Ein Garten im Norden - Roman

Ein Garten im Norden - Roman

von: Michael Kleeberg

Penguin Verlag, 2018

ISBN: 9783641237363

Sprache: Deutsch

592 Seiten, Download: 4084 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ein Garten im Norden - Roman



I


VON DER LIEBE UND DER HEIMAT


Manche Geschichten kann man ganz einfach erzählen, sie erzählen sich eigentlich selbst. Zum Beispiel eine, die so beginnen könnte: »Einst gab es, mitten in der Reichshauptstadt, einen seltsamen Park. Er war von hohen Mauern umgeben, über die im Frühjahr der Duft von Geißblatt, Flieder und Harz wehte, und Liebespaare verabredeten sich unter der Laterne im Schatten der Kastanien …«

Andere Geschichten erzählen sich nicht so leicht. Da muß man sich fragen: Warum erzähle gerade ich gerade diese hier? Bin ich auch der Richtige dafür? Ein weiteres Problem, an das man nur zu selten denkt, ist physikalischer Natur: Die Heisenbergsche Unschärferelation, die besagt, daß die Messung eines Phänomens das Phänomen selbst verändert.

Wenn man eine Geschichte von A bis Z erfindet, spielt das keine solch große Rolle, was aber, wenn man sich bemüht, Dinge nachzuerzählen, die sich tatsächlich ereignet haben, also die vergehende Zeit zu erzählen?

Die Geschichte dieses letzten Jahres, nicht die Geschichte an sich, sondern meine, ist eine sonderbare Mischung von leicht und schwer Erzählbarem. Was aber ist der Grund, sie erzählen zu wollen? Nicht der Anlaß, der läge auf der Hand, nein, der Urgrund, die Quelle, die diesen Fluß aus Erinnerung und Erfindung speist?

Vielleicht muß ich mit der Liebe anfangen, der Liebe, die mich fortgetrieben hat, ohne mich loszulassen, und die mich zurückgezogen hat, nach Hause in die Fremde. Vor langer Zeit gab es einmal ein wunderschönes Land, in dem ich glücklich war. Ich kannte kein anderes. Es hieß Deutschland, nein, nicht Deutschland, sondern BeErDe. Auch die Liebe hat einen Namen, Beate Wittstock, oder kurz: Bea. Ihretwegen war ich ins Ausland gegangen, ihretwegen kam ich zurück.

Nein, ganz so einfach ist es auch wieder nicht: Ich kam zurück, weil meine geschiedene Frau Selbstmord begangen und ich festgestellt hatte, daß außer ihr mich nichts und niemand mehr in Frankreich hielt und halten wollte, und weil ich irrsinnigerweise meine gutbezahlte Stelle bei ›Orion‹ hingeworfen hatte, um mich aufs Schreiben zu konzentrieren.

Auch als ich im Februar 1983, ziemlich genau zwölf Jahre zuvor, Hamburg verließ, tat ich das, um mich ›aufs Schreiben zu konzentrieren‹. Herausgekommen war dabei ein Job als Leiter der Abteilung zur Erstellung von Softwaremanuals der amerikanischen Firma ›Orion‹ mit europäischem Headquarter in Amsterdam.

Jetzt, an diesem 23. Februar 1995, fuhr ich in meinem marineblauen, in Paris gemieteten Renault Safrane V6 bei Saarbrücken über die Grenze, war fast 36 und kehrte aus einer Wahlheimat, die mich als Fremden ausspie, in eine Fremde zurück, die ich mir als meine Heimat einfach nicht mehr vorstellen konnte.

Als Volker mich 1983 fragte, warum ich mit einer Reisetasche und 400 DM ›für ein Jahr‹ nach Amsterdam emigrieren wolle, gab ich eine Antwort, die seinerzeit sehr glaubwürdig klang; ich selbst war vielleicht der einzige, der nicht an sie glaubte: Ich will der Volkszählung entgehen.

Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welche Paranoia diese geplante und schon einmal vertagte Volkszählung damals bei den Jungen und Linken hervorrief, um so mehr, als das Regime gerade gewechselt und die gefürchteten Konservativen das Ruder übernommen hatten, mit ›Verrat‹ und allem Drum und Dran. Es war eine allseits akzeptierte Erklärung und natürlich eine Lüge. In Wirklichkeit ging ich fort, um nichts wie die anderen zu machen, weder die Liebe, noch die Karriere, und wenn doch, dann nicht von ihnen dabei beobachtet zu werden. Wenn Bea nicht mit mir leben mochte, sollte es daran liegen, daß ich nicht da war und nicht etwa, daß sie mir einen anderen vorzog. Und wenn ein anderer als ich ein erfolgreicher Schriftsteller würde, dann lag es ebenfalls daran, daß ich nicht da war und nicht, daß er etwa besser schrieb.

Als kleines Kind bin ich sonntagvormittags zu einer halben Stunde Spiel und Zärtlichkeit ins Bett meines Vaters gekrochen, während meine Mutter das Frühstück bereitete. Das Glück dieser Minuten war so selten und kostbar, daß nichts es trüben dürfte. Manchmal aber stritten wir uns, und mein Vater stand auf, und alles war vorbei und nicht mehr rückgängig zu machen. Um dem zuvorzukommen, sprang ich, kaum fühlte ich die Unschuld des Moments sich trüben, aus dem Bett, lief zurück in mein Zimmer, blieb dort zehn Minuten und kam ›zum ersten Mal‹ wieder zurück, hoffend, mein Vater werde das Spiel verstehen und noch einmal, zum ersten Mal, mit geschlossenen Augen dort liegen und ich könnte ihn wecken, und alles begänne wieder, aber schattenlos, denn es war nichts geschehen zuvor.

