Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland - Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte

Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland - Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte

von: Matthias Heine

Hoffmann und Campe, 2018

ISBN: 9783455002829

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 770 KB

 
Format:  EPUB

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Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland - Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte



Der verhängnisvolle Bindestrich der Deutsch-Amerikaner


Auf dem St.-Matthew-Friedhof der kleinen Stadt Collinsville im US-Staat Illinois, zwölf Meilen nordöstlich von St. Louis, steht ein erstaunlich neuer Granitgrabstein, in den der Name »Robert P. Prager« gemeißelt ist. Dann folgen die Lebensdaten des Toten, den auch eine Fotografie auf dem Quader zeigt, und schließlich ganz unten die Beschreibung seines Schicksals: »Victim of a Mob«. Man kann sagen, dass hier die deutsche Auswandererkultur der USA begraben liegt.

Der Mann, der unter dem Grabstein ruht, war ein Sachse, geboren wurde er am 28. Februar 1888 in Dresden. 1905 wanderte der 17-Jährige nach Amerika aus und arbeitete dann in verschiedenen Berufen, unter anderem als Bäcker und zuletzt als Kohlebergmann. In der Nacht vom 4. auf den 5. April 1918, ein gutes Jahr nach dem Eintritt der USA in den Krieg gegen Deutschland, wurde Robert Prager von einem Mob, zu dem zweihundert bis dreihundert Männer und Jungen gehörten, aus dem Gefängnis von Collinsville entführt. Man schleifte ihn an einem Seil, das man ihm um den Hals gelegt hatte, durch die Straßen, zerrte ihn zu einem Baum eine Meile westlich der Stadt und zwang ihn, die Flagge der USA zu küssen. Er durfte noch an seinen Vater Carl Heinrich Prager und seine Mutter in Dresden schreiben (in der Abendausgabe von »The St. Louis Globe-Democrat«, die über den Lynchmord berichtete, hieß die Stadt »Preston«): »Bitte betet für mich, liebe Eltern. Dies ist mein letzter Brief.« Dann zog man ihn an dem Seil um seinen Hals etwas drei Meter hoch und brach ihm das Genick. Der Mob hievte ihn noch zwei weitere Male hinauf, bevor man ihn bis zum nächsten Tag am Ast hängen ließ. Als Prager das erste Mal hochgezogen wurde, schrien seine Mörder: »One for the Red.« Beim zweiten Mal: »One for the White.« Beim dritten Mal: »One for the Blue.« The Red, White and Blue ist der in Deutschland weniger bekannte Name der US-Flagge, des Star Spangled Banner.

Robert Prager war das prototypische Opfer eines patriotisch aufgeheizten und besoffenen Lynchmobs: Registriert als »feindlicher Ausländer« (wie alle Deutschen, die nicht eingebürgert waren), ein Außenseiter mit einem Sendungsbewusstsein, das seinen Bergarbeiterkollegen auf die Nerven ging, unverheiratet und im Ruch der Asozialität stehend (er hatte auch Zeiten als Landstreicher hinter sich und war wegen Diebstahls in einer Besserungsanstalt gewesen), ein Freimaurer (seine Loge, die Odd Fellows, hat ihm den Grabstein spendiert und ihn 2006 auch noch einmal erneuert) und ein Mann mit abweichenden politischen Ansichten – er betätigte sich als linker Agitator, allerdings wohl nicht sehr geschickt.

Sein Verbrechen: Er hatte angeblich in einer Rede den Sozialismus propagiert und sich abwertend über Präsident Wilson geäußert. Als sich das herumsprach, machte erstmals ein Mob Jagd auf ihn und paradierte schließlich mit dem gefangenen Prager durch die Stadt. Die Polizei nahm ihn daraufhin in Schutzhaft und steckte ihn in eine Zelle des Gefängnisses, das sich im Keller des Rathauses befand. Den Polizisten gab Prager zu Protokoll, er habe keinerlei unpatriotische Dinge gesagt und er wolle amerikanischer Staatsbürger werden. Nach der Kriegserklärung hatte er sich die entsprechenden Papiere besorgt und sich freiwillig zur amerikanischen Marine gemeldet, die ihn allerdings nicht aufnahm.

Der Bürgermeister von Collinsville beruhigte die Massen, ordnete an, dass die Saloons an diesem Tage früher schließen sollten und ging dann nach Hause. Um 10 Uhr abends kam die Pogrom-Meute aber wieder, brach die Türen des Gefängnisses auf, drängte die Wärter beiseite und nahm den vermeintlichen Spion mit. Um Viertel vor eins wurde Prager gelyncht.

Es war nicht das erste antideutsche Pogrom in den Vereinigten Staaten. Doch bisher hatten sich die Mobs aufs Teeren und Federn ihrer Opfer beschränkt, eine Foltermethode, die in den USA Tradition hatte, seitdem man vor und während der Revolution Menschen, die lieber englische Untertanen geblieben wären, dieser Behandlung unterzog. Dem »St. Louis Globe-Democrat« ist zu entnehmen, dass in dem Jahr, in dem Prager gelyncht wurde, sechs Männer, darunter ein polnischer katholischer Priester in Christopher, einer anderen Bergbaustadt, 80 Meilen von St. Louis entfernt, geteert und gefedert wurden, weil sie im Verdacht standen, deutschfreundlich zu sein. Es gab in den Frühlingsmonaten zahlreiche Demonstrationen von »loyalen« Amerikanern, die zum Ziel hatten, »illoyale Personen aus dem südlichen Illinois« zu vertreiben.

Als der Illoyalität verdächtig galten spätestens seit dem Kriegseintritt nicht nur noch nicht Eingebürgerte wie Prager, sondern alle deutschstämmigen Amerikaner, die sich der Kultur ihres Heimatlandes nicht entfremdet hatten. Begonnen hatte diese bemerkenswerte Umkehrung der Verhältnisse schon 1915 nach der Versenkung des britischen Passagierdampfers und Munitionstransporters »Lusitania« durch ein deutsches U-Boot, bei der auch 124 US-Bürger umkamen.

Deutsche waren bis zu dieser Zäsur die größte nicht Englisch sprechende Minderheit der USA. Bei Erhebungen gaben schon 1790 fast 277000 Amerikaner an, deutscher Abstammung zu sein – das waren immerhin 8,7 Prozent der Bevölkerung. In Pennsylvania existierte im frühen 19. Jahrhundert ein zusammenhängendes Gebiet, das größer als die Schweiz war und in dem etwa 200000 Deutschsprachige wohnten. Hier war Deutsch schon aufgrund der Zahl der Sprecher eine dem Englischen gleichberechtigte Sprache. Eine Amtssprache gab es dort nicht, und die USA haben bis heute keine offizielle Amtssprache. Bei der Volkszählung von 1910 wurden unter 92 Millionen Amerikanern mehr als 8,6 Millionen ermittelt, die Deutschamerikaner der ersten oder zweiten Generation waren. Darüber hinaus gab es natürlich noch eine ganze Menge amerikanischer Familien mit deutschem Migrationshintergrund, viele waren seit der Zeit im Lande, in der es noch eine britische Kolonie war. Die meisten Menschen, die das Deutsche beherrschten, lebten in den Staaten Ohio, Wisconsin und Minnesota.

Die Namen der Beteiligten und der Ort des Lynchmords an Robert Prager erzählen von dieser langen deutschen Siedlungsgeschichte: Der Bürgermeister von Collinsville trug den schönen deutschen Nachnamen Siegel und der Ort, an dem Prager gehängt wurde, heißt Mauer Heights. Zu den elf Männern, die im Juni 1918 wegen ihrer Beteiligung an dem Mord angeklagt und freigesprochen wurden, gehörten auch ein Joseph Riegel und ein William Brockmeier.

Da Zeiten gesellschaftlicher Unruhe auch solche wirtschaftlicher Unsicherheit sind, erreichte die deutsche Auswanderung im Revolutionsjahr 1830 und dann noch mal zwischen 1848 und 1854 ihr größtes Ausmaß. Allein in den 1850er Jahren kamen zwischen 900000 und einer Million Deutsche in die USA. Die deutsche Gesamtbevölkerung umfasste damals gerade mal 40 Millionen. Der Auswanderungsgrund war meist Not, zu drei Vierteln stammten die Immigranten aus Städten, zu 20 Prozent waren sie mittelständisch, nur höchstens drei Prozent suchten in den USA Asyl aus politischen oder religiösen Gründen. Bezeichnend ist, dass die Massenauswanderung ziemlich abrupt endete, als Deutschland sich in den 1890er Jahren zu einem hochindustrialisierten Land entwickelte.

Der Anpassungsdruck auf die Neuankömmlinge war gering: Deutschamerikaner kamen, wie es der Sprachhistoriker Peter von Polenz ausdrückt, »meist in relativ gute sozialökonomische Verhältnisse, als weitgehend Alphabetisierte, fachlich Ausgebildete in einem sich früh modernisierenden, politisch freiheitlichen Land«. Sie mussten ihre Wertvorstellungen deshalb selten ändern.

Deutschamerikaner beteten häufig in Kirchen, in denen Deutsch Liturgiesprache war. Sie lebten in Straßen oder Städten mit deutschen Namen. Und während eine ganze Menge von ihnen sich an die englischsprachige Kultur assimilierte, gab es auch viele, die ihre Kinder auf deutschsprachige Schulen schickten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden Schulen, die bis dahin ausschließlich Deutsch unterrichtet hatten, zur Zweisprachigkeit gezwungen.

»Deutsch war die Lingua franca der Literaturszene, der Unterhaltungsbranche und der Theater«, sagte der Germanistikprofessor Richard E. Schade von der Universität Cincinnati in einem Beitrag des »Public Radio«, dem staatlichen Bildungsprogramm der USA, über die Zerstörung der deutschsprachigen Einwandererkultur im Ersten Weltkrieg. In dieses Milieu wurde der Künstler Lyonel Feininger 1871 in New York hineingeboren, als Sohn der beiden angesehenen deutschen Musiker Karl (später Charles) Feininger, eines Konzertgeigers, und Elisabeth Feininger, einer Pianistin und Sängerin. Feininger hatte keinerlei Anpassungsschwierigkeiten, als er mit sechzehn nach Deutschland kam, um die Kunstgewerbeschule in Hamburg zu besuchen.

Das Beispiel Feininger zeigt übrigens, dass damals die deutsche Herkunft eines Künstlers für die...

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