Walter Benjamin - Eine Biografie
von: Howard Eiland, Michael W. Jennings
Suhrkamp, 2020
ISBN: 9783518759165
Sprache: Deutsch
1200 Seiten, Download: 21527 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Einführung
Der jüdisch-deutsche Literaturkritiker und Philosoph Walter Benjamin (1892-1940) gilt heute allgemein als einer der wichtigsten Zeugen der europäischen Moderne. Trotz seiner kurzen Schaffenszeit – sein Leben fand auf der Flucht vor den Nazis an der spanischen Grenze ein frühes Ende – hinterließ er ein in seiner Tiefe und Vielseitigkeit erstaunliches Werk. In den Jahren seiner »Lehrzeit in deutscher Literatur«, wie er es nannte, legte Benjamin bleibende Studien zur Kunstkritik der Romantik, zu Goethe und zum barocken Trauerspiel vor und erarbeitete sich in den Zwanzigerjahren seinen eigenen Platz als kritisch urteilender Befürworter jener radikalen Kultur, die sich in der Sowjetunion entwickelte, wie auch der Avantgarde, die die literarische Szene in Paris beherrschte. In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre stand er im Zentrum vielfältiger Entwicklungen, die heute als Kultur der Weimarer Republik zusammengefasst werden. Gemeinsam mit Freunden wie Bertolt Brecht und László Moholy-Nagy trug er dazu bei, eine neue Perspektive des Sehens zu etablieren – einen avantgardistischen Realismus –, die sich von den orthodoxen Normen der Kunst und Literatur im deutschen Kaiserreich zu befreien suchte. In dieser Phase, als Benjamin erste Anerkennung für seine Schriften fand, hegte er die nicht ganz unbegründete Hoffnung, einmal »le premier critique de la littérature allemande«1 zu werden. Er war es auch, der zusammen mit seinem Freund Siegfried Kracauer erstmals die populäre Kultur zum Gegenstand seriöser Untersuchung machte. Benjamin schrieb Essays über Kinderliteratur, Spielzeuge, Wetten, Graphologie, Pornographie, Reisen, Volkskunst, Lebensmittel, die Kunst von Randgruppen wie die der Geisteskranken und über eine Vielzahl von Medien, wie Film, Radio, Fotografie und die Regenbogenpresse. In den letzten zehn Jahren seines Lebens, von denen er die meisten im Exil verbrachte, entstanden viele seiner Schriften als Ableger des Passagen-Werks, einer Kulturgeschichte des aufkommenden städtischen Warenkapitalismus in Frankreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Obwohl das Passagen-Werk ein monumentaler »Torso« blieb, führten die darin enthaltenen Untersuchungen und Überlegungen zu einer Reihe bahnbrechender Studien, so die bedeutende ›Polemik‹ von 1936, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«; so auch die Essays über Charles Baudelaire, denen dieser Dichter seine Stellung als repräsentativer Schriftsteller der Moderne verdankt. Aber Benjamin lässt sich nicht auf seine Rolle als herausragender Kritiker und revolutionärer Theoretiker einschränken: Er hinterließ ein substantielles Œuvre im Grenzbereich von Fiktion, Reportage, Kulturanalyse und Memoiren. Sein »Montage-Buch« von 1928 Einbahnstraße und besonders Berliner Kindheit um Neunzehnhundert – nur Ersteres wurde zu seinen Lebzeiten veröffentlicht – sind moderne Meisterwerke. Im Grunde widersetzen sich viele Werke Benjamins einer eindeutigen Zuordnung in traditionelle Gattungsschemata. Unter seinen längeren oder kürzeren Prosawerken finden sich Monographien, Aufsätze, Kritiken, Sammlungen philosophischer, historiographischer und autobiographischer Vignetten, Hörspiele, von ihm edierte Briefe und andere literarhistorische Dokumente, Kurzgeschichten, Dialoge wie Tagebücher. Darüber hinaus hat er aber auch Gedichte, Übersetzungen französischer Prosa und Poesie und Tausende fragmentarischer Überlegungen von unterschiedlicher Länge und Bedeutung hinterlassen.