Deutschland zu verlassen war der Versuch, den gleichen Trick zu wiederholen. Verschwinden und neu geboren zurückkommen, mit einem erfolgreichen Buch und einer neuen ersten Begegnung mit Bea, die sich nicht verändert hätte, aber diesmal würde unsere Liebe gelingen und alles würde gut.

Aber so kam es natürlich nicht. Die ersten Jahre des Exils in Amsterdam waren vielleicht die besten meines Lebens, ich fand die Arbeit bei ›Orion‹ und verliebte mich in Pauline, und Deutschland und die Vergangenheit und Bea kamen mir mehr und mehr abhanden, trotz aller Briefwechsel, Geschäftsreisen und Besuche bei meinen Eltern. Nun hatte ich Pauline verloren, zwölf Jahre meines Lebens stellten sich als Parenthese heraus, und die einzige Zukunft, auf die ich hoffen, die einzige Klammer, die die plötzlich losen Enden meines Lebens zusammenhalten konnte, war eine Vergangenheit, Bea, die Einzige, die Lebensveränderin. Nur daß sie, soweit ich wußte, denn unser Briefwechsel, schon immer mit großen Unterbrechungen geführt, hatte 1990 abrupt geendet, heute verheiratet war. Ich hatte Angst vor dieser Rückkehr.

Ich näherte mich Deutschland wie ein feiger Boxer: ständig in der Defensive; wie ein griesgrämiger alter Wolf, der fast gierig darauf wartet, daß irgendeine Katastrophe hereinbricht und seine schlechte Meinung über Land und Leute bestätigt. Das war ein übles Vorzeichen für jemand, der in diesem Land wieder heimisch werden wollte. Ich hatte fünf Jahre in Amsterdam gelebt und sieben in Paris. Als ich immer häufiger auf Französisch träumte, sagte ich eines Tages einem Bekannten, ich würde gern versuchen, ein Buch in dieser Sprache zu schreiben. Laut ausgesprochen schockte die Idee mich selbst, sie hatte etwas von Hochverrat.

Der Bekannte aber wog ganz sachlich pro und contra ab und meinte schließlich: »Es kommt darauf an, in welcher Sprache deine Erinnerungen in dir reden, in welcher Sprache du deine Märchen gehört hast.«

Ja, dachte ich, und noch weiter, es sind Erinnerungsgene aus Generationen, die dich machen, die Geschichte der Familie, die Geschichte an sich, das Klima, die Farben. Und meine Erinnerungen und Märchen, woher kamen sie? Siegfried und Hagen von Tronje, Dietrich von Bern und Meister Hildebrand, Thor und Loki, Gudrun und Wate von Stürmen, Rübezahl und das Erzgebirge, die schöne Lau aus dem Blautopf, das Glasmännlein und der Holländer-Michel aus der schweigenden Tiefe des benachbarten Schwarzwalds, alles was ich war, bevor Hollywood über mich hereinbrach. Die Bücher kamen später.

Auf dieser Heimreise würde ich Dürers Nürnberg durchqueren (und das der Partei), würde den deutschesten aller deutschen Winkel streifen, Goethes, Nietzsches und Bachs Thüringen, aber all diese Vergangenheit war nicht mehr meine Gegenwart..

Ich sagte mir nur immer wieder: Du wirst in einem Land leben müssen, wo alle verstehen können, was du sagst, aber du verstehst ihre Wörter nicht mehr: Lebensversicherung, Karriereplan, Bausparvertrag, Emissionsschutz, Anti-AKW Bewegung, Feuchtbiotop, Shareholder Value, Spontiszene, Freizeitwert. Du wirst im Standort Deutschland hocken, dänische Butter, holländische Tomaten und spanische Erdbeeren essen müssen, die Geschäfte schlagen dir um sechs die Türe vor der Nase zu, die Filme sind alle synchronisiert, und ohnehin gibt es nur amerikanische, alle wollen sich gegenseitig aus dem Land werfen, die Rechten die Linken und umgekehrt, jedes Dorf von 500 Seelen hat seinen Autobahnzubringer, ein Land so reich, daß es nicht weiß wohin mit seinem Geld, wäre aber lieber arm und glücklich – ja, Geld war eben kein Kindheitswunsch! Ein Land, das niemanden nach seiner Façon selig werden lassen kann, das Land, aus dem ich aus guten Gründen verschwunden war. Ein häßliches Land! Mein Gott, wie häßlich in seinem Sauberkeits- und Perfektionswahn, und wie häßlich und blöde auch die provozierende Häßlichkeit, die die Systemgegner kultivierten. Was wollten sie denn bloß alle? Und wie sehr fehlte mir schon jetzt, da ich noch gar nichts gesehen hatte, das Hautfarben- und Sprachengemisch vom Leidseplein oder dem Boulevard Barbès. Ich kam aus Paris und fuhr nach Prag, als sei das einzig fremde Land, das man möglichst schnell hinter sich lassen mußte, Deutschland, mit dem nichts einen verband, das einen anzustecken drohte, und davor und dahinter lagen die Städte des Lichts, Blöcke kontinuierlicher menschlicher Geschichte, 1000 Jahre alte Inseln der Schönheit, des Widerstands, Zentren der Vermischung, ohne die es kein Leben gibt.

Das war mein Gefühlszustand, der natürlich ebenso typisch und ungerecht wie unhaltbar war.

Während ich zum hundertsten Mal staunend die Armeen großer, glänzender Mercedes-, BMW- und Audi-Limousinen betrachtete, deren Erfolg und Solidität so ungleich größer war als die aller ›Tiger‹ und ›Panther‹, die wir 50 Jahre zuvor ausgeschickt hatten, die Welt zu erobern, suchte ich nach einer Erinnerung, einem Anlaß, irgend etwas, das diesen Kriegszustand aus meinem Kopf...

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