Ziegelbrennen

Ziegelbrennen

von: Christian Lorenz Müller

Otto Müller Verlag, 2018

ISBN: 9783701362622

Sprache: Deutsch

460 Seiten, Download: 633 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ziegelbrennen



1


Gewöhnliche Hühner gackerten zur Türe hinaus, wenn sie mit Schaufel und Besen zu werken begann. Natürlich konnte es vorkommen, dass eine Henne, die brütete, nicht von ihren Eiern lassen wollte, aber dann duckte sie sich in der Regel tief in ihr Nest. Die Weiße jedoch stolzierte nicht selten hinter Rosmarinka auf und ab, wenn sie die Einstreu aus den Ecken kratzte und ihr der Geruch des Hühnerdrecks beizig in die Nase stieg. Heute flatterte das Huhn sogar auf die Sitzstange, die Raimund und seine Brüder quer durch den Stall gespreizt hatten, und schaute skeptisch zu, als Rosmarinka zur Spachtel griff. Die Schwiegermutter duldete keinen eingetrockneten Kot, nicht auf dem Bruthäuschen und nicht auf der Sitzstange. Und bevor die junge Frau frische Einstreu holen gehen konnte, musste sie den Stall schön säuberlich ausfegen.

Sie gab übertrieben viel Druck auf die Spachtel, als sie damit begann, den Dreck von der Latte zu schaben. Dadurch geriet das Holz unter Spannung und fing leise an zu vibrieren. Das Schwanzgefieder der Weißen zitterte leicht hin und her, es sah aus wie der feine Seidenfächer von Esther Klärmann, einer Dame, die auf dem Markt von Poschega Rosmarinkas Stammkundin gewesen war.

Das dumme Huhn dachte nicht daran, die Latte zu räumen, obwohl die Spachtelklinge gefährlich nahe an seine Krallen herankratzte. Mit vornehm gerecktem Hals blickte die Weiße Rosmarinka prüfend an, und es war, als erleuchtete ihr Gefieder den Dämmerschein des Stalls, denn an diesem nassen Apriltag fand weder durch die offenstehende Türe noch durch das Fenster viel Licht herein. Kein Zweifel, diese Henne kam sich genauso schön und besonders vor wie Esther Klärmann. Selbst im Sommer hatte die Jüdin weiße Handschuhe getragen, die nicht selten schmutzig geworden waren, wenn sie Rosmarinkas Krautköpfe geprüft hatte, ihre Melanzani oder ihren Salat. Bei wem sie jetzt wohl einkaufte? Lebte sie eigentlich noch in Poschega? Marica hatte Rosmarinka bei ihrem letzten Besuch erzählt, dass die Ustasche jetzt auch schon Halbjuden zum Ziegelbrennen schickten. Ziegelbrennen in einer Gegend, die bei einem Wetter wie heute in Sumpf und Schlamm versank, wie sollte das denn gehen?

Noch im letzten Sommer hatte Rosmarinka körbeweise Eier nach Poschega getragen, und im Herbst war sie immer ihre gestopften Gänse losgeworden, aber nun war sie schon seit Monaten nicht mehr in der Stadt gewesen. Es genügte, die Eier und die Butter ein Mal die Woche hinüber nach Sveti Ivan zu bringen, wo der Lastwagen der Wehrmacht für ein paar Stunden Station machte. Was die Kleinhäusler aus der Gegend auch brachten, es wurde unbesehen eingekauft.

Sie stoppte die Spachtel einen Fingerbreit vor den gelben Krallen der Weißen. Das Vieh begann mit dem Kopf zu rucken und ein leises „Gaaa, Gaaa“ auszustoßen, das sich so unwillig anhörte, dass Rosmarinka in plötzlichem Zorn mit der Faust auf die Sitzstange hieb. Sofort flatterte das Huhn mit Gegacker in Richtung Türe, seine Flügel schnalzten über das Dach des Bruthäuschens, bevor es ins Freie flog. Noch als es längst draußen war, hing eine bauschig-weiße Daunenfeder in der Luft. Rosmarinka schaute zu, wie sie langsam auf den Boden schwebte und ihr weißes Leuchten von der feuchten Einstreu aufgesogen wurde, dann kratzte sie den restlichen Dreck von der Latte.

Eine halbe Stunde später war der Stall gesäubert. Die Schwiegermutter würde sehr zufrieden sein, sofern sie überhaupt zu einem Kontrollgang herauskam. Am Anfang war das anders gewesen, da hatte die Alte Rosmarinka während der Arbeit misstrauisch beobachtet. Manchmal hatte sie, den Rechen oder den Kochlöffel in der Hand, minutenlang auf die junge Frau eingeredet, ohne dass Rosmarinka etwas verstanden hätte, denn damals hatte sie noch kaum Deutsch gekonnt, und die Schwiegermutter sprach bis heute fast kein kroatisches Wort.

