Philosophie der Zeit - Grundlagen und Perspektiven

Philosophie der Zeit - Grundlagen und Perspektiven

von: Norman Sieroka

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406727887

Sprache: Deutsch

128 Seiten, Download: 2798 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Philosophie der Zeit - Grundlagen und Perspektiven



1. Einleitung: Zeit als grundlegende Dimension des geistigen und körperlichen Lebens


Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist der alltagsweltliche Befund, dass Zeit eine grundlegende Dimension ist, in der sich der Mensch sowohl als biologisch-physikalisches wie auch als geistiges Wesen verortet. Viele Dinge – seien es Erinnerungen, Erdbeben, Gerichtsurteile, Arzt- oder Konzertbesuche – lassen sich zeitlich ordnen und haben jeweils spezielle zeitliche Strukturmerkmale. Zeit ist keine Substanz, ist nichts Materielles, das man anfassen könnte, sondern eine Dimension im Sinne eines Ordnungsparameters, der in verschiedenen Zusammenhängen und in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt. Grund genug also, sich diese Erscheinungsformen und die Art, wie sie in den verschiedenen philosophischen Teildisziplinen behandelt werden, genauer anzuschauen.

a) Erscheinungsformen von Zeit


Zunächst kann man unterscheiden zwischen der physikalischen Zeit, die eine Uhr misst bzw. anzeigt, und der Zeit, wie sie einem erscheint oder wie man sie wahrnimmt. So mag es etwa laut Uhr in beiden Fällen zehn Minuten gedauert haben, dennoch erschien mir das Warten an der Supermarktkasse deutlich länger als die Unterhaltung auf dem Flur mit der befreundeten Kollegin.

Auch kann man diverse Formen von Zeiten bzw. Zeitrahmen unterscheiden, wie sie aus politischen und allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten erwachsen. Das politische Leben gliedert sich unter anderem in Legislaturperioden, das Leben in einem Städteverbund unter anderem gemäß den Taktungen von Nahverkehrsverbindungen, das religiöse Leben beispielsweise gemäß dem Kirchenjahr usw.

Ferner gibt es große Zeitskalen wie die historische Zeit, die mit der Existenz des Menschen und dessen historischem Bewusstsein verbunden ist, und geologisch relevante Zeiten, die beispielsweise mit der Entwicklung der Erdoberfläche und mit Klimaschwankungen und Eiszeiten zu tun haben.

Diese Liste von Erscheinungsformen von Zeit mag zur motivierenden Einführung genügen. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und es werden die genannten Formen im Folgenden auch nicht alle in gleicher Ausführlichkeit behandelt.

b) Themen und Motive dieses Buches


Der Hauptteil dieses Buches gliedert sich entlang der gerade eingeführten groben Unterscheidung zwischen Zeit als etwas, das es in der metaphysischen und physikalischen Wirklichkeit gibt und das vermeintlicherweise unabhängig ist vom Menschen (Kapitel 2 bis 4), und Zeit als etwas, das insbesondere menschliche Wahrnehmungen, Erfahrungen und Handlungen strukturiert (Kapitel 5 bis 7).

Diese Unterscheidung spiegelt zum einen die genannte These wider, wonach Zeit eine grundlegende Dimension des menschlichen Daseins ist. Zum anderen motiviert sie eine allgemeine Trennung zweier Arten, wie man Ereignisse zeitlich ordnen kann: nämlich modalzeitlich gegenüber lagezeitlich. Diese Unterscheidung wird in Kapitel 2 eingeführt, und sie wird zum zentralen Beschreibungswerkzeug werden, um die strukturellen Besonderheiten wie auch die Zusammenhänge der verschiedenen Erscheinungsformen von Zeit aufzuzeigen.

Außerdem werden in Kapitel 2, das sich der Metaphysik widmet, die Fragen behandelt, ob bzw. inwiefern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (noch bzw. bereits) existieren, mit welcher Geschwindigkeit Zeit scheinbar verfließt und welche Konsequenzen aus einem Fatalismus folgen, der besagt: «Was geschehen wird, wird geschehen.»

Die darauffolgenden beiden Kapitel sind zeitphilosophischen Aspekten gewidmet, die sich im Kontext der Formalwissenschaften Mathematik und Informatik sowie im Kontext der Physik ergeben. Dabei behandelt Kapitel 3 insbesondere die Fragen, ob Zeit kontinuierlich ist (bzw. ob sich Kontinuität begrifflich fassen lässt) und welche erkenntnistheoretischen Bedeutungen Daten haben, die in Form von Zeitreihen vorliegen. Kapitel 4 zur Physik widmet sich vor allem den Fragen, inwiefern Vorgänge in der Natur eine Gerichtetheit oder zeitliche Orientierung besitzen, wie die Dauer solcher Vorgänge gemessen werden kann und ob Zeitreisen (logisch wie physikalisch) möglich sind.

Mit Kapitel 5 zur Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaften beginnt die Diskussion von Zusammenhängen, die vornehmlich mit dem menschlichen Wahrnehmen und Handeln zu tun haben. Hier geht es zunächst um das Zeitbewusstsein: um dessen innere Dynamik; um die besondere Rolle, die die auditorische Wahrnehmung (und die Musik als «Zeitkunst») in diesem Zusammenhang einnimmt; aber auch um Psychopathologien in der Zeitwahrnehmung mitsamt ihren weitreichenden (und oft leidvollen) Konsequenzen. In Rückbindung an das vorangegangene Kapitel zur physikalischen Zeit werden dabei an verschiedenen Stellen Verbindungen zu experimentellen Befunden aus den Neurowissenschaften aufgezeigt.

Kapitel 6 widmet sich normativen und alltagspraktischen Fragen: Wie vernünftig sind zeitliche Vorurteile der Art «lieber heute als morgen»? Inwiefern können wir heute Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen tragen, wenn diese Generationen noch gar nicht existieren? Wie viel Zeit darf ein demokratischer Diskurs beanspruchen? Wie ist das zeitliche Verhältnis von Straftat zu Strafe: Ist es zu rechtfertigen, dass Taten verjähren, und aus welchen Gründen darf man Täter nicht vor der Tat bestrafen?

Abgerundet wird der Hauptteil durch Kapitel 7, in dem die Frage reflektiert wird, inwiefern sich die Philosophie ihrer eigenen Zeitlichkeit bewusst sein sollte. Das heißt, in diesem Kapitel geht es um die Relevanz und Methoden der Geschichtsschreibung der Philosophie.

Den Schluss (Kapitel 8) bildet eine vergleichende Analyse der behandelten teildisziplinären Fragestellungen. Zentral sind hier die Begriffe der Strukturanalogie und der «Synchronisation» zwischen verschiedenen Zeitformen, wobei sich allerdings statt einer völligen Übereinstimmung oder «Resonanz» oftmals gerade (wohldosierte) «Desynchronisationen» als wichtig erweisen werden. Dabei wird nochmals deutlich werden, warum die erste grobe Unterscheidung zwischen einer physikalischen und einer erlebten Zeit durchaus sinnvoll war – nämlich, weil man sämtliche Zeiterscheinungen nicht einfach auf eine einzige elementare Zeitform (bspw. die physikalische Zeit) reduzieren kann, wohl aber Zeit als eine Art gemeinsamen Ausgangspunkt erachten kann, von dem aus sich einerseits eine Theorie der Natur und andererseits eine Theorie der Subjektivität entwickeln lässt. Zeit ist also deutlich mehr als nur ein philosophisches Thema unter vielen.

Zum Abschluss dieser Einleitung noch ein methodischer Hinweis: Die folgenden Kapitel durchlaufen die Teildisziplinen der Philosophie zwar in einer «traditionellen Richtung», beginnend mit der Metaphysik, doch hat das nichts mit klassischen Hierarchisierungen zu tun, sondern ist lediglich dem Ziel einer eingängigen Darstellung geschuldet. Die Metaphysik bietet sich als Ausgangspunkt an, weil aus ihr viele Begriffe und Unterscheidungen stammen, die auch für die anderen Kapitel nützlich sind. Mithilfe dieser Begriffe und Unterscheidungen lassen sich nämlich verschiedene Perspektiven auf oftmals verwandte Fragenkomplexe ausmachen. Die Gerichtetheit von Zeit mag als Beispiel dienen, um das kurz zu illustrieren.

Zeitliche Ereignisse lassen sich «der Reihe nach» anordnen gemäß dem Umstand, was früher oder später passiert, oder danach, welche Ereignisse wie weit in der Vergangenheit oder Zukunft liegen oder gegenwärtig sind. Doch woher stammt die Ausrichtung oder Gerichtetheit, die diesen Ordnungen zugrunde liegt? In der Metaphysik (Kapitel 2) wird die Antwort unter anderem mit allgemeinen Konzepten der Kausalität zu tun haben. In Kapitel 4 stellt sich die spezifischere Frage, was die physikalischen Ursachen für diese Gerichtetheit sein mögen, welche physikalischen Größen die relevanten sind, die solche Anordnungen erlauben. Ein weiterer Blickwinkel erschließt sich in Kapitel 6, wenn es um die zeitlichen Vorurteile und Asymmetrien geht, denen man als Handelnder im Alltag begegnet: Beispielsweise geht man in der Regel davon aus, zwar zukünftige, aber keine vergangenen Ereignisse beeinflussen zu können. Wieder andere und wichtige Aspekte der Gerichtetheit von Zeit kommen in den Kapiteln 3 und 5 zum Tragen: Warum erleben wir permanent einen Übergang von Gegenwärtigem zu Vergangenem – und ist dieser Übergang selbst ein diskreter (abrupter) oder ein kontinuierlicher? Kapitel 7 schließlich behandelt die Frage, inwiefern die Auseinandersetzung mit diesen philosophischen Fragen...

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