Das Denkmal - Porträt einer Familie

Das Denkmal - Porträt einer Familie

von: Christopher Isherwood

Hoffmann und Campe, 2018

ISBN: 9783455003741

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 825 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Denkmal - Porträt einer Familie



Erstes Buch


1928

I


»Nein, nicht wirklich«, sagte Mary. »Nein, es hat nicht viel genützt.«

Die Tür stand weit offen. Anne, die Vergnügungssteuermarken auf grüne und orangefarbene Eintrittskarten klebte und der gelangweilten, ironischen Stimme ihrer Mutter zuhörte, verzog die Stirn.

Mary beschrieb zum zwanzigsten Mal am Telefon den furchtbaren Schrecken, den sie in der letzten Woche mit dem Spanischen Quartett erlebt hatten. Das Cello und die zweite Geige – die armen Dinger waren den Tränen nahe – hatten ihre Stimmen des Dohnányi-Quartetts in ihrem Hotelzimmer nahe Victoria Station vergessen, und Mary, der nur eine Viertelstunde blieb, um mit dem Taxi dort hinzufahren, während sie auf der Bühne bereits Schubert spielten, hatte das Personal nur mit viel Mühe überreden können, ihr das Zimmer aufzuschließen. Und natürlich war das alles sehr lustig gewesen. Überaus lustig, dachte Anne mit finsterer Miene. Wirklich sehr lustig.

»Ach, ja; ach, ja. Bloß eins der üblichen Missgeschicke.«

Wie Mutter all das hier liebt. Und warum auch nicht? Anne ließ ihren Blick durch den reizvollen kleinen Raum schweifen, über die vielen Papierstapel auf dem Boden, den bretonischen Schrank, das Steinlen-Plakat an der Wand, das Bett, die Ankleidekommode, das Regal mit den gelben Taschenbüchern und die leuchtenden Schachbrettmustervorhänge an den Fenstern. Es sah fast aus wie das Innere eines Wohnwagens. Abends legte man sich auf dem in Tarnfarben bezogenen Diwan schlafen, inmitten der Dinge, die sich am Tag angesammelt hatten – der Briefe, Zeitungen, ausgeschnittenen Artikel, anderer Leute Instrumente, Tennisschläger und gewöhnlich des einen oder anderen schmutzigen Geschirrstücks oder ein paar Biergläsern, die beim Aufräumen nach dem Essen übersehen worden waren. Und hier wohne ich, dachte Anne.

Tatsächlich war sie immer noch ein wenig verärgert, dass sie ins Musikzimmer hatte umziehen müssen, weil Mary einer Schülerin von der Theaterschule für vierzehn Tage einen Schlafplatz angeboten hatte, bis sie eine eigene Wohnung fand. An der Wand neben dem Bett im Musikzimmer liefen Warmwasserrohre entlang, sodass man am Morgen halb gekocht aufwachte. Warum hatte das verdammte Mädchen sich nicht rechtzeitig um ein Zimmer kümmern können? Aber hier kümmerte sich ja nie jemand rechtzeitig. Immer diese Entscheidungen in letzter Minute, ob es ums Essenholen ging oder darum, Leute für eine Party aufzutreiben. Immer diese Bahnhofsatmosphäre – bloß um des Gefühls willen, auf dem Bahnhof zu leben. Anne gähnte. Aber ich sehe, wie viel Spaß es Mary bereitet.