Mit den Eiern aus dem Bruthäuschen, die sie in einem Weidenkorb gesammelt hatte, trat sie zufrieden hinaus in den Nieselregen. Unter dem Fuhrwerk, das nahe dem Hühnerstall abgestellt war, glotzten ein halbes Dutzend Hennen hervor, die zurück ins Trockene wollten, unter ihnen auch die Weiße, deren Brustgefieder lehmfarben geworden war. Das nasse Wetter der letzten Tage hatte den Innenhof verschlammen lassen. Rosmarinka wollte gerade die erste Pfütze überstelzen, als sie Antons Stimme hörte. Sie wandte sich in Richtung Hoftor, wo der Bub aufgeregt durch einen Bretterspalt mit jemandem sprach.

„Du bist ganz schlimm. Ich weiß es genau. Du stiehlst in der Nacht die Hühner“, rief Anton auf Kroatisch, als Rosmarinka eilig in seine Richtung lief. „Und den Kübel mit der Milch! Den hast du auch gestohlen.“

„Mit wem redest du da? Anton!“ Den Eierkorb an den Bauch gepresst, patschte Rosmarinka voll böser Vorahnungen am Radbrunnen vorbei. Der Dreck spritzte ihr hinauf bis zum Rocksaum, ohne dass sie es wirklich bemerkte.

„Mit mir!“, kam es von draußen. „Mach das Tor auf, oder ich schneide dem Bengel den Kopf ab!“

Endlich wieder zurück. Endlich und gerade noch rechtzeitig. Die räudige Pappel im Innenhof ist ein Hundeschweif, der heftig hin und her geht, und bald wird der Donner bellend zwischen die Mauern springen. Hoffentlich geht nicht wieder Glas zu Bruch. Wenn man die alten Rahmen nicht festhakt, genügt schon ein Windstoß, so wie vor drei oder vier Wochen: Ich eile die Stiege hinunter, unruhig zischt mir die Luft um die Füße, und plötzlich kracht ein offenes Fenster zurück in seinen Rahmen, ein glasiges Scheppern, und die Scheibe ist mit einem Mal durchblitzt von Sprüngen. Bis heute ist sie nicht ausgetauscht worden. Der Hausmeister hat Klebeband über die Scheibe gezogen, damit das Glas nicht irgendwann herausscherbt, und so wird es bleiben, bis dieser alte Kasten saniert wird, bis die Pensionistin aus dem Erdgeschoss ins städtische Altersheim umquartiert wird, weil sie sich den neuen Mietzins nicht mehr leisten kann; bis die Kunststudenten, die die obersten zwei Geschosse bewohnen, in eine normal dimensionierte WG umsiedeln werden, und bis ich … aber bis dahin ist mein Stipendium längst ausgelaufen, bis dahin ist Valentina hoffentlich aus Hamburg zurück, und dann gehen wir nach Wien, nach Graz oder in irgendeine andere österreichische Stadt. So ist es wenigstens geplant.

Warum habe ich mich bloß dazu überreden lassen, am Wochenende schon wieder nach Bad Perneck zu fahren? Valentinas wegen, die ihren Eltern gegenüber ein schlechtes Gewissen hat? Hamburg, das liegt doch nicht auf der anderen Seite des Erdballs, das ist zehn Stunden Zugfahrt oder neunzig Flugminuten entfernt. Es steht nichts dagegen, sich drei, vier Tage freizunehmen und nach Österreich zu kommen, besonders, wenn die geleisteten Überstunden schon seit Monaten nicht mehr gezählt werden. Aber ich weiß schon, ich muss Verständnis haben: Wer einmal bei Jensen, Rominger & Partner gearbeitet hat, kann sich später aussuchen, wo er als Kreativdirektor eingestellt wird. Und dass diese Wahnsinnsprojekte so wahnsinnig komplex und so wahnsinnig interessant sind, dass man gerne bis zehn, elf Uhr am Abend im Büro bleibt. Ich verbaue Valentina die Zukunft mit meinem Gejammer auf Skype, mit meinem ewig sehnsuchtsvollen „komm zurück“ und meinem „ich vermisse dich“, lauter Formeln, die früher von Frauen auf parfümiertes Briefpapier geschrieben oder in Telefonhörer aus Bakelit geflüstert wurden, ihren Männern hinterher, die in der Welt unterwegs waren.

Valentina wird sich vielleicht schon dazu gezwungen haben, mit dem Arbeiten aufzuhören, wird gerade in der U-Bahn sitzen und sich eventuell daran erinnern, dass heute Sonntag ist und dass wir früher am Sonntagabend immer ausführlich miteinander telefoniert haben. Jetzt dauern diese Gespräche kaum mehr als eine Viertelstunde, und wenn sie sich einmal dazu überwindet, mir Körperteile via Webcam zu zeigen, die sie sonst sorgfältig bedeckt hält, benehme ich mich ziemlich daneben. Beim letzten Mal zum Beispiel habe ich mit bitteren Augen zuerst auf ihre büroblasse Brust geschaut, habe meinen Blick dann nach unten wandern lassen und sie mit Proletenverachtung in der Stimme gefragt, ob ihr sogar die Zeit dazu fehlt, sich unten blank zu machen.

Früher, verdammt, früher habe ich ihr oft dabei zugeschaut, sie ist im warmen Badewannenwasser gelegen und hat den Rasierer angesetzt, und ich habe mich beim ersten Mal geschämt für meine gierigