Königskinder - Roman

Königskinder - Roman

von: Alex Capus

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446261242

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 1577 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Königskinder - Roman



Was ist los?«, fragte Max.

Im Innern des Toyota herrschte fast völlige Dunkelheit, eine dicke Schneeschicht hatte sich auf die Scheiben gelegt; nur am obersten Rand der Seitenfenster, wo ein schmaler Streifen schneefrei geblieben war, drang noch ein Rest fahlen Lichts herein.

»Ist dir kalt? Hast du Hunger?«

»Nein, wieso?«

»Fehlt dir sonst etwas?«

»Wie kommst du drauf?«

»Du ziehst eine Schnute.«

»Ich sage ja gar nichts. Wie spät ist es?«

»Eine halbe Stunde vor Mitternacht. Lüg nicht, du ziehst eine Schnute.«

»Das kannst du nicht sehen, es ist stockdunkel hier drin.«

»Ich fühle es. Du sendest negative Strahlen aus. Seit gerade eben.«

»Lass mich mit deiner Fühlerei in Frieden. Meine Schnute geht nur mich etwas an.«

»Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn du diese Strahlen aussendest? Wie Radioaktivität. Lautlos, unsichtbar und geruchlos, aber unbedingt tödlich. Wenn ich jetzt nicht die Flucht ergreife oder rasch die Strahlenquelle ausschalte, bin ich in zwei Stunden tot. Also sag, was hast du?«

»Nichts.«

»Na los, spuck’s aus. Irgendwann muss es ja doch raus.«

»Lass gut sein.«

»Ich weiß, was es ist. Du weißt, dass ich es weiß. Es ist wegen meiner Geschichte.«

»Ach ja?«

»Wegen der Prügelei gerade eben. Wegen der Darstellung von Gewalt.«

»Nein, die fand ich ganz cool. Die kühle Effizienz, die Jakob an den Tag legt. Dass er stark und mutig ist. Und dass er weiß, was er will.«

»Dann ist es, weil er zum Militär muss.«

»Genau«, sagte Tina. »Kitschiger geht’s ja nun wirklich nicht. Fehlt nur noch, dass Marie aus Verzweiflung ins Wasser geht. Oder ins Kloster. Oder in ein Unterwasserkloster. Sind die überhaupt katholisch dort unten?«

»Und wie. Warum?«

»Weil Protestanten keine Klöster haben.«

»Haben sie doch.«

»Nein.«

»Doch. Ist ja egal. Jedenfalls geht Marie nicht ins Kloster, da kann ich dich beruhigen. Übrigens wäre ich froh, wenn du meiner Geschichte etwas weniger vorauseilende Ablehnung entgegenbringen würdest.«

»Erstens wollte ich gar nicht meckern, du hast es aus mir herausgeprügelt. Und zweitens muss ich ja nicht immer alles toll finden, was in deiner Geschichte passiert.«

»Aber du bist auch nicht verpflichtet, laufend das Drehbuch umschreiben zu wollen. Versuch’s einfach mal laufen zu lassen. Kino macht mehr Spaß, wenn man die Dinge geschehen lässt.«

»Eine eigene Meinung darf ich aber schon haben?«

»Klar. Nur dass es bei einer Geschichte nicht um Meinungen geht, sondern um die Geschichte.«

»Dann bleiben wir also dabei, dass das junge Glück unseres Liebespaars in Gefahr ist, weil Jakob zum Militär muss. Sag selbst, klingt das nicht unfassbar doof?«

»Es ist nun mal historische Tatsache. Was soll ich machen?«

»Erzähl weiter.«

»Gemäß den Musterungsrollen im Staatsarchiv des Kantons Freiburg hat sich Jakob Boschung aus Jaun am 8. Oktober 1779 zu acht Jahren Solddienst im Regiment Waldner verpflichtet. In der Folge war er die ganze Zeit in Cherbourg am Ärmelkanal stationiert. Nach vier Jahren wurde er zum Korporal befördert, am 1. November 1787 ehrenhaft entlassen.«

»Mich wundert immer wieder, dass du solche Sachen auswendig weißt. All die Daten, Namen, Orte. Manchmal denke ich, du bist ein bisschen autistisch.«

»Weil ich ein gutes Gedächtnis habe?«

»Normal ist das jedenfalls nicht.«

»Dann ist es normal, ein schlechtes Gedächtnis zu haben? So wie du?«

»Ich sage nur, dass normale Leute auch mal was vergessen.«

»Ich vergesse auch manchmal was, so ist es ja nicht.«

»Erzähl weiter. Jakob Boschung ist also in den Krieg gezogen.«

»Das nun nicht gerade. Vom Krieg hat er nicht viel mitbekommen, am Ärmelkanal herrschte Frieden zur fraglichen Zeit. Andere Schweizer Regimenter haben in jenen Jahren so ziemlich überall auf der Welt blutige Schlachten geschlagen, im Spanisch-Portugiesischen Krieg zum Beispiel oder im Bayrischen Erbfolgekrieg, im Russisch-Österreichischen Türkenkrieg und in den Kriegen auf Ceylon, in Burma und Siam. Überall waren Schweizer Söldner dabei, im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, und zwar auf beiden Seiten, oder im Russisch-Schwedischen Krieg, in Südafrika, Ägypten, Indien …«

