Was ist mit den Polen los? - Porträt einer widersprüchlichen Nation
von: Marta Kijowska
dtv, 2018
ISBN: 9783423434751
Sprache: Deutsch
208 Seiten, Download: 675 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
DAS HÄSSLICHE SPIEGELBILD
Die Krise des polnischen Selbstwertgefühls
Wenn ein Ausländer, der in Polen lebt oder sich dort immer wieder aufhält, ein schmeichelhaftes Buch über dieses Land und seine Bewohner schreibt, hat es meist eine doppelt positive Wirkung. Seine eigenen Landsleute werden dazu animiert, Polen zu besuchen, und der Teil der Beschriebenen, der es gelesen hat, ist dankbar und versucht umso mehr, diesem – meist übertrieben vorteilhaften – Bild zu entsprechen. Ein besonders sympathisches Beispiel einer solchen Verklärung ist das vor drei Jahren erschienene Buch ›111 Gründe, Polen zu lieben‹ von Matthias Kneip. Schon wenn man diesen Titel liest und dann, beim Blättern, nur einige dieser Gründe erfährt, die bereits in den Überschriften der Kapitel formuliert sind, wundert man sich, wieso nicht längst die Hälfte der Deutschen nach Polen ausgewandert ist (laut Statistiken gibt es in Polen zurzeit etwa 24 000 deutsche Einwanderer, nach inoffiziellen Schätzungen liegt die Zahl aber weit höher). Hier ein paar besonders dringende Gründe nach Kneip: »Weil die Hilfsbereitschaft der Polen umwerfend ist.« – »Weil die Verständigung mit Polen nur selten ein Problem ist.« – »Weil Spontaneität und Improvisation zum Lebensstil gehören.« – »Weil Polen seltener Konflikte offen austragen.« – »Weil Höflichkeit selbstverständlich ist.« – »Weil Polen über alles lachen können.« – »Weil Polen begeisterte Europäer sind.« Und für diejenigen, die Bedenken historischer Natur haben könnten: »Weil die Polen uns den Krieg vergeben haben.«[20]
Was die Polen selbst betrifft, so müssten sie dem Regensburger Autor für den therapeutischen Dienst, den er ihnen mit dem Buch erwiesen hat – inzwischen ist es auch auf Polnisch erschienen – einen weiteren Orden verleihen (einen oder zwei hat er schon). Allerdings könnte jemand fragen, warum sie überhaupt einen Außenstehenden brauchen, der ihnen ihre guten Eigenschaften vor Augen führt. Dafür gibt es vor allem einen Grund: weil sie selbst meistens eine schlechte Meinung von sich als Gemeinschaft haben; der Satz »der Pole hasst die anderen Polen« dürfte die meistgebrauchte Umschreibung dieses Zustands sein. Und darin bestärken sie regelmäßig ihre eigenen Schriftsteller, flankiert durch unzählige Historiker, Journalisten, Soziologen, Psychologen etc. Die Liste der Kritiker des polnischen Nationalcharakters ist mindestens genauso lang wie die der bemängelten Charakterzüge. Ob die Dichter der Romantik, die Schriftsteller des 20. Jahrhunderts oder die Autoren der Gegenwart – viele empfanden bzw. empfinden es als ihre Pflicht, die nationalen Untugenden beim Namen zu nennen, wobei sich manche dieser Kritiken nahezu leitmotivisch durch die Literatur zieht. Etwa die – heute wieder besonders aktuelle – Kritik an der Unfähigkeit der Polen, in Krisensituationen einen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Was der Romantiker Cyprian Kamil Norwid mit der vielzitierten Behauptung, die Polen seien unbestreitbar groß in ihrem Patriotismus, doch ebenso nichtig als Gesellschaft, auszudrücken versuchte, wurde später noch viele Male in der einen oder anderen Form gesagt. Von der Schriftstellerin Maria Dąbrowska zum Beispiel. »Die Polen neigen als Nation zu einer heroischen Ethik, die unter außergewöhnlichen, pathetischen Umständen das Opfer des Lebens und der Habe fordert«, notierte sie einmal in ihrem Tagebuch. »Es fehlt ihnen aber fast völlig die soziale, normale Ethik der Forderungen und Verpflichtungen, die von der jahrhundertealten Tradition des Westens gepflegt wurde und zu einem glücklichen, weil redlichen Leben im Alltag führt.«[21]
Noch weiter ging Witold Gombrowicz, der ewige Spötter und Provokateur, der sein Tagebuch unter anderem dazu nutzte, die Mentalität der Polen von allem zu befreien, was sie seiner Meinung nach einengte, und ihnen etwas von ihrem Selbstverständnis, »die hitzigsten Patrioten auf der Welt zu sein«[22], zu nehmen. Nach fünf Jahren dieser Befreiungsversuche erklärte er seinen Landsleuten sogar, warum er mit ihnen immer so streng umgegangen war. Für ihn sei es sonnenklar gewesen, schrieb er in einem Eintrag von 1957, dass sie »im Grunde ihres Herzens mit einem zwiespältigen Gefühl lebten. Sie vergötterten Polen? Gewiss, aber sie verfluchten es auch. Sie liebten es? Ja, aber sie hassten es auch. Es war ihnen Heiligtum und Fluch, Stärke und Schwäche, Ruhm und Erniedrigung – aber im polnischen Stil, einem Stil, der von der Gemeinschaft geformt und aufgezwungen war, ließ sich nur die eine Seite der Medaille ausdrücken.« Daran sei auch die Literatur schuld, der es »an wirklichem Individualismus immer« gefehlt und die »nur eine Affirmation der Nation« zustande gebracht habe. Das andere Gefühl hingegen, »das unwillige feindliche, gleichgültige oder gar verächtliche«, sei unausgesprochen geblieben. Sein Ziel sei es also gewesen, »einen Grundsatz zu schaffen, der es erlaubte, jenen anderen Empfindungspol zu aktivieren, zum anderen Aspekt der polnischen Seele vorzudringen, die Häresie zu sanktionieren«.[23]
