieder öfter an ihn, an die Jahre, als seine Krankheit langsam unübersehbar wurde und wir uns zunächst etwas näherkamen, bis wir uns plötzlich verloren. Es ist für mich nicht ganz leicht, zu begreifen, was damals geschah zwischen uns und warum es mir trotz der Vertrautheit, die ich spürte, wenn wir zusammen waren, so schwerfiel, ihm zu widersprechen. Auch heute, nach mehr als sieben Jahren, kommt mir sein Tod seltsam irreal vor, und obwohl er in meinem Alltag so fundamental abwesend ist, dass ich manchmal beinahe zu vergessen scheine, dass es ihn gab, fühle ich dann wiederum, wenn ich sein Bild betrachte, noch immer genauso wie früher, als er am Leben war. Vielleicht ist etwas von ihm ja noch hier, in mir, in den Dingen, die wir gemeinsam gesehen und über die wir gesprochen haben und nachgedacht, feine Spuren auf Gehwegplatten oder Muster in Nervenzellen, Linien, die auf einen anderen Ort verweisen und eine andere Zeit. Vielleicht habe ich auch einfach immer noch nicht verstanden, was die Worte mein Bruder ist tot bedeuten, und das Kind in mir weigert sich, anzuerkennen, dass sich etwas verändert hat zwischen uns, in dem Moment, als ich eine Kiste im Regen in eine Grube sinken sah, vor einem Holzkreuz mit seinem Namen. An dem Abend, an dem ich meinen Bruder zum letzten Mal traf, schrieb ich ihm einen Brief. Er hatte ein paar Minuten vorher wortlos meine Wohnung verlassen, wegen irgendeiner Nichtigkeit, er war manchmal sehr empfindlich, wenn er betrunken war, und ich hatte das Gefühl, dass er übertrieb, also schrieb ich ihm. Ich weiß noch, dass ich mit Bleistift schrieb, was ungewöhnlich für mich war, und ich erinnere mich auch noch daran, dass die Buchstaben immer größer wurden mit jeder Seite, die ich umblätterte in meinem Notizbuch. Daran, dass ich in mein Notizbuch schrieb und nicht auf das schöne Briefpapier, das mir meine Großmutter früher Jahr für Jahr zu Weihnachten schenkte, merkte ich, dass ich gar nicht wirklich vorhatte, diesen Brief abzuschicken, und als mir das bewusst wurde, wurde der Ton immer heftiger, immer rücksichtsloser und ausfallender, was mich erstaunte, weil mir mein Bruder ja nichts getan hatte, außer mich zu ein paar tausend unnötigen Bieren und Schnäpsen und Zigaretten zu überreden, die ich eigentlich auch hätte ablehnen können, wenn ich gewusst hätte wie, und ich weiß nicht, ob er wusste, dass ich nicht wusste wie, aber manchmal denke ich, dass er es vielleicht hätte wissen können, ihm fiel es auch nicht leicht, Nein zu sagen, also hätte er ahnen können, dass ich auf keinen Fall Nein sagen würde, wenn er an meiner Tür klingeln würde mitten in der Nacht, und in dem Moment klingelte es zum zweiten Mal in dieser Nacht an meiner Tür, und diesmal nahm ich sofort Jacke, Mütze und Schal, zog meine Stiefel an, und statt den Summer zu betätigen, trampelte ich laut und deutlich die Treppe hinunter, zuerst vorwurfsvoll, dann erleichtert, nicht mehr an einem Brief schreiben zu müssen, den ich sowieso niemals abschicken würde, sondern stattdessen weiter Bier trinken zu können mit meinem Bruder, und die Tatsache, dass er kaum eine Viertelstunde vorher meine Wohnung wortlos verlassen hatte, kommentierten wir selbstverständlich nicht. Stattdessen überlegten wir, wo man um diese Uhrzeit noch hingehen könnte, normalerweise gingen wir in den Bachwirt, aber den hatte er erst vor einer Stunde zugesperrt, sonst wäre er ja nicht bei mir gewesen, da wollte er so schnell nicht wieder hin, nein, wir mussten etwas anderes finden, etwas, das lange aufhatte, an einem Dienstag, oder war es Mittwoch, also überquerten wir vorsichtig das mit Rollsplitt übersäte Eis unter den dunklen, hohen Buchen am Spielplatz schräg gegenüber meiner Wohnung und bogen dann ein in die Jahnstraße, die auf die Fraunhoferstraße führt, da würde es sicher was geben, und als ich nach einem Blick zu den feinen Flocken in den weißen Lichtkegeln der Straßenlaternen vorsichtig Sunshine Pub sagte, sagte mein Bruder, Theaterklause, was mich überraschte, ich dachte, er hasste die Leute da, seit er da nicht mehr arbeitete, oder arbeitete er da nicht mehr, seit er die Leute hasste, jedenfalls war klar, dass wir in die Theaterklause gehen würden, wenn er das vorschlug, um