Autobus Ultima Speranza

Autobus Ultima Speranza

von: Verena Mermer

Residenz Verlag, 2018

ISBN: 9783701745838

Sprache: Deutsch

172 Seiten, Download: 323 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Autobus Ultima Speranza



STUNDENKILOMETER


Alexandru hat als Erster Platz genommen, ganz vorne links, gleich hinter dem Fahrer. Wenn er sitzt, nimmt er eine leicht gebückte Haltung ein, die ihn kleiner macht, als er tatsächlich ist. Die Heizwärme lässt ihn müde werden. Er sucht nach seinem Smartphone, zieht es aus der Tasche seines Parkas. Schreibt Iulia eine Chatnachricht und stellt eingehende Anrufe auf lautlos. So macht sie sich keine Sorgen und er kann bis zur ersten Pause ungestört schlafen. Codruţa, die nach ihm eingestiegen ist, geht mit ihrer sechsjährigen Tochter Susana weiter bis zur Mitte des Busses. Sie setzen sich hinter den zweiten Ausgang, Codruţas Mann Matei in dieselbe Reihe auf die andere Seite des Mittelgangs. Susana stellt sich auf die Sitzfläche, um einen Überblick zu gewinnen. Drei der achtundzwanzig Fensterplätze sind besetzt, dann vier, fünf … bald sind es fünfundzwanzig. Drei bleiben frei. Eins: hinter ihrem Vater. Zwei: vor ihrem Vater. Drei: hinter Susana. Vor ihr und der Mutter ist keine Sitzreihe, da ist nur die Treppe. Susana kann noch nicht bis achtundzwanzig zählen, aber sie weiß, dass sich Menschen oft plötzlich entfernen oder gar nicht erst in ihre Nähe kommen, wenn sie mit der Mutter und dem Vater in die Straßenbahn 2 steigt oder in die U3. In Wien sind sie Rumäninnen. Die Mutter bläut ihr ein, sie dürfe ihre Kleidung nicht dreckig machen. Taschentücher nicht zum Spielen verwenden, sondern um sich die Nase zu putzen, wenn sie rinnt. Und sie möge Deutsch sprechen in der Öffentlichkeit, was sie dann auch versucht. Hier sprechen aber alle Rumänisch. Ein großer blonder Mann mit schwarzem Parka hat sich auf den Platz vor ihrem Vater gesetzt, dreht sich zufällig um, ändert den Gesichtsausdruck, mustert ihn auf eine Art, die Susana missfällt. Kramt in seinem Jutesack, steht auf, tut so, als würde er etwas in seiner Hosentasche suchen, schaut nach vorne und zurück, setzt sich weg. Die Frau, die nicht viel älter ist als ihre Mutter, aber eben mit einem iPhone hantiert hat und einen edlen Schal trägt, stellt ihre Tasche auf demselben Sitz ab, lässt den Blick wandern, sucht ebenfalls Abstand, den sie drei Reihen weiter hinten auch findet. Hier sind sie Romnija, der Vater ist Rom. Einem, der für Susana aussieht wie ein Bauer, mit Stiefeln und dicker Wollmütze über dem Gesicht, das bestimmt viel Sonne, Wind und Regen abbekommen hat, scheint das nichts auszumachen – er bleibt auf dem Platz vor Matei sitzen. Irgendwann sitzt auch einer hinter dem Vater, und eine liegt, mit dem Wintermantel zugedeckt, hinter ihr und der Mutter.

Die Ankunft ist leichter anzukündigen als die Abfahrt, denkt Alexandru – er schickt Iulia noch ein Musikvideo hinterher: In a bulletproof vest / With the windows all closed / I’ll be doing my best / I’ll see you soon – Das Voneinandergehen begannen sie zu planen, da sie die ersten Male nicht gewusst hatten, wie sich verabschieden und wie lange stehen bleiben – Iulias Devise war gewesen: »Dreh dich um und geh!« Er hätte ihr am liebsten nachgewinkt, bis ihr Bus davonfuhr. Damals hatte sie noch bei dieser Familie in Tulln gearbeitet und er in Oradea. Dann die Schwangerschaft. Sie fädelte den Übergang geschickt ein: Fragte bei der Familie nach und bei der Agentur. Ließ Alexandru bei der Agentur vorsprechen. Von nun an war sie es, die blieb, während er in regelmäßigen Abständen aufbrach Richtung Österreich. Zurückkehrte für einen Monat, wieder wegging für den nächsten. Die Abschiedsrituale und -worte wurden routinierter: »Bis ganz bald!«, eine Umarmung, I’ll see you soon, ein Blick über die Schulter, ein Winken. »Ich will deine Tränen nicht sehen«, sagte sie einmal und machte sich davon Richtung Straßenbahnhaltestelle. Später war Iolanda da und Iulia begleitete ihn nicht mehr zum Busbahnhof. Einige Reihen hinter Alexandru läutet ein Handy. Lisa hebt ab, bedankt sich für den Proviant, den sie sicherlich erst in Cluj essen wird, wenn überhaupt. Ioan schaltet die Deckenbeleuchtung ein – so sehen auch diejenigen genug, die einen Platz mit defektem Leselicht erwischt haben – und stellt die Heizung auf zweiundzwanzig Grad.

