Melancholie - Die traurige Leichtigkeit des Seins

Melancholie - Die traurige Leichtigkeit des Seins

von: Josef Zehentbauer

Kreuz Verlag, 2003

ISBN: 9783783119114

Sprache: Deutsch

193 Seiten, Download: 454 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Melancholie - Die traurige Leichtigkeit des Seins



Bin ich depressiv? (S. 55-56)

»Es ist Abend geworden.
Gequält von welker Sehnsucht schleppe ich mich
bald durch Wälder, bald über eine Wiese.
Schwermut ist in meiner müden Seele,
Schwermut – wohin ich auch schaue.
Es hat angefangen zu regnen,
und der Donner wird bald erdröhnen.«

(Nikolaj Alekseevic¡ Nekrasov)

Wenn das sanft auf dunkler See schaukelnde Boot der Melancholie durch eigene Unachtsamkeit oder durch einen heranbrausenden Sturm kentert, so fällt man in das Tränenmeer und sinkt tief und schwer in ein dunkles Sein der Trostlosigkeit. Im Tränenmeer der Depression überleben – tief unten – manche erstaunlich lang, doch irgendwann kommt es zur lange bedachten Entscheidung: sich wieder mit letzter Kraft nach oben strampeln und Zuflucht suchen im vormals verlassenen, hoffentlich noch seetüchtigen Boot … oder … sich wie ein Schiffbrüchiger von anderen retten lassen, falls überhaupt eine Rettungsmannschaft in Sicht ist … oder … bedächtig immer tiefer sinken und mit müder Ausdauer überleben, solange die eigenen Reserven reichen, bis man sich schließlich – verzweifelt oder erleichtert – der fernen, ewigen Stille hingibt …
»Steinernes Meer und Kieselwogen.


Wind, der du im Drüberwehn

lässt durch die Felsen ein Zittern gehen,
im Marmor die Seele des Meeres erstehn …
Grüner Schiffbrüchiger, der aus dem Unendlichen
du tauchst ein ins Herz des Granits:
toter wird dein Tod sein
als alle Tode.«


(Alberto Savinio: ›Tutta la vita‹)

Das weite Reich der Melancholie scheint durch die Marksteine des Todes begrenzt. Jedoch lässt sich die Melancholie nicht in Grenzen zwingen, sie verbreitet sich im Diesseits und Jenseits, allenfalls zeichnet der Tod die Demarkationslinie zwischen diesen beiden Bereichen. Wesentliches unserer Welt und des Kosmos gelangt mittels der Melancholie zur sinnlichen Wahrnehmung – so lässt sich die Melancholie nicht nur als Stimmung definieren, sondern Melancholie ist wesentlicher Bestandteil allen Seins, und damit auch des menschlichen Seins. Die Melancholie offenbart uns die tieferen Zusammenhänge der Existenz. Nun ist es gerade dieses Grenzüberschreitende, dieses intellektuell weit ins Philosophische und Religiöse Hineinragende, was den Psychowissenschaften zu schaffen macht. Psychologie und Psychiatrie ziehen artifizielle Grenzen der Existenz, innerhalb derer sie die Psyche zu erforschen versuchen. Die grenzüberschreitende Melancholie stellt dieses System infrage.

Pol und Gegenpol – Melancholie und Depression

Die Melancholie galt im Mittelalter als Krankheit, in der Antike und Renaissance als ausgezeichnete Charaktereigenschaft, und für die Romantiker war sie Zugang zum Geheimnis menschlichen Seins. Doch in den wissenschaftlichen Schubladen der gegenwärtigen Psycho-Forscher ist die ›Melancholie‹ eigentlich nicht mehr zu finden. Zunächst hat die zunehmend naturwissenschaftlich orientierte Medizin und Psychiatrie des 19. Jahrhunderts wesentliche Eigenschaften der Melancholie als psychiatrische Symptome deklariert, neu geordnet und das Resultat zur »Krankheit«, zur »melancholischen Krankheit« erklärt. Hiermit wurde die »heilige Melancholie« als herausragender Bereich unserer Existenz entthront, die Brücke zum Transzendenten wurde niedergerissen. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff »Melancholie« zunehmend aus dem psychowissenschaftlichen Katalog gestrichen und durch den Terminus »Depression« ersetzt.

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