Der Wald der Gehenkten - Roman
von: Liviu Rebreanu
Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, 2018
ISBN: 9783552059344
Sprache: Deutsch
352 Seiten, Download: 1156 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
1
Ein dunstig trüber Flecken Lichts lag auf dem weiß gekachelten Boden vor den beiden Eisenbetten des Behelfskrankenzimmers.
Durch das einzige Fenster lugten die im Frost des späten Februars zitternden schwarzen Zweige eines alten Birnbaums herein. Die von Stöhnen und Schmerzen getränkten Wände mischten ihren Atem mit den beklemmenden Dünsten des Spitals und der Hitze des Kachelofens hinter der Tür.
Auf den frisch bezogenen Betten lagen die beiden Offiziere in langen Kitteln auf dem Rücken, die Augen starr an die hohe Decke geheftet. An der Wand am Kopfende standen weiß auf schwarzen Täfelchen ihre Namen: Leutnant Bologa, Leutnant Varga … Auf den Nachtschränkchen lagen inmitten der Arzneifläschchen die Fieberdiagramme zum Zeichen, dass sie die ärgsten Martern überstanden hatten.
In der von den Erinnerungen an die Schmerzen geschwängerten Luft lag ein drückendes Schweigen, das Varga plötzlich mit ängstlicher Stimme durchbrach, wobei er sich im Bett aufrichtete, als hätte er ein Gespenst gesehen: »Wieso schweigst du, Kamerad? … Sag etwas, irgendwas, ich bitte dich von Herzen, denn dieses Schweigen ist schmerzlicher als eine Schrapnellwunde!«
Bologa wandte ihm das bleiche und vom Leid verhärmte Gesicht zu, tat aber den Mund nicht auf. Varga verharrte eine Minute lang erwartungsvoll, dann ließ er sich wieder auf den Rücken sinken und sagte eher für sich selbst: »Sechs Monate liegen wir nun schon danieder, ziehen von Spital zu Spital, immer näher heran an die Front … Ich hasse sie auf den Tod, die Doktoren und die Verbände und die wohltätigen Schwestern! Wenn es wenigstens bald Urlaub gäbe …«
Apostol schwieg. In den drei Monaten, die ihm die Ärzte das Sprechen verboten hatten, weil sein rechter Lungenflügel von einem Granatsplitter zerfetzt worden war, hatte er das Schweigen liebgewonnen. In dieser Zeit hatten sich seine Gedanken an eine schöne Ordnung gewöhnt, ohne überstürzte Aufwallungen und vor allem ohne Schmerzen. Im Übrigen war sein Kopf von allem Anfang an klar gewesen, als wären all seine Erinnerungen von Meisterhand aus seinem Hirn gelöscht worden. Als er in der Divisionsambulanz zum ersten Mal wieder zu sich kam, sah er den Doktor Meyer und Petre. Er erkannte sie nicht, verspürte aber eine dermaßen heftige Freude, dass er sofort das Bewusstsein verlor. Zum zweiten Mal erwachte er in einem Lazarettzug, mit derselben Freude im Herzen und wieder nur für wenige Augenblicke. Zum dritten Mal schließlich schlug er die Augen in einem weißen Krankenzimmer auf, im Spital. Das Bett war von Doktoren umringt.
»Bravo, Toter!«, sprach ihn einer mit weißen Koteletten und schwarzem Schnurrbart an. »Gut, dass du auferstanden bist … Wo du nun schon sechs Tagen so daliegst …«
Da empfand Apostol das Glück, am Leben zu sein, als unsäglich süßen Rausch und flüsterte mit von der Fieberglut gesprungenen Lippen kaum hörbar: »Mir tut nichts weh … gar nichts …«
Sieben Wochen lang war er eher des Todes denn am Leben gewesen. Neben der Wunde in der Brust hatte er noch einen Trümmerbruch im linken Bein und einen tiefen Riss im Oberschenkel.
»Deine Heilung ist ein Wunder«, sagte ihm der Doktor mit weißen Koteletten und schwarzem Schnurrbart später. »Du hast eine außergewöhnliche Vitalität, sonst wandeltest du schon lange in der Welt der Gerechten!«
Als sein Bein und sein Oberschenkel geheilt waren, verlegten sie ihn in die Nähe seiner Einheit, in dieses Spital, weil dort drüben große Transporte von Verwundeten aus den neuen Kämpfen eintrafen. Fast einen Monat lang lag er allein hier in dem Behelfskrankenzimmer am Ende des Korridors im ersten Stock. Petre saß den ganzen Tag an seinem Bett und suchte seine Gedanken zu erraten und seine Wünsche zu erfüllen. Morgens und nach der Visite las er ihm mit vor Frömmigkeit getragener Stimme aus dem Traum der Mutter Gottes vor, und Bologa hörte ihm zu, ohne die Worte zu verstehen, das Herz aber voll matter, warmer Dankbarkeit … Eines Tages dann erzählte ihm der Bursche, so gut er es vermochte, was damals geschehen war, in jener Nacht … Seiner Erzählung konnte Apostol nicht allzu viel entnehmen: Er war am Rande eines Granattrichters unter den Trümmern des Beobachtungspostens verschüttet worden, und dort hatte Petre ihn um die Mittagszeit gefunden, nachdem die Moskowiter mithilfe der Entsatzdivision in ihre alten Stellungen zurückgedrängt worden waren … Die Erzählung des Soldaten rief ihm jedoch die Hoffnungen jener Nacht in Erinnerung und ließ all die Gedanken von damals emporkochen. Unruhe kam in ihm auf wie im Angesicht einer demütigenden Vorstellung. Etwa drei Tage lang suchten ihn dann die auf anhaltender Glut brodelnden Gedanken heim, quälten ihn und fraßen an seinem Innersten. Er dachte bei sich, dass alle seine Anstrengungen, dem Schicksal zu entgehen, gescheitert waren und dass ihn von heute an nur noch der Tod erlösen könne … Vor dem Tod jedoch graute ihm jetzt noch mehr als vor der Aussicht, an die rumänische Front gehen zu müssen. Vergeblich versuchte er seinen Ehrgeiz aufzustacheln, indem er sich der Feigheit zieh; die immer heftiger aufflackernde Liebe zum Leben erstickte seinen Antrieb mit der steten Einflüsterung: Erst komme ich, dann der Rest der Welt!