»Ist gut, ich habe verstanden. Du bist wirklich nicht ganz normal, das muss ich dir leider sagen.«

»Jedenfalls herrschte überall Krieg außer in der Normandie. Dort gab’s nichts als Apfelbäume und Kühe weit und breit, und ein paar Schiffe am Horizont. Jakobs Regiment hatte die Aufgabe, den Hafen von Cherbourg zu bewachen für den Fall, dass die Engländer wieder mal über den Ärmelkanal kamen. Aber die kamen nicht. Und Cherbourg war ein Kaff. Man möchte gern wissen, wie Jakob dort die Zeit totgeschlagen hat.«

»Nach Soldatenart«, sagte Tina. »Mit Saufen, Rumhuren und Kartenspielen.«

»Jakob war verliebt, da konnte er doch nicht rumhuren. Ich stelle mir eher vor, dass er auf der Hafenmole fischen ging.«

»Soldaten huren rum, das ist bekannt.«

»Wie hätte er das tun können, wenn er immerzu an Marie dachte?«

»Keine Ahnung, wie man das kann. Sag du’s mir, du bist ein Mann.«

»Ich sage, der konnte das nicht. Man wird ja doch ein besserer Mensch, wenn man verliebt ist, zumindest vorübergehend. Und es huren ja doch nicht ganz alle Männer rum, noch nicht mal alle Soldaten. Also hat er traurige Lieder gesungen und ist fischen gegangen auf der Hafenmole, tausend mal tausend Schritte von seiner Liebsten entfernt für volle acht Jahre, ohne Aussicht auf Urlaub oder vorzeitige Entlassung.«

»Wenn sie einander wenigstens hätten schreiben können.«

»Die konnten aber weder lesen noch schreiben.«

»Aber aneinander denken konnten sie.«

»Oh ja. Sie müssen die ganze Zeit aneinander gedacht haben. Sonst hätten sie einander vergessen.«

»Und deine Geschichte wäre vorbei.«

»Man muss aneinander denken, sonst ist die Geschichte vorbei.«

»Ich würde dich auch vergessen, wenn ich nicht immer an dich denken müsste.«

»Siehst du.«

»Keine Ahnung, wieso ich immer an dich denken muss.«

»Ist dir wirklich nicht kalt? Komm näher zu mir. Da. So.«

»Max?«

»Ja?«

»Bist du sicher, dass Jakob nicht rumgehurt hat?«

»Wenn ich es doch sage. Der ging auf der Hafenmole fischen.

Jetzt musst du dir aber vorstellen, wie Marie allein im Greyerzerland zurückbleibt. Ein paar Wochen vergehen. Es ist Winter, schwarze Wolken ziehen übers Land. Auf dem väterlichen Hof ist wieder Ruhe eingekehrt, gnädiges Schweigen hat sich über Maries Eskapade gelegt. Nur die vier Knechte brummen noch böse. Ihre Platzwunden sind verheilt und die Knochen einigermaßen zusammengewachsen, aber die Lücken im Gebiss sind geblieben, und die erlittene Schmach brennt weiter.

Der Bauer tut, als sei nichts gewesen. Er ist schlau. Er sieht nicht ein, wieso er die Affäre zu einem Drama aufblasen soll, indem er zu Gericht sitzt, Urteile fällt und Strafen verhängt. Seine Tochter hat, soviel man sehen kann, keine bleibenden Schäden davongetragen; seine Frau hat Maries Unterwäsche im Auge behalten und konnte nach wenigen Tagen Entwarnung geben. Zudem ist der Hauptschuldige von der Bildfläche verschwunden und wird so rasch nicht wiederkehren. Für den Bauern ist die Sache erledigt.

Die Bäuerin aber ist klüger. Sie weiß, dass ein Phantom der schlimmere Feind sein kann als ein physisch anwesender Mensch. Besorgten Blicks verfolgt sie ihre Tochter und forscht nach Symptomen von Liebeskrankheit. Sie durchwühlt Maries Schrank, ihr Bett und ihre Kleider, findet aber nur eine versteinerte Muschel unter ihrem Kopfkissen. Merkwürdig. Die Bäuerin streichelt die Muschel mit ihren rauen Händen, dann legt sie sie zurück unters Kissen. Sie weiß, dass ein verlorener Fetisch mächtiger wäre als ein vorhandener.

Noch klüger als die Bäuerin aber ist Marie. Sie weiß, dass sie nur in Frieden unter dem väterlichen Dach wird leben können, wenn sie sich nichts anmerken lässt von ihrem Glück, ihrem Leiden und ihrer Sehnsucht. Deshalb seufzt sie nicht und weint nicht, hungert nicht und magert nicht ab, sondern bleibt rund und rosig und singt und lacht wie eh und je. Sie steht morgens zeitig auf, frühstückt mit Appetit und arbeitet tagsüber fleißig wie gewohnt, und abends blickt sie niemals sehnsuchtsvoll in den Nachthimmel, sondern geht beizeiten schlafen.

Und dafür muss Marie nicht mal Komödie spielen, sie ist tatsächlich fröhlich; denn sie weiß, dass es ihren Jakob...

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