Die auf den Seiten seiner Werke so verdichtet evozierten »Bildwelten«2 werfen Licht auf die turbulenten Anfangsjahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Aufgewachsen in einer assimilierten, wohlhabenden jüdischen Familie im Berlin der Jahrhundertwende, war Benjamin ein Kind des deutschen Kaiserreichs. Seine Aufzeichnungen sind voller Erinnerungen an die vom Kaiser so geliebte monumentale Architektur. Aber er war auch ein Kind der explosiven urbanen kapitalistischen Moderne; Berlin war um 1900 Europas modernste Stadt, in der man überall auf neue technische Errungenschaften stieß. Als junger Mann opponierte er gegen Deutschlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg; er entzog sich dem Wehrdienst und verbrachte in der Folge die meiste Zeit des Krieges in der Schweiz – dennoch durchziehen Visionen von Krieg und »Vernichtungsnächten«3 sein Werk. Im Laufe der knapp anderthalb Dekaden der Weimarer Republik erlebte Benjamin zunächst in den Nachkriegsjahren den blutigen Konflikt zwischen der radikalen Linken und der radikalen Rechten, dann die verheerende Hyperinflation in den frühen Jahren der jungen Demokratie und schließlich die lähmende Fragmentierung der politischen Strukturen in den späten Zwanzigerjahren, die 1933 schließlich zur Machtergreifung Hitlers und der Nationalsozialisten führte. Wie fast alle bedeutenden deutschen Intellektuellen dieser Zeit floh Benjamin im Frühjahr 1933 aus Deutschland – und konnte niemals wiederkehren. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Paris, isoliert und fast mittellos, während die Möglichkeiten, seine Arbeiten zu veröffentlichen, immer dürftiger wurden. Es sollte sich bewahrheiten, dass es »Orte [gibt], an denen ich ein Minimum verdienen und solche, an denen ich von einem Minimum leben kann, aber nicht einen einzigen, auf den diese beiden Bedingungen zusammen zutreffen«.4 In der letzten Periode seines Schaffens musste er erleben, wie der Schatten des kommenden Krieges sich über ganz Europa ausbreitete.
Warum spricht Benjamins Werk mehr als siebzig Jahre nach seinem Tod immer noch so unwiderstehlich sowohl den Laien wie den Gelehrten an? Da ist zuallererst die Kraft seiner Ideen: Sein Werk hat unser Verständnis für viele bedeutende Schriftsteller neu geformt, unser Verständnis von den Möglichkeiten des Schreibens selbst, vom Potential und von den Gefahren der technischen Medien und von der Stellung der europäischen Moderne als historisches Phänomen. Doch verkennt seine volle Bedeutung, wer seine dezidiert gestochene Sprache ignoriert – den mit nichts zu vergleichenden Benjamin'schen Stil. Schon kraft seines sprachlichen Vermögens kann Benjamin neben den subtilsten und scharfsinnigsten Schriftstellern seiner Zeit bestehen. Und er war ein bahnbrechender Erneuerer der Form: Die Werke, die ihn am besten charakterisieren, basieren auf einer Form, die er nach dem Dichter Stefan George »Denkbild« nannte, eine aphoristische Prosa, die philosophische Analyse mit einer konkreten Bildersprache verbindet und so einen unverwechselbar persönlichen und kritischen Darstellungsstil hervorbringt. Selbst seine offensichtlich diskursiven Aufsätze sind oft insgeheim aus Sequenzen dieser treffend scharfen Denkbilder zusammengesetzt und nach den Montage-Prinzipien der Avantgarde arrangiert. Benjamins Genius schuf Formen von solcher Tiefe und Komplexität, dass sie den Vergleich mit Zeitgenossen wie Heidegger und Wittgenstein nicht zu scheuen brauchen, und seine unvergessliche Prosa zieht den Leser vom ersten Wort an in seinen Bann und hallt im Gedächtnis nach. Deshalb ist Benjamin zu lesen ein gleichermaßen sinnliches wie intellektuelles Erlebnis. Wie bei jenem ersten Kosten der in den Tee getunkten Madeleine blühen vage erinnerte Welten in der Vorstellung auf. Und so wie Wörter und Sätze nachklingen, sich neu ordnen und zu verwandeln beginnen, passen sie sich auf subtile Weise einer neu erstehenden rekombinatorischen Logik an und geben allmählich ihr destabilisierendes Potential frei.
Doch bei aller brillanten Unmittelbarkeit seines Schreibens bleibt der Mensch Benjamin schwer zu fassen. Wie das vielseitige Œuvre selbst machen seine Überzeugungen und Ansichten das »widerspruchsvolle und bewegte Ganze« – so charakterisierte er sich selbst – seiner Persönlichkeit aus. Diese Formulierung, aus der sich ein Appell an die Geduld des Lesers heraushören lässt, bezeugt seinen vielgestaltigen und polyzentrischen Geist. Dass sich die Person Benjamins uns entzieht, liegt aber auch an seiner Eigenart, sich einen möglichst hermetisch abgeschlossenen Freiraum zum ›Experimentieren‹ offenzuhalten, ein Bestreben, das eine grundsätzliche Befangenheit verrät....