Gott der Barbaren - Roman

Gott der Barbaren - Roman

von: Stephan Thome

Suhrkamp, 2018

ISBN: 9783518759080

Sprache: Deutsch

718 Seiten, Download: 41937 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Gott der Barbaren - Roman



1 Der Hafen der Düfte


Shanghai, im Sommer 1860

Als ich noch eine Frau und zwei Hände hatte, war ich ein glücklicher Mann. Das wird mir erst bewusst, seit ich in Shanghai bin und viel Zeit habe nachzudenken. Der Juni neigt sich dem Ende zu, und in dem Haus, in dem ich liege, stöhnt das Gebälk unter der Hitze. Vom nahen Hafen dringt das Gebrodel der Massen herüber, die Shanghai verlassen wollen, bevor die Rebellen kommen. Bis zu zehn Silberdollar, wurde mir erzählt, verlangen die Bootsbetreiber, nur um Passagiere auf die andere Seite des Flusses zu bringen, wo sie keineswegs sicher, sondern sich selbst überlassen sind. Aus dem Yangtze-Tal strömen immer neue Flüchtlinge herbei, wie eine riesige Bugwelle treibt sie der Krieg vor sich her. Wäre mir unterwegs nicht das Unglück zugestoßen, das mich seit einem Dreivierteljahr ans Bett fesselt, wäre ich längst in Nanking, der Himmlischen Hauptstadt am Unterlauf des großen Flusses. Oder nicht? Wäre etwas anderes dazwischengekommen, das mich mehr als die linke Hand gekostet hätte?

Wenigstens bin ich Rechtshänder. Zwischen den Fieberattacken, die mich in regelmäßigen Abständen heimsuchen, gibt es nichts zu tun, und meine Gastgeber ‒ Reverend Jenkins von der London Missionary Society und seine Frau Mary Ann ‒ haben mir ein paar Bögen Papier ins Zimmer gelegt. Für Briefe, meinten sie, aber wem sollte ich schreiben? Mit Elisabeth rede ich zwar gelegentlich, aber nur nachts, wenn der Schlaf ausbleibt und Erinnerungen an die Stelle der Träume treten. Dann denke ich über alles nach, was seit dem Beginn meiner Reise geschehen ist. Für jeden von uns gibt es eine Grenze dessen, was er aushalten kann, ohne ein anderer zu werden, und ich hatte meine schon lange vor jenem verhängnisvollen Tag auf dem Poyang-See überschritten. Ohne es zu merken. Nachdem die Revolution zu Hause gescheitert war, wollte ich in Amerika ein neues Leben beginnen, aber es kam anders, und jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob es das überhaupt gibt ‒ ein neues Leben. Wir folgen unserem Weg, ohne zu wissen, wohin er führt. Mich verschlug es über Rotterdam und Singapur nach Hongkong, wo ich für kurze Zeit glücklich war, dann immer tiefer hinein in dieses vom Krieg geschundene Land. Auf dem See war ein chinesischer Pirat schneller mit der Waffe als ich, und nicht einmal Alonzo Potter konnte meine Hand retten. Jetzt habe ich alles verloren, wenig zu bereuen und keine Ahnung, wie es weitergehen soll.

Kann man mit einer Hand helfen, den Kaiser von China zu stürzen?

Wann und in welcher Stärke die Rebellen Shanghai erreichen werden, weiß niemand. Bis vor wenigen Wochen waren sie in Nanking eingeschlossen, nun überrennen ihre Armeen das Yangtze-Tal und sorgen für Panik in den Städten. Wie einst Napoleons Soldaten in Italien tauchen sie immer im Rücken des Feindes auf, ohne sich von Flüssen oder Bergen aufhalten zu lassen. Dem North China Herald zufolge soll ihnen Suzhou bereits gehören, und die Rauchsäule über Hangzhou habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ein Aufstand von armen Bauern und Köhlern aus dem Süden, die glauben, Gottes Sohn zu folgen, dem Himmlischen König, der außerdem der Vetter meines besten Freundes ist. Das Schreiben, das mich nach Nanking einlädt, steckt in der Tasche meines Gewands, zerfleddert und aufgeweicht, aber das Siegel kann man noch erkennen. Fragt sich nur, ob von mir genug übrig ist, um den Weg zu wagen. Stromaufwärts, mitten durch die große Flut, die ganz China zu verwüsten droht.