diese Uhrzeit und nach der Menge Bier, die wir beide getrunken hatten, bei mir zu Hause, und wenn ich ganz ehrlich war, war es mir auch egal, wo wir landen würden, solange es nicht der Flaschenöffner war, und dann überquerten wir die Fraunhoferstraße und passierten das dunkle, verlassene Wirtshaus Fraunhofer und gingen die Klenzestraße entlang zur Theaterklause, die ebenfalls dunkel war und verlassen, und dann rüttelten erst er und dann ich an der Tür, und dann sagte ich, schade, schon zu. Wenig später standen wir im Flaschenöffner, mein Bruder ging an die Bar, und ich hoffte, dass man ihn bald bemerken würde, er lächelte zwar noch einmal gespielt arrogant und ungläubig zu mir herüber, aber danach verfinsterte sich seine Miene langsam, und ich meinte schon, darin etwas aufblitzen zu sehen von der alten, kindlichen Verzweiflung über das Nicht-beachtet-Werden, doch in dem Moment drehte der bullige, schnauzbärtige Mann hinter der Theke seinen Kopf und sah meinen Bruder und ging langsam hin und fiel ihm um den Hals, ohne seine dicken Backen und buschigen Brauen irgendwie zu bewegen. Es hatte etwas Komisches, dieses brutale Gesicht über der Schulter meines Bruders und darunter zwei speckige Arme, die einen dünnen Rücken drückten, manche nehmen zu, wenn sie trinken, andere nehmen ab, und dann sah der Mann mich und lächelte natürlich immer noch nicht, sondern nickte nur langsam, und dann war er plötzlich am Zapfhahn und machte uns wie jedes Mal zwei Halbe Augustiner Hell, obwohl er wusste, dass mein Bruder lieber Weißbier trank, und deswegen kam ich so ungern hierher, weil ich jedes Mal unsicher war, wie mein Bruder diese Bevormundung aufnehmen würde, aber an jenem Abend schien er sich nicht besonders dafür zu interessieren, er war durstig, wir stießen an und nahmen beide einen großen Schluck, dann stellten wir die Gläser ab, und Schorsch, oder Max, oder wie der Wirt vom Flaschenöffner auch immer hieß, setzte sich zu uns und stützte sein schweres Gesicht auf seine schweren Arme und sah mit uns raus auf die Fraunhoferstraße, wo auf einmal sehr viel dickere Flocken zu fallen begannen. Als Schorsch, oder Max, seinen Kopf zu mir drehte, nickte ich zustimmend, so als wollte ich sagen, dein Augustiner schmeckt mir besonders, oder, Wahnsinn, Schnee, oder so, ein Reflex zur Herstellung von Harmonie, wie meistens, wenn größere, ältere oder sonst wie mächtigere Männer mich ansahen, und dann fragte Schorsch, oder Max, meinen Bruder, ob denn sein kleiner Bruder auch sprechen könne, und mein großer Bruder sagte, lass meinen kleinen Bruder in Ruhe. Ich war von dieser Reaktion nicht überrascht, aber so gerührt, dass ich Herzklopfen bekam, und als ich sah, wie sich der Blick meines Bruders verhärtete, dachte ich angestrengt nach, was ich sagen könnte, um die Situation etwas aufzulockern, ich wusste, dass mein Bruder, wenn er in der richtigen Stimmung war, wahrscheinlich jemanden töten würde für mich, was auch immer das genau bedeutete, jemanden für jemanden töten, oder sterben für etwas, also fragte ich den Flaschenöffner-Wirt, aus dessen Boxen gerade First time von Robin Beck ertönte, ob er auch Roxette hätte, It must have been love. Kurz darauf standen mein Bruder und ich und drei schon etwas mitgenommene Stammgäste auf der Sitzbank in der Ecke, die Arme umeinandergeschlungen, und grölten die Worte

But I lost it somehow. Ich weiß nicht, ob es um mich ging oder um die Vereinigten Staaten, die mein Bruder manchmal ähnlich heftig verteidigte, das Heimatland seiner Mutter, jedenfalls schubste er einen unserer Mitsänger plötzlich ein wenig zur Seite, woraufhin der ihn von der Bank beförderte, mein Bruder fing sich aber gut ab, stand sofort wieder, griff mich am Arm und ging mit mir nach draußen, und mit der Hand, die mich nicht hielt, zeigte er der Welt den Mittelfinger. Die kalte Luft machte uns sofort nüchterner, ebenso die Tatsache, dass die dicken weißen Flocken, die vom Inneren der Bar aus noch an Russland erinnert hatten oder an Kanada, sich hier draußen, auf einem Gehsteig in München, in nichts auflösten, und mein Bruder sagte, dass er es nicht fassen kann, dass Amerika, obwohl es die...

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