Mike und ich und Max Ernst - Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte

Mike und ich und Max Ernst - Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte

von: Antonia Michaelis

Loewe Verlag, 2018

ISBN: 9783732010967

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 1887 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mike und ich und Max Ernst - Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte



Die Erschaffung der Eva


s war ja ganz leicht!

Man brauchte bloß das eine Bein auszustrecken, dann das andere … Man hatte es vermutlich schon immer gekonnt. Man hatte nur noch nie zuvor daran gedacht.

Zielstrebig züngelnd sah sie die Flammen auf sich zukommen gleich gierigen gelben Glutfingern mit rastlosen roten Rändern. Sie leckten bereits an ihrem Fuß.

Mit einem Aufschrei zog sie ihn zurück. Sie musste schnell machen, schnell … Keine Zeit verlieren! Dem Feuer ausweichen, hierhin und dorthin schlüpfen, zwischen den Brettern und den Ballen alter Leinwand hindurch …

Und endlich, endlich tat sie den letzten Sprung ins feuchte, dunkle Gras. Sie keuchte, und ihre Füße waren nass. Noch nie in ihrem Leben hatte sie gekeucht, und noch nie waren ihre Füße nass gewesen. Was für eine merkwürdige Erfahrung!

Sie konnte auch fühlen, dass sie an manchen Stellen beschädigt war. Das Feuer hatte sie nicht ganz ungeschoren davonkommen lassen. Bei Tage würde sie es sich ansehen.

Denn jetzt, jetzt war Nacht. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und sah empor in einen Himmel voller Sterne. Die Gluttropfen, die das Feuer spie, gesellten sich zu ihnen. Der Himmel war ein Himmel über Paris, und das Feuer brannte in einem Garten in Paris, und die Gestalt, die reglos dort stand, war ein Kind dieser Stadt.

Tief atmete sie die Pariser Luft ein, eine Luft übervoll von Kunst und Licht und Leben wie die Luft anderer Orte mit den Sporen von Pilzen.

Und sie spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Er hätte sie also verbrennen lassen! Er hätte zugesehen, wie die Flammen sie fraßen. Was für ein Künstler war er, dass er ihre Schönheit nicht erkannte? Sie einfach fortwarf? Womöglich stand er noch immer oben am Fenster, Max Ernst, mit ihr, mit der anderen. Eva.

Sie erhob ihre kleine Faust gegen sie und sprach einen lautlosen Fluch.

Noch war sie schwach und unerfahren, sie wusste kaum, wie man die Füße voreinander setzt, und gewiss nicht, wie man sich rächt. Aber die Zeit würde kommen. Sie würde lernen, böse zu sein.

(1923)

Zunächst schien alles ganz gewöhnlich.

In der kleinen Wohnung über dem Museum wölbte sich blaues Licht auf den Teppichrändern. Auf Lucindas Schreibtisch lag eine Nachricht von Peter. Sie war bestimmt von Peter, denn er schrieb seine Nachrichten immer auf die Rückseiten von Kunstpostkarten. Wenn man Museumsdirektor ist, kann man seiner Tochter ruhig ab und zu Nachrichten auf Kunstpostkarten schreiben.

Lucinda streifte die Sandalen ab und kletterte auf den Schreibtisch, um den blauen Vorhang zurückzuschieben und das Fenster zu öffnen. Eine Hitzewelle schlug ihr entgegen. Draußen atmete Berlin den Beginn der Sommerferien ein und aus.

Die anderen saßen jetzt irgendwo in einem Eiscafé, und in den nächsten Tagen würden sie in kleinen Cliquen zusammen wegfahren. Ans Meer vielleicht. Abends würden sie in eine Menge Kneipen und Discos gehen und eine Menge Bier trinken …

Lucinda würde mit niemandem wegfahren. Sie würde Peters Nachricht lesen, ihr unscheinbares mausbraunes Haar kämmen und anschließend hinunter ins Museum gehen und ein wenig mit den Bildern sprechen. Wenn die anderen wüssten, dass sie mit Bildern sprach, dachte sie, würden sie sie für noch bescheuerter halten, als sie es ohnehin schon taten.

„Aber andererseits“, flüsterte Lucinda dem blauen Vorhang zu, der sich im Windhauch bewegte, „andererseits spreche ich vielleicht nur mit den Bildern, weil die anderen mich für bescheuert halten.“

Unten, auf der kleinen Straße, in der das Museum lag, ging eine Frau in heller Wildlederjacke und -hose vorbei. Lucinda schüttelte den Kopf. Wie konnte jemand bei dieser Hitze in Leder herumlaufen? Das lange, schwarze Haar floss an der Gestalt hinunter wie ein Wasserfall, und sie war so zierlich und so perfekt, dass Lucinda ihr einen Moment lang nachstarrte. Die Frau verlangsamte ihre Schritte und sah sich um. Suchte sie den Eingang zum Museum? Sollte Lucinda rufen? Denn wozu sonst käme ein Mensch in diese schmale, unscheinbare Seitenstraße?

„Unser Leben“, wisperte Lucinda in die Vorhangfalten, „ist auch eine Seitenstraße. Meins und das von Peter …“

Der Vorhang schüttelte sich.

„Du hast Recht: Wie pathetisch!“, sagte Lucinda, „Ja, das finde ich auch.“

Als sie wieder hinunter auf die Straße sah, war die schöne Fremde verschwunden.

Wie gesagt – bis dahin erschien alles ganz gewöhnlich. Aber dann drehte Lucinda die Karte um und las Peters Botschaft.

Und da hörten die Dinge auf, gewöhnlich zu sein.

Sie ist weg, stand auf der Rückseite der Karte.