»Ja. Wir wurden zu einem opulenten Mahl bei den Gowers eingeladen. Meine Liebe … ich bin nicht hochnäsig, weil Ma sagt, das sei eine Sünde, aber bei all den … ja, du sagst es …«

Nicht, dass sie nicht arbeitete, härter als jede Bürokraft, angesichts der Flut von Briefen, die sie in ihrer weit ausladenden Schrift, gespickt mit lauter Fehlern, beantwortete. Und dann die vielen Stunden, die sie auf einem harten Stuhl in der Galerie verbrachte. Und abends die Atelierpartys, Konzerte und Aufführungen in Klubs, bloß um im Gedränge der Künstlergarderobe irgendeine Person kennenzulernen, die sich auch nur im Entferntesten als »nützlich« erweisen könnte. Niemals müde, immer bereit, zu tanzen, zu trinken, Sir Henry Wood oder Harriet Cohen nachzuahmen, jemandem beim Kochen zu helfen und zu singen:

Eines späten Abends im Theater

Sah ich ihn im Parkett,

Eine Hand auf dem Programm …

Deine Mutter ist wunderbar, sagten sie. Anne hatte es schon ihr Leben lang gehört. Deine Mutter ist wunderbar. Und sie hatten recht.

Mit diesem Gefühl strahlte Anne Mary an, als diese lächelnd mit einem Stapel Blätter in den Händen in der Tür erschien, eine Schürze umgebunden und eine Zigarette im Mund.

»Haben wir Mrs Gidden ihren Mitgliedsausweis geschickt?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Sie schreibt hier, sie hätte keinen bekommen.«

»Einen Augenblick, ich schaue gleich nach … ja, wir haben ihn ihr geschickt.«

»Miststück!«

Träge und wie in Zeitlupe legte Mary ihre Blätter auf den Stapel auf dem Tisch, zog ein paar andere hervor, schrieb eine Adresse ins Mitgliedsbuch und schlenderte wieder hinaus.

In Wahrheit, dachte Anne und hätte beinahe zwei Marken auf eine Eintrittskarte geklebt, gehöre ich nicht hierher. Ich bin kein Mitglied der Truppe.

Ja, sie hatte es oft gespürt. Erst vor ein oder zwei Wochen, als sie im Scherz eine Ballettszene nachgespielt hatten und Edward fünfzehn Sekunden lang buchstäblich auf einem Ohr gestanden hatte. Sie hatte ihnen zugesehen, als wären es Fremde. Das Seltsame ist, dass Maurice dazugehört. Es hat also nicht nur damit zu tun, wie sehr man Künstler ist.

Sie war nicht eifersüchtig auf Mary. Das allein war es nicht. Auch wenn ich es natürlich bin, zumindest ein bisschen. Sie ist furchtbar gut zu mir. Nein, mehr als gut – wirklich anständig. Vielleicht hätte ich als Dame mehr Glück. Wenn ich bei Tante Lily lebte. Gott bewahre.

Ich werde nie auch nur ein Zehntel so wie Mutter sein, dachte Anne. Und ich möchte es auch nicht.

»Mrs Oppenheimer möchte zwei Freikarten für eine ihrer Töchter und deren Freundin«, rief Mary aus dem Nebenzimmer.

»Soso.«

»Ich glaube, die Freundin ist dieser kleine Trauerkloß, den wir letztens im Aeolian gesehen haben.«

»Wahrscheinlich«, rief Anne zurück, nahm zwei Eintrittskarten und trug sie ins Buch ein.

Wenn man Mary kritisieren wollte, hätte man absolut nichts gegen sie vorbringen können. Sie war über alle Kritik erhaben. Aber musst du immer, hätte Anne sie manchmal anschreien mögen, musst du immer so verständnisvoll sein? Hatte Mary jemals in ihrem Leben irgendein absurdes, altmodisches, dummes Vorurteil gepflegt? Hatte sie jemals irgendwen gehasst? Hatte sie überhaupt jemals etwas empfunden? Man konnte es sich nur schwer vorstellen. Ihr schlimmstes Urteil über eine Person: »Na, das ist mir vielleicht eine Marke.« Ihr Zeichen äußerster Ablehnung: »Dein Geschmack, meiner nicht.« Sie nahm alles mit Humor – Bolschewismus, Christliche Wissenschaft, Lesben, den Generalstreik –, »Nicht sehr anheimelnd« oder »Da könnte ich mich nicht für begeistern«.