Der Bus setzt sich in Bewegung. Die einen sind eingestiegen und die anderen, die wegen einer Verspätung den Anschluss versäumt oder den Busbahnhof nicht gefunden haben, in Wien oder anderswo zurückgeblieben. Wer pünktlich war, wird einen Abend und die halbe Nacht lang am Sitz wetzen oder – falls der Platz daneben leer bleibt – die Beine ausstrecken, vielleicht auch zusammengekrümmt auf zwei Sitzen liegen. (Freude am Reisen? Verspüren die wenigsten. Die meisten pendeln seit Jahren zwischen Familie und Lohnarbeit.) Die Unpünktlichen haben soeben Geld verloren, halten statt eines gültigen Tickets ein Stück Altpapier in der Hand und warten auf die nächste Mitfahrgelegenheit. From across the room / These eyes keep following me – eine nachbearbeitete Frauenstimme mit Hintergrundmusik dämpft das Stimmengewirr, das meist kurz nach der Abfahrt einsetzt und im Lauf der nächsten Minuten verstummen wird And I can’t deny how / How badly I need you now / I need you now / I need – Ioan schaltet Adrians Musik ab, fährt auf die Autobahn, lenkt den Bus die Donau entlang, am Kraftwerk vorbei, an Wohnhäusern und Lagerhallen. Nördlich der Autobahn die Kläranlage, auf einem Areal von der Größe eines Stadtteils: überdachte Gebäude, Pumpen, Klärbecken. Ein kurzer, dumpfer Einzelton – im vorderen Bereich des Passagierraums ist etwas zu Boden gefallen. Es muss nach hinten gerollt sein; Ioan hört jemanden aufstehen und den Mittelgang entlanggehen. Ein Blick in den Rückspiegel, Spurwechsel, von nun an verläuft eine längere Teilstrecke gerade. Kurz hinter der Stadtgrenze glänzt die abendlich beleuchtete Raffinerie: in einer Reihe aufgestellte Rohöltanks; verzweigte Rohrsysteme, abgerundet und rechtwinkelig; schlanke Türme und Kamine. Auf dem Gelände ist kein Mensch zu sehen, vermutlich wird die Benzin- und Dieselproduktion per Computer ferngesteuert. Nach der Privatisierung wurde auch in der rumänischen Tochtergesellschaft die Zahl der Angestellten halbiert. Die Aktien waren damals im Sonderangebot, als hätte eine unsichtbare Hand sie mit einem –50%-Sticker versehen. Da lohnte es sich, 51% zu kaufen! Im Länderdreieck wurde das Grundwasser brennbar. Angereichert mit Arsen. Es war nicht nachweisbar, welche Firma in welchem Land beim Fördern von Schiefergas die Sicherheitsbestimmungen ignoriert hatte.

Früher arbeitete Alexandru schwarz und kehrte in regelmäßigen Abständen mit dem weißen Bus von Wien nach Oradea zurück. Nachts im Schneeregen wartete er an einer Straßenkreuzung, mit zwei Studentinnen aus Debrecen. Stadtauswärts Wohnhäuser, Spelunken und Bordelle. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Bürogebäude. Die Studentinnen rauchten Pink und tranken Cola light – warum erinnert er sich jetzt an unnütze Details, die zum Vergessen bestimmt sind? Eventuell ist die Müdigkeit schuld, die ihn gelegentlich heimsucht und seine Wahrnehmung vom Wesentlichen abzieht. Oder war etwas falsch an der Situation, an dem Abend, den Studentinnen, seinem Gepäck – vielleicht sogar an ihm selbst? Der Gedanke, dass um ihn herum nichts mehr stimme, könnte aber auch seinem schläfrigen Bewusstsein entsprungen sein. Er hätte sich am liebsten auf den Boden gelegt damals, die beiden Studentinnen gebeten, ihn zu wecken, ließ es aber angesichts des Schneeregens doch bleiben. Rief bei der Busfirma an: eine Stunde Verspätung. Ging ins Bahnhofsgebäude, um sich aufzuwärmen. Rief erneut bei der Firma an: eine weitere Stunde Verspätung. Etappen der Erleichterung: nach insgesamt drei Stunden den Bus kommen sehen und einsteigen (sich besser nicht fragen, warum auf der Karosserie kein Firmenlogo zu sehen ist); schon bei der Abfahrt ein ungutes Gefühl, dass er nicht ankommen würde, im Fenster spiegelte sich das Riesenrad, eine der Studentinnen schlief bereits. Dann: ohne dass ein technisches Gebrechen die Fahrt aufgehalten hätte, die ungarische Grenze passieren – schlussendlich dennoch ab Debrecen per Autostopp weiterreisen. Angeblich war der Motor schuld. Möglicherweise war aber auch dafür das unbegründete Gefühl, dass etwas falsch war, verantwortlich. Hat dieses undefinierbare Etwas ihm und den anderen Reisenden nachgezehrt, ein nicht Greifbares ihnen nach dem Leben, der Energie, dem Weiterkommen getrachtet? Oder ein bisschen selbst gemachter Horror? Vor dem inneren Auge: Inkarnationen der Skelette vom Dorffriedhof, einige von ihnen schon länger tot als lebendig; Szenen aus einem billigen Splatter-Film; eine Dracula-Miniatur aus Pappmaché.

Alexandru nimmt die Brille ab, dieses verbogene, leicht zerkratzte Ding, das zwar ihm, aber schon lange nicht mehr zu ihm gehört, und fragt sich, wo er seine Monatslinsen verlegt hat: in Oradea oder in Tulln? Die Linsen vom Oktober fühlten sich immer stärker wie Fremdkörper an, porös und ungesund; er suchte nach der Packung, um sie endlich durch ein frisches Paar zu ersetzen. Wenn sie in einer der Schubladen in Oradea lägen, wäre das gut – er hat alles...

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