In einer schlaflosen Nacht fand er dann den Frieden mit sich selbst. Schließlich und endlich war das, was das Schicksal getan hatte, wohlgetan. Wieso hätte er zu den Russen überlaufen sollen, wenn sich ihm gerade die Gelegenheit bot, zu den Rumänen überzulaufen? Für die Moskowiter wäre er einfach ein verachtungswürdiger Deserteur gewesen, während ihn die Rumänen wie einen Bruder empfangen würden. Dort wäre die Desertion ein ehrenrühriges Verbrechen gewesen; hier wird er wie ein wahrer Held erhobenen Hauptes daherkommen und alsbald gegen die wahren Feinde kämpfen können … Die Furcht vor der rumänischen Front entbehrte demnach jeder Grundlage. Ein Glück, dass das Schicksal ihn davor bewahrt hat … Seine Pflicht ist, zu leben und zu obsiegen. Dem Menschen, der ein Ideal hat auf dieser Welt, erscheint als Feigheit nicht das Leben, sondern der Tod.
Am Tag darauf begannen die Gedanken sich zu glätten, alle stellten sie sich wie treue Gehilfen in den Dienst seiner Ruhe. Mit der Ruhe aber flammte in seiner Seele auch der Hass gegen alle Fremden um ihn her umso lebendiger auf. Er hasste die Ärzte, die ihn behandelten, die Barmherzigen Schwestern, die Offiziere in Konvaleszenz, und er schätzte sich glücklich, dass er wegen der Wunde in der Lunge zum Schweigen verurteilt war. An dem Tag, als ein alter General, umringt von einer Horde fescher Offiziere, sich einfand, um ihm für die Zerstörung des Scheinwerfers die Goldmedaille an die Brust zu heften, tat Bologa, als ginge es ihm schlecht, damit er nicht gezwungen war, entzückt zu tun.
Eines Tages dann, etwa einen Monat war es her, wurde Varga zu ihm in den kleinen Salon gelegt, der in derselben Nacht an der linken Hüfte schwer verwundet worden und nach Aufenthalten in allerhand Spitälern hier gelandet war. Fürs Erste war Apostol erfreut, und da er schon ein wenig reden durfte, erzählten sie sich, was ihnen zugestoßen war. Varga erklärte ihm bis in alle Einzelheiten, wie sich der Angriff der Russen abgespielt hatte, wie sie fast bis zu den Geschützständen der Artillerie vorgedrungen und durch einen Blitzangriff zurückgeworfen worden waren. Dennoch waren in diesem Kampf zwei Infanterieregimenter fast gänzlich aufgerieben worden, auch seine Husaren hatten vor allem beim Gegenstoß herbe Verluste erlitten, wobei auch er den Splitter abgekriegt hatte, der ihn fast zum Krüppel gemacht hätte, weil ein geistesgestörter Doktor ihm partout das Bein abnehmen wollte. Der Husarenleutnant bebte vor Empörung darüber, dass das Gefecht, in dem mehr als zweitausend Mann gefallen waren und er selbst beinahe das Zeitliche gesegnet hätte, in den Frontberichten nicht einmal Erwähnung gefunden hatte. All seine Hoffnung setzte er in einen langen Genesungsurlaub.
Je mehr Varga redete und sich ereiferte, desto finsterer sah Bologa drein. Die Worte, selbst der Blick, alles erschien ihm feindlich, und er wunderte sich, dass dieser Mensch ihm sympathisch erschienen war. Um nicht mehr mit ihm sprechen zu müssen, beschaffte er sich einen Stapel Bücher und begann darin nach Erklärungen und Beweisen zu suchen. Zwei Wochen lang wälzte er sie mit heißem Bemühen. Allerdings fand er keine Erklärung, weshalb das Gute nicht immer und überall war. In all den Büchern erschien ihm der Mensch abgetrennt vom wahren Leben, einsam und abstrakt wie eine mathematische Formel. Jemand hatte sich an den Tisch gesetzt, im Vollgefühl des Vertrauens in die eigenen Kenntnisse und Lebenserfahrungen, und hatte entschieden, dass die Menschen so und so sein sollten, dass es gut sei, wenn man das eine, und böse, wenn man das andere tat. Und in dieses Schema will jener Jemand die lebendigen Seelen zwingen, sie fesseln, als richtete sich das Leben nach irgendjemandes Wünschen und Beschlüssen. Dabei geht das Leben weiter, teilnahmslos zerfetzt es nicht nur die Systeme der Wissenschaftler, sondern auch das Denken der Menschen, es schafft in jedem Augenblick neue Situationen, neue Ideen, die die lilliputanische menschliche Phantasie niemals wird begreifen oder gar voraussehen können. Ein Wechselfall des Lebens hat Millionen Menschen einander gegenübergestellt, sie mit dem Zeichen des Todes versehen und so gezwungen, ungeahnte Geheimnisse in ihren Seelen zu entdecken und unerwartete Entscheidungen zu treffen. Im Wirbelsturm des Lebens sind die Bücher Haufen von Wörtern ohne Bedeutung. Der...