Ich denke, ich sollte ins Kloster gehen. Vor einem Jahr hatte Anne ernsthaft überlegt, Krankenschwester zu werden. Sie hatte sich erkundigt, es versuchsweise sogar Mary gegenüber erwähnt. Und bei Marys nachsichtigem, leise amüsiertem Lächeln hatte sie gespürt: Nein, niemals. Es ging nicht. Nie könnte sie es gegenüber der Truppe aussprechen, die mit ihren Späßen nur eine neue Art Spiel daraus machen würde. Allein was man sie fragen würde. »Ist das nicht furchtbar aufregend?« »Ist es nicht schier umwerfend?« »Ist das nicht ein ungeheurer Spaß?« Vermutlich bin ich einfach nur romantisch wie ein Schulmädchen. Früher wollte ich immer Jeanne d’Arc sein. Dabei geht es bloß um Sex. Der gute alte Sex. Ich bin offenbar zum Schreien komisch. Dabei sehne ich mich so sehr nach jemandem, der nicht diesen überdrehten Sinn für Humor hat. Sie dachte sofort an Eric. Nein, Eric würde nicht lachen.

Wieder klingelte das Telefon. Mary stand lächelnd in der Tür: »Für dich.«

Anne stand auf, fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, zog die Stirn in Falten und marschierte ins Nebenzimmer. Sollte sie die Tür schließen? Verdammt, nein.

Während sie den Hörer aufnahm, schien ihre Stimme sich plötzlich ihrer Kontrolle zu entziehen. Sanft, unaufrichtig und kristallklar säuselte sie:

»Hallo, Tommy. Wie geht’s?«

Die ängstliche dünne Stimme am anderen Ende zwang sie zu einem leisen Lächeln.

»Oh, Liebling, tatsächlich? Wie aufregend … Wie absolut phantastisch. … Aber das klingt wahnsinnig spannend. Ich bin bestimmt ganz hingerissen. … Einen Augenblick, mein Schatz, ich schaue kurz nach. Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher …«

Sie drehte sich um und sah ihre geröteten Wangen im Spiegel. Sollte sie? Wäre es amüsant? Oh, ja, ganz gewiss. Sie seufzte. Nicht so sehr aus Langeweile. Bei Tommy hatte sie immer das Gefühl von – Verantwortung.

Herausfordernd blickte sie ins Nebenzimmer, wo Mary weiter Steuermarken klebte.

»Steht heute Abend etwas Besonderes auf dem Programm?«

»Nein, ich glaube nicht. Ich werde wahrscheinlich zu Georges’ kleiner Feier gehen. Vielleicht treffe ich dort Hauptstein.«

»Und du kommst auch sicher mit den Sachen für morgen klar?«

»Ganz bestimmt, Liebes.«

Mary lächelte. Mit plötzlicher Gereiztheit erklärte Anne:

»Ich gehe ins Theater. Mit Tommy Ramsbotham.«

»Grüß ihn von mir.«

Ihre Blicke begegneten sich. Unwillkürlich grinste Anne ihre Mutter bewundernd an und dachte: Du hältst dich für unheimlich schlau, nicht wahr?

»Und versuche«, sagte Mary, »mehr über die zweite Mrs Ram’s B herauszufinden.«

»Ich glaube nicht, dass Tommy viel darüber weiß.«

»Vielleicht ist das Ganze auch bloß wieder ein Märchen aus Chapel Bridge.«

»Sollte mich nicht wundern.«

»Klingt jedenfalls so gar nicht nach unserem Ram.«

 

Zur gegebenen Zeit schlüpfte Anne in ein einfaches, aber sehr elegantes Kleid, schminkte die Lippen rot, legte Puder auf und zog ihre neuen Schuhe an – die komplette Trickkiste. Gerade so, als würde sie ein Geschenk für ein Kind verpacken. Oh, sie kam sich vor wie...

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