Darwin in der Stadt Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel

Darwin in der Stadt Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel

von: Menno Schilthuizen

dtv, 2018

ISBN: 9783423434454

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 3941 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Darwin in der Stadt Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel



VORSTADT


Sie ist von makelloser Gestalt. Ein feinmechanisches Wunderwerk, fix und fertig hergerichtet für sein kurzes Gastspiel auf dieser Welt. Die hauchdünnen, noch fransenlosen Flügel liegen sorgsam gefaltet auf dem kaum merklich atmenden Hinterleib. Ihre sechs gelenkigen, grazil auf die staubige Wand platzierten Beine sind in tadellosem Zustand – jedes zeigt einen kompletten Satz von neun Abschnitten, der noch nicht durch die Kollision mit den Rotorblättern eines Ventilators oder durch die Begegnung mit den Vorderklauen einer Springspinne dezimiert wurde. Die goldgelbborstige Brust ist ein kleines Juwel von einem Kraftwerk, das die geballte Energie der Flugmuskulatur in sich birgt. Sie entzieht mit ihrer schlichten Masse dem Blick des Beobachters fast das unbewegte Gesicht, hinter dem ein Miniaturgehirn die Eingangs- und Ausgangskanäle der Fühler, die Taster und Komplexaugen sowie die im Stech- und Saugrüssel miteinander arbeitenden acht Mundwerkzeuge koordiniert.

Ich stehe im Menschengewimmel eines überhitzten Verbindungsflurs im Bahnhof Liverpool Street der Londoner U-Bahn. Meine Brille in der Hand und die Nase an die gekachelte Wand gedrückt, bewundere ich dieses frisch geschlüpfte Prachtexemplar der hier unten heimischen Stechmücke Culex pipiens molestus. Langsam komme ich zurück aus meiner entomologisch-träumerischen Entrücktheit. Nicht nur dank der gehetzten Passanten, die mit einem jähen, eher vorwurfsvollen als apologetischen »’tschuldigung« auf den Lippen einen Schlenker vollziehen und in letzter Sekunde an dem Zusammenprall mit mir vorbeischrammen; sondern auch, weil ich mit Unbehagen die Überwachungskameras an der Decke registriere und mich daraufhin der wiederholten Durchsage entsinne, in der die Londoner Verkehrsbehörde ihre Fahrgäste dazu auffordert, jedwedes verdächtige Verhalten an das Bahnpersonal zu melden.

Biologen sehen im innerstädtischen Pflaster nicht gerade den geeignetsten Boden für ihre berufliche Betätigung. Zu den ungeschriebenen Regeln der Zunft gehört es, eine dahin gehende Anregung mit der mürrischen Bemerkung abzuwehren, Städte seien doch nur notwendige Übel und die Zeit, die er dort zu verbringen habe, begrenze ein richtiger Biologe auf das unvermeidliche Minimum. Die wirkliche Welt liege außerhalb des städtischen Bereichs, in Gebirgen und Niederungen, Wald und Feld. Wo die wilden Kerle wohnen.

Aber wenn ich ehrlich sein soll, muss ich eine heimliche Liebe zu Städten gestehen. Liebe nicht so sehr zu ihren bis ins Letzte durchgeplanten Teilen, die wie geleckt anmuten und wie geschmiert funktionieren. Sondern eher zu ihrem schmuddeligen organischen Unterbau, der in Winkeln in Erscheinung tritt, die man gerne übersieht, dort, wo der Teppich der Kultur vollends abgewetzt ist und zerfasert. Es ist eine Liebe zum Bauch der Stadt, wo das Artifizielle und das Natürliche sich begegnen und ökologische Beziehungen zueinander eingehen. Ihrer hektischen Betriebsamkeit und ihrem ganz und gar naturfernen Erscheinungsbild zum Trotz, wird die Innenstadt für mein Biologenauge zu einem Arrangement von Mini-Ökosystemen. Selbst hier, in diesen scheinbar sterilen, durchweg von Ziegelstein- und Betonbauten flankierten Straßen des Stadtbezirks Bishopsgate, entdecke ich Lebensformen, die mit hartnäckigem Trotz ihren Platz behaupten. Hier ein Löwenmäulchen, dessen Blüten in wilder Fülle aus einem dahinter nicht mehr wahrnehmbaren Spalt in der verputzten Seitenwand einer Fußgängerbrücke sprießen. Dort die rege Chemie von Zement und sickerndem Abwasser, die schmutzig weiße, glasartige Zapfen gebiert, welche sich dann Radweberspinnen als Verankerungspunkte für ihre rußbesudelten Netze zunutze machen. Smaragdgrüne Moosadern, die sich in den schmalen Lücken zwischen einer zersprungenen Drahtglasscheibe und deren Rahmen ansiedeln, wo sie mit Rostblasen um die Vorherrschaft kämpfen, die durch den Mennigeanstrich vorwärtsdringen. Straßentauben mit wunden Beinen balancieren auf einem Gesims zwischen den dort angebrachten Drahtspitzen. (Direkt darunter hat jemand einen Sticker geklebt, auf dem eine wutschäumende Taube, die Flügel zu Fäusten geballt, verkündet: »Drahtspitzen beschneiden zynisch und repressiv unser Recht auf Versammlungsfreiheit. Der Kampf geht weiter!«) Und eben eine Stechmücke an der Wand eines U-Bahnhof-Verbindungsflurs.

Es ist nicht irgendeine Stechmücke. Culex pipiens molestus ist auch unter dem Namen London Underground mosquito, Londoner U-Bahn-Stechmücke, bekannt. Zu dem kam sie erstens durch das Tohuwabohu, das sie 1940 unter den Londoner Bürgern anrichtete, die im U-Bahnhof Liverpool Street, auf den Bahnsteigen und Gleisen der Central Line, Schutz vor den deutschen Bombenangriffen suchten. Und zweitens dank dem Interesse, das die Genetikerin Katharine Byrne von der University of London in den 1990er-Jahren für diese Plagegeister entwickelte. Byrne begleitete Wartungsmannschaften bei ihren täglichen Expeditionen in die Eingeweide des Londoner U-Bahn-Systems. Sie stieg hinab in die tiefsten Tunnelabschnitte, wo ein Wirrwarr von armdicken Stromkabeln das Backsteinmauerwerk behängt, das schwarz ist vom Bremsbackenabrieb der Züge, und rätselhafte Kreide- oder Sprühfarbechiffren oder uralte Emailleschilder an der Wand die einzigen Hinweise auf den Aufenthaltsort geben. Hier unten lebt und vermehrt sich Culex pipiens molestus. Sie stiehlt das Blut der Pendler und legt ihre Eier in Wasser ab, das sich in Vertiefungen und Hohlräumen sammelt. Daraus holte sich Byrne Larven der Stechmücke.

An sieben verschiedenen Stellen der Central, der Victoria und der Bakerloo Line zog sie Proben larvenhaltigen Wassers, deponierte diese in ihrem Labor, wartete, bis die Larven sich zu ausgewachsenen Mücken (gleich derjenigen, die ich an der Flurwand gesehen habe) entwickelt hatten und extrahierte diesen Proteine für Genanalysen. Vor 20 Jahren erlebte ich mit, wie sie auf einer Tagung in Edinburgh ihre Ergebnisse präsentierte. Obwohl ihre Zuhörerschaft aus erfahrenen Evolutionsbiologen bestand, schaffte sie es, uns alle mitzureißen. Erstens waren die Mückenbevölkerungen jener drei U-Bahnlinien genetisch verschieden voneinander. Das lag, wie wir von Byrne erfuhren, daran, dass die Linien nahezu getrennte Welten bilden, wobei die Mückenschwärme der einzelnen Linien durch die ständige, kolbenartige Hin-und-her-Bewegung der Züge in den eng bemessenen Röhren immer wieder um- und umgerührt und durcheinandergewirbelt werden. Zu einer Genmischung könnten es Stechmücken der Central, der Bakerloo und der Victoria Line nur dann bringen, so Byrne, wenn »sie jeweils allesamt auf dem Bahnhof Oxford Circus«, dem Kreuzungspunkt der drei Linien, »umstiegen«. Doch nicht nur voneinander unterschieden sich die Mückenbevölkerungen der einzelnen U-Bahnlinien. Sie unterschieden sich auch von ihren oberirdischen Verwandten. Nicht nur in den Proteinen, sondern auch in ihrer Lebensweise. Oben auf Londons Straßen nähren sich die Stechmücken nicht von Menschen-, sondern von Vogelblut. Sie brauchen ein Blutmahl, bevor sie ihre Eier ablegen können, sie paaren sich in großen Schwärmen, und sie verbringen den Winter in Kältestarre in einem geeigneten Quartier. Unten in den Röhren saugen die Mücken Pendlerblut und legen Eier ab, ohne zuvor gespeist zu haben; zur Stillung ihrer sexuellen Lust bilden sie keine Paarungsschwärme, sondern erledigen das Geschäft in engen, beschränkten Räumen; und sie sind das ganze Jahr über aktiv.

Seit Byrne ihre Arbeit publiziert hat, ist klar geworden, dass das Vorkommen von Culex pipiens molestus nicht auf London beschränkt ist. Sie ist in U-Bahnen, Kellerräumen und Zisternen auf der ganzen Welt zu Hause, und sie hat ihre Verhaltensformen ihrer menschengemachten Umwelt angepasst. Durch Exemplare, die in Automobile oder Flugzeuge geraten und dort eingeschlossen werden, verbreiten sich ihre Gene von Stadt zu Stadt. Gleichzeitig kreuzt sie sich mit örtlichen überirdischen Stechmücken und nimmt auch aus dieser Quelle Gene auf. Außerdem ist klar geworden, dass all dies, historisch gesehen, ein sehr, sehr junges Geschehen ist – die Evolution der Gemeinen Stechmücke Culex pipiens pipiens zur Culex pipiens molestus vollzog sich wahrscheinlich erst, seitdem unsereins mit der Konstruktion unterirdischer Großbauten begann.

In jenem gedrängt vollen Verbindungsflur im Bahnhof Liverpool Street ein letztes Mal meine eigene Londoner U-Bahn-Stechmücke musternd, stelle ich mir vor, welche unsichtbaren Abwandlungen die Evolution in diesem winzigen, fragilen Körper vollbracht hat. Proteine in den...

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