Bitte komm herunter, Lucy. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Wer war weg?

Neben der einen, einzelnen Karte lag ein ganzer Abreißblock anderer Postkarten. Peter hatte vergessen, ihn wieder mitzunehmen.

Max Ernst, las Lucinda. Alle von Max Ernst. Sie drehte die Karte mit der Botschaft um und betrachtete das Bild darauf, während sie in ihre Sandalen schlüpfte.

Sie kannte dieses Bild. Es hing unten im Museum, eine Leihgabe, und gestern noch hatte sie mit der Frau darauf gesprochen. Nicht, dass die Frau geantwortet hätte …

Lucinda befand sich bereits auf der schmalen Treppe, die hinunter zum Museum führte, als sie merkte: Mit dem Bild auf der Karte stimmte etwas nicht. Nicht nur dass dieses hier schwarz-weiß war. Die Frauengestalt darauf sah auch ganz anders aus. Und es gab eine Landschaft im Hintergrund. Auf dem Bild im Museum gab es keine.

Verwirrt steckte Lucinda die Postkarte in ihre Hemdtasche und öffnete vorsichtig die Tür, die die Wohnung mit dem Museum verband.

„Eine Geheimtür“, hatte Peter immer gesagt, als Lucinda noch klein gewesen war. „Verrate sie niemandem. Falls wir einmal vor einem Ungeheuer fliehen müssen.“ Sie lächelte – doch nur eine Sekunde lang. Dann gerann das Lächeln auf ihrem Gesicht.

Normalerweise war das Museum an Wochentagen so gut wie leer. Aber jetzt war es mit einem Mal voll, voller Polizeibeamter in Uniformen. Sie schienen aus jeder Ritze zwischen den Bilderrahmen hervorzuquellen, sie krochen auf dem Boden herum und tasteten die Wände ab und klopften an den kleinen grauen Kästen der Alarmanlage herum. Lucinda machte auch zwei große Hunde aus und presste sich dicht an die Wand. Sie mochte keine Hunde. Sie mochte keine Hunde und keine großen Straßen und keine Polizisten und keine Lehrer. Und keine Bahnhöfe und keine hohen Häuser und …

Bisher waren das Museum und die Wohnung die einzigen sicheren Orte gewesen. Offenbar hatte sich das schlagartig geändert.

Sie musste herausfinden, was hier los war. Sie musste Peter finden.

Möglichst lautlos stieß sie sich von der Wand ab und schlich zwischen den Polizisten hindurch. Wenn sie sich nur still genug verhielt, bemerkte vielleicht niemand sie. Vor allem hoffentlich kein Hund.

„Aber hallo!“, rief da jemand direkt neben ihr und packte sie am Arm. „Was tut denn das Mädchen hier?“

Lucinda machte sich klein vor der lauten Stimme.

„Ich … ich …“, stotterte sie und spürte, wie das Blut ihr ins Gesicht schoss, als er ihren Blick suchte. Jemand aus ihrer Klasse hatte einmal gesagt, das Grau von Lucindas Augen wäre so unauffällig, dass man Angst bekommen konnte, unsichtbar zu werden, wenn sie einen damit zu lange ansah. Sie blickte auf ihre Füße hinunter. Warum dachte sie jetzt über ihre Augen nach? Und warum konnte sie vernünftige Dinge nur zu den Bildern sagen?

„Ich wollte nur –“

„Hier ist jetzt geschlossen“, dröhnte der Polizist unter einem Schnauzbart hervor. Lucinda fand, er sah auch ein bisschen aus wie ein Hund. Sie hätte ihn gerne gefragt, ob er keinen Maulkorb tragen müsste …

„Es steht doch groß und deutlich draußen dran, dass das Museum geschlossen ist …“, fuhr der Hunde-Beamte fort. „Kannst du nicht lesen, Mädchen?“

„Mein Vater …“, flüsterte sie. „Ist ihm … ist ihm etwas zugestoßen? Wer … wer ist weg?“

Der Polizist schnaubte verwirrt. „Wie – wer ist weg? Willst du mich hochnehmen oder was?“

Lucinda schüttelte den Kopf und sah auf ihre Füße, neben denen die Füße des Polizisten groß und feindselig in ihren Stiefeln standen. Ein anderes Paar Stiefel gesellte sich dazu.

Jetzt verhaften sie mich, dachte Lucinda. Und gleichzeitig: Was für ein Unsinn! Warum sage ich nicht einfach, dass ich hier wohne? Nein, Peter musste es sagen. Peter musste kommen und ihnen alles erklären. Sie konnte es nicht. Sie hatte so was noch nie gekonnt. Aber – wenn Peter gar nicht mehr hier war? Wenn sie Peter mitgenommen hatten? Was konnte er getan haben, um all diese grünen Uniformen anzulocken?

„Lucinda!“, sagte jemand über ihr. „Da bist du ja! – Hören Sie, das ist meine Tochter. Ich hatte sie gebeten herzukom- men …“

Peter legte ihr eine Hand auf die Schulter, und da hob sie ihren Blick von den Stiefel-Füßen und sah in sein Gesicht.

„Was ist passiert?“, flüsterte sie.

„Komm“, sagte Peter. „Ich zeige es dir.“ Seine Brille war verrutscht, und sein lichtes Haar ragte in alle möglichen Richtungen. Der hellblaue Schlips unter seiner Weste hing auf halb acht.

Lucinda ließ sich von seiner großen Hand führen und fühlte sich wieder klein. Als sie jetzt zurückblickte, sah sie, dass es nur drei waren. Drei Polizisten. Und der Hund war auch nur einer. Wie kam es nur, dass...

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