Philipp Johann Neukamp ist mein Name. Ältester Sohn eines Zimmermeisters aus dem Märkischen, aber ohne Beruf, seit ich vor einem Jahr aus der Basler Missionsgesellschaft ausgeschieden bin. Was danach passiert ist, habe ich noch nie jemandem erzählt, und um die Geschehnisse verständlich zu machen, muss ich ein wenig ausholen. Die Ereignisse von 48 darf ich als bekannt voraussetzen; meine Rolle darin war nicht wichtig, trotzdem musste ich, als alles vorbei war, für eine Weile aus dem Gebiet des Deutschen Bundes verschwinden. In den Niederlanden wollte ich mir das Geld für eine Schiffspassage ins einzige Land der Welt verdienen, das nicht von einem Fürsten regiert wird, sondern von freien Männern. Mit den Händen zu arbeiten, war nicht neu für mich. In Scheunen, überfüllten Schlafsälen oder unter freiem Himmel zu schlafen, machte mir wenig aus. Zwei Gaben sind in meinem Leben hilfreich gewesen, vor allem später, nach der Ankunft in China: ein Talent für fremde Sprachen und eine robuste Gesundheit. Im Hafen von Rotterdam gab es ausreichend Kisten zu schleppen, und nach ein paar Monaten verstand ich genug Holländisch, um eine bessere Arbeit zu finden. Jong & Söhne, eine Werkstatt, die die Innenräume von Schiffen ausstattete, stellte mich ein, aber die Summe, die ich für die Überfahrt nach Amerika gebraucht hätte, blieb ein fernes Ziel. Dann traf ich einen Mann, der mit einer einzigen Bemerkung meinem Leben buchstäblich eine neue Richtung gab. Vielleicht ist das meine dritte Gabe, zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Mann zu treffen. Auf meiner deutschen Wanderschaft war ich Robert Blum begegnet, der mich, obwohl ich nur sechs Jahre die Schule besucht hatte, zu den Treffen der Schillerfreunde mitnahm. Blum sorgte dafür, dass ich vom obersten Rang des Leipziger Theaters aus den Don Carlos sehen durfte, und sagte mir jenen Satz, dessen Wahrheit ich vorher nur gespürt hatte, ohne sie zu verstehen: Monarchie ist Hochverrat am Volk. Wenn ich könnte, würde ich heute noch nach Wien fahren und dem alten Windisch-Grätz einen Dolch in sein verdorrtes Herz stoßen, aber das ist ein anderes Thema.

In Rotterdam traf ich Karl Gützlaff.

Es war Ende 1849, in einem milden, verregneten Winter. Auf dem Weg zur Arbeit sah ich den Aushang für den Vortrag eines deutschen Missionars, der über seine Erlebnisse in China berichten sollte, und nach Feierabend hatte ich nichts Besseres zu tun. Gützlaff reiste damals durch Europa, um Geld für seinen Chinesischen Verein zu sammeln, und wo er auftrat, füllte er die Säle, auch die Laurenskerk in Rotterdam. Im Gewand eines chinesischen Fischers sprach er wie ein Prophet des Alten Testaments, allerdings auf Deutsch und Holländisch und mit so vielen Einsprengseln in fremden Zungen, dass mir beim Zuhören schwindlig wurde. Er erzählte von bitterer Armut und korrupten Mandarinen, die das zu sein schienen, was ich als Polizeiinspektoren und Zensoren kannte, von Eltern, die ihre Kinder zum Betteln zwangen, damit sie nicht verhungerten, was oft genug trotzdem geschah. Die Zuhörer hingen an seinen Lippen, nach dem Vortrag stiegen sie förmlich übereinander, um Geld in die Spendenbüchsen zu stecken. Für mich war es ein Erlebnis wie der Don Carlos wenige Jahre zuvor, aber da ich kein Geld hatte, sprach ich den Vortragenden an und fragte, was ich sonst tun könnte. Ich wusste selbst nicht, woran ich dachte. Karl Gützlaff hatte eine Idee. »Gesund und kräftig?«, fragte er und musterte mich.

Ich nickte entschieden.

»Gläubig?«

Ich nickte.

»Komm nach China«, sagte er. »Dort brauchen wir Männer wie dich.« Er trug einen breiten Schnurrbart, hatte ein einnehmendes Lächeln, und sein Vorschlag war so verrückt, dass ich noch einmal nur nicken konnte.

Dass der Chinesische Verein zu keiner Kirche gehörte, gefiel mir. Er wurde finanziert von Spenden, die entweder Gützlaff selbst einsammelte oder die Unterstützervereine, die in fast jeder Stadt entstanden, die er besuchte, denn niemand beherrschte die Klaviatur von Not und Trost, Mitleid und Hoffnung besser als er. Wo Gützlaff sprach, sahen seine Zuhörer eine Welt, die auf Rettung wartete und deren Rettung nahte. Der Berliner Frauen-Missionsverein für China, der Elisabeth später nach Hongkong schicken sollte, ging ebenso auf Gützlaff zurück wie die niederländische Missionsbrüderschaft, der ich als fünfzehntes Mitglied und mit dem erklärten Ziel beitrat, so bald wie möglich nach Fernost aufzubrechen. Vorher besuchte ich dasselbe Seminar in Rotterdam, das Gützlaff als junger Mann absolviert hatte. Ein gutes Wort seinerseits und ein geschönter Lebenslauf von mir genügten, und man nahm mich auf, die Kosten trug der Verein. Mangelnde Bildung war kein Hindernis, in Missionskreisen hielt man nicht viel von Universitäten, und unter meinen Mitschülern gab es einige, die nicht nur mit der Rechtschreibung im Lateinischen ihre Mühe hatten. Über China lernte ich in den...

Kategorien

Service

Info/Kontakt