Die Schwächen des polnischen Nationalcharakters (und die Umstände, durch die er geformt wurde) sahen nach ihm auch Schriftsteller wie Czesław Miłosz, Sławomir Mrożek, Andrzej Szczypiorski oder Ryszard Kapuściński. Nur hatten sie, im Gegensatz zu Gombrowicz, der niemals im Nachkriegspolen gelebt hat, mit der Gesellschaft die Erfahrung des Lebens in einem totalitären System geteilt, was bewirkte, dass sich hinter ihrer Strenge eine gewisse Bereitschaft zur Nachsicht verbarg. Allerdings waren auch ihr klare Grenzen gesetzt, vor allem nach dem Sturz des Kommunismus. Die Zeiten, da sie gern über die Einmaligkeit der polnischen Geschichte und die Rolle der Polen als »Christus der Völker« räsonierten oder sich selbst als »Gewissen der Nation« apostrophierten, waren vorbei. Nun war kritischer Pragmatismus angesagt. Die Welt zwinge den Menschen die unterschiedlichsten Rollen auf, sagte Szczypiorski einmal, und so zu tun, als wäre es nicht wahr, würde bedeuten, sich dem allgemeinen Chaos gegenüber hilflos zu zeigen. Ihm lag auch besonders viel daran, diese Hilflosigkeit zu verhindern. Deshalb ermahnte er die Polen so oft, die alten Mythen nicht unreflektiert anzunehmen; deshalb verlangte er ihnen Tugenden ab, zu denen sie (noch) nicht fähig waren. Eine Zeit lang ging er gar so weit, dass er seine literarische Arbeit stark einschränkte, um sich so oft wie möglich in publizistischer Form zu Wort zu melden. Er polemisierte nahezu gegen jeden und alles: gegen alle Arten von Fanatismus, Rückständigkeit und Intoleranz, gegen Rassismus, Chauvinismus, Bigotterie und Antisemitismus. Er kritisierte das niedrige Niveau der öffentlichen Debatten, die Rückständigkeit des Klerus, die Peinlichkeit der Kombattanten-Mentalität. Er setzte sich auch mit der neuen Politklasse auseinander, indem er aufzeigte, wie viel Demagogie und billige Phraseologie in ihren Reden steckte, mit welchen unfairen Mitteln um Macht und Einfluss gekämpft wurde, wie oft in die Politik Menschen drängten, die nichts anderes als ihre eigenen privaten Ziele im Sinn hatten.
Er sah auch die Gefahr neuer Mythenbildung heraufziehen. Etwa in dem Moment, als der Arbeiterführer Lech Wałęsa zu einem Demiurgen der Geschichte stilisiert und als solcher zum Staatspräsidenten erhoben wurde. Szczypiorski hingegen sprach ihm jede Qualifikation für dieses Amt ab, womit er sich viele Feinde machte. Denn die meisten Polen war durchaus bereit, über die einfache Herkunft und mangelnde Bildung ihres Präsidenten hinwegzusehen. Dafür konnten sie partout keine weltgewandten Intellektuellen ausstehen, die oft anderer Meinung als die Mehrheit der Nation waren und dieser auch noch die Leviten lesen wollten. Szczypiorski wusste allerdings auch dagegen zu polemisieren: »Bei uns«, höhnte er einmal, »wird jeder, der anders als die meisten denkt, sofort als Verräter der nationalen Sache, Feind der Arbeiterklasse, heimatloser Kosmopolit, russischer Agent, Hitler-Anhänger, Stalinist, Mörder der ungeborenen Kinder, Diener der Schwarzen, sibirischer Henker, Verleumder der linken Patrioten oder käuflicher Agent des Westens abgestempelt. Oft auch als Jude, denn das klingt immer gut.«[24]
Doch welche negative Eigenschaft oder schädliche Tendenz er auch immer kritisierte, ständig hieß es, er würde an den nationalen Heiligtümern rühren, das eigene Nest beschmutzen und sich bei Fremden – vor allem bei den Deutschen – anbiedern. »Wenn ich in letzter Zeit aus dem Ausland nach Hause komme«, notierte er einmal resigniert, »habe ich das Gefühl, dass der Himmel über Polen immer dunkler wird.«[25] Es gebe immer weniger gesunde Vernunft, Mäßigung und Zurückhaltung.
Wenn man die öffentlichen Diskussionen im heutigen Polen verfolgt, oder besser: die verbalen Schlachten, die sich politische und weltanschauliche Antagonisten liefern, dann sehnt man sich geradezu nach jemandem wie Andrzej Szczypiorski. Seine Äußerungen würden zwar bestimmt auch jetzt gemischte Reaktionen hervorrufen, selbst bei jenen, die mit ihm grundsätzlich übereinstimmten. Wie schon damals, als die einen für seine Fähigkeit schwärmten, einfach, oft unkonventionell argumentierend, politische Prozesse zu diagnostizieren und historischen Zusammenhängen auf den Grund zu gehen, während die anderen ihm vorwarfen, zu schnell auf jede Frage eine Antwort parat zu haben, zu leicht komplizierte Sachverhalte auf wenige...