Die Himmelsscheibe von Nebra - Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas

Die Himmelsscheibe von Nebra - Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas

von: Harald Meller, Kai Michel

Ullstein, 2018

ISBN: 9783843718196

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 26976 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Himmelsscheibe von Nebra - Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas



Sternstunde


Es geschah am helllichten Tag und nicht, wie immer kolportiert, bei Nacht und Nebel. An einem heißen Julimittag stießen zwei Sondengänger auf dem Mittelberg bei Nebra auf einen Schatz aus Bronze und Gold. Schwerter, Beile, Armringe waren darunter und auch eine sonderbare Scheibe, die sie zunächst für einen Eimerdeckel hielten. Schon am nächsten Tag verkauften die Raubgräber ihre Beute an einen Hehler. Es sollten fast drei Jahre vergehen, bis der Jahrhundertfund bei einer abenteuerlichen Polizeiaktion in der Schweiz sichergestellt werden konnte. Einer von uns beiden war hautnah dabei.

Seither funkelt die Himmelsscheibe von Nebra im dunklen Allerheiligsten des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle an der Saale und verzaubert die Besucher. Über 3600 Jahre alt, präsentiert sie den Nachthimmel in einem Bild von archetypischer Schönheit, das an eine menschliche Urerfahrung zu rühren scheint. Wer kennt nicht das sanfte Taumeln, das uns beim nächtlichen Blick in den unendlichen Sternenhimmel über unseren Köpfen erfasst? Die Himmelsscheibe vereint die Geheimnisse der Vergangenheit mit denen des Universums. Eine mehr als inspirierende Mischung.

Erstmals werden in diesem Buch die Geschichten ihrer Rettung und die ihrer Erforschung aus erster Hand erzählt. Vor allem unternehmen wir das Abenteuer, ein Panorama jener untergegangenen Kultur im Herzen Europas zu entwerfen, aus der sie stammt. Dabei geht es um bedeutend mehr als nur um unsere Vergangenheit, ist doch auch die Himmelsscheibe mehr als nur ein fantastisches archäologisches Objekt. Sie werden staunen, was sie alles ist:

Sie ist ein Rätsel


Wer die Himmelsscheibe betrachtet, kommt unweigerlich ins Grübeln. Sonne, Mond und Sterne glaubt jedes Kind auf ihr zu erkennen. Doch leuchten die nie gemeinsam am Firmament. Stellt der große goldene Kreis also nicht die Sonne, sondern den Vollmond dar? Wozu dann die Mondsichel? Und was fährt da für ein Schiff am Scheibenrand? Und diese Bögen und die sieben Sterne da?

Woche für Woche gehen im Museum Vorschläge ein, was hinter dem Geheimnis der gut zwei Kilogramm schweren Himmelsscheibe stecken könnte. Nicht, weil das Museum einen Wettbewerb ausgeschrieben oder um Mithilfe gebeten hätte. Die Zuschriften kommen unaufgefordert. Von aufwendigen astronomischen Berechnungen über mondgestützte Menstruationskalender bis hin zur Warnung vor dem nahen Weltuntergang ist alles dabei. Selbst komplexe Apparaturen werden konstruiert, als deren Herzstück die Himmelsscheibe die wunderbarsten Dinge vollbringen soll. Sie ist wie die Sphinx: Sie lässt dem Betrachter keine Ruhe, bis er eine Lösung für ihr Rätsel weiß.

Sie ist eine Provokation


Auch die Wissenschaft zwingt sie zu Antworten. Um das Jahr 1600 vor Christus im Boden vergraben, handelt es sich bei der Scheibe aus Bronze und Gold um die älteste bisher gefundene konkrete Darstellung des Himmels. Das heißt: Sie stellt die Gestirne nicht als Götter, Jungfrauen oder mythisches Getier dar, wie das sonst in den Kulturen des Altertums der Fall war. Sie zeigt uns die Himmelskörper so naturalistisch, wie diese sich dem menschlichen Auge am Himmel präsentieren: als leuchtende Objekte unterschiedlicher Größe und Form. Woher rührt der frühe Rationalismus? Was für uraltes Wissen verbirgt sie vor uns?

Wäre die älteste Himmelsdarstellung der Weltgeschichte in Ägypten, Mesopotamien oder im alten Griechenland entdeckt worden, würde das niemanden sonderlich erstaunen. Die Experten hätten anerkennend mit der Zunge geschnalzt, doch das wäre es schon gewesen. Aber dass sie aus einer Zeit stammt, über die unsere Schulbücher kein Wort verlieren, einer Zeit lange vor den Kelten und Germanen – das macht sie zum Rätsel, mehr noch, zur Provokation. Damit stellt sie die bisherigen Kenntnisse über unsere eigene Vergangenheit infrage.

Sie ist eine Sternstunde der Menschheit


Ist das nicht kurios? Da liefert uns die Himmelsscheibe von Nebra den Beleg für eine Sternstunde der Menschheit – und wir haben so gut wie keine Ahnung von der Kultur, der wir sie zu verdanken haben. Dass es sich um einen Geniestreich handelt, ist mittlerweile offiziell anerkannt. Die Weltkulturbehörde UNESCO hat die Himmelsscheibe ins »Weltdokumentenerbe« aufgenommen. Zugegeben, das klingt, als habe man ihr einen Ehrenplatz in der Ruhmeshalle der Bürokratie eingeräumt. Die englische Bezeichnung »Memory of the World« trifft es besser: Die UNESCO weist der Himmelsscheibe einen Platz im Gedächtnis der Welt zu – neben der Magna Charta, der Gutenberg-Bibel, der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie.

Und das zu Recht. War es nicht der griechische Philosoph Aristoteles, der das Staunen, das die Menschen beim Blick in den Nachthimmel erfasste, zum »Anfang des Philosophierens« erklärte? Seither interessierten sich unsere Vorfahren nicht mehr nur fürs blanke Überleben; sie überschritten die Bedingungen ihrer Existenz und versuchten, die Gesetze der Welt und des Kosmos zu verstehen. Noch heute lässt uns nichts deutlicher die eigene Unwissenheit spüren als die Unendlichkeit des Weltalls; noch heute fasziniert uns nichts mehr als das Universum. Es ist das größte Mysterium aller Zeiten.

Die Himmelsscheibe dokumentiert den ältesten bisher bekannten systematischen Versuch, dieses Mysterium zu ergründen – das sichert ihr den Ehrenplatz im kulturellen Gedächtnis der Menschheit. Dass wir es mit einem menschlichen Urtrieb, etwas wie einer anthropologischen Konstante zu tun haben könnten, darauf deutet ihre überraschende Ähnlichkeit mit einem außergewöhnlichen Objekt unserer eigenen Zeit. Einem Gegenstand, der den vorläufigen Endpunkt jener Entwicklung markiert, die mit der Himmelsscheibe ihren Anfang nahm.

Die Rede ist von der »Voyager Golden Record«, die von der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA an den 1977 gestarteten Voyager-Raumsonden montiert wurde. Sie soll außerirdischen Wesen Auskunft über das Leben auf der Erde geben. Dazu enthält die Golden Record Grußbotschaften in 55 Sprachen, Fotos, aber auch mathematische und physikalische Definitionen. Der damalige US-Präsident Jimmy Carter gab ihr eine Botschaft mit: »Dies ist ein Geschenk einer kleinen, weit entfernten Welt, eine Probe unserer Klänge, unserer Wissenschaft, unserer Bilder, unserer Musik, unserer Gedanken und unserer Gefühle. Wir versuchen, unser Zeitalter zu überleben, um so bis in eure Zeit hinein leben zu dürfen.« Mittlerweile hat die Golden Record als erstes menschengemachtes Objekt unser Sonnensystem verlassen.

Obwohl über 3600 Jahre zwischen den beiden Objekten liegen, verbindet sie vieles. Erstens ist da die verblüffende Ähnlichkeit: Hätte die Himmelsscheibe in den 1970er-Jahren nicht noch mehr als zwei Jahrzehnte unentdeckt im Boden gelegen, wären wir sicher, sie diente dem vom berühmten Astronomen Carl Sagan geleiteten Forscherteam als Inspiration. Ob Himmelsscheibe oder Golden Record, in beiden Fällen handelt es sich um kreisrunde Scheiben von der ungefähren Größe einer Langspielplatte. Beide bestehen in der Hauptsache aus Kupfer; bei der einen ist es mit Zinn zu Bronze veredelt, bei der anderen ist es vergoldet. Und bei beiden dient Gold dazu, die Botschaften zu übermitteln.

Zweitens sind beides Botschaften an nicht menschliche Intelligenzen. Die Golden Record will Aliens über das Leben auf dem Planeten Erde informieren. Die Himmelsscheibe von Nebra wurde als Gabe an übernatürliche Mächte im Boden versenkt. Warum? Das ist eine der großen Fragen dieses Buchs.

Drittens verdanken sich beide derselben Motivation, dem urmenschlichen Antrieb, nicht vor den Grenzen unserer Welt haltzumachen. »Das Forschen liegt in unserer Natur«, lautet ein berühmtes Zitat Carl Sagans. »Als Wanderer haben wir begonnen, und Wanderer sind wir noch immer. Wir haben lange genug an den Ufern des kosmischen Ozeans verweilt. Es ist an der Zeit, die Segel zu setzen und zu den Sternen aufzubrechen.« Beide Scheiben verdanken sich dieser Sehnsucht. Die Himmelsscheibe dokumentiert das erste Aufflackern des Wunsches, das Rätsel des Universums zu verstehen; mit ihr haben die Menschen den Aussichtsplatz am Rande des kosmischen Ozeans bezogen. Die Golden Record dagegen lässt den Wunsch 3600 Jahre später Wirklichkeit werden; mit der Voyager-Sonde setzte die Menschheit Segel, um die Grenzen des Sonnensystems zu verlassen. Die Himmelsscheibe und die Golden Record sind das Alpha und das Omega menschlicher Himmelsstürmerei.

Sie ist eine Flaschenpost


Carl Sagan nannte die Golden Record eine »in den kosmischen Ozean geworfene Flaschenpost«. Und diese Metapher taugt auch für die Himmelsscheibe von Nebra. Sie ist zwar nicht durch den Ozean des Raums, wohl aber durch den der Jahrtausende gereist. Auch sie birgt die Botschaft einer längst versunkenen Kultur. Deshalb verspüren wir eine gewisse Solidarität mit jenen armen Außerirdischen, die sich eines Tages daranmachen müssen herauszufinden, was für eine seltsame Zeitkapsel ihnen da ein galaktischer Zufall mit der Golden Record in die Hände gespielt hat (wenn sie denn überhaupt Hände haben). Sie werden sich dieselben Fragen stellen, wie wir das bei der Himmelsscheibe taten: Was um Himmels willen ist das? Spielt uns da jemand einen Streich? Und wenn das Ding echt sein sollte: Wer hat es gemacht? Warum? Wozu? Was ist seine Botschaft? Und wie sieht die Welt aus, aus der es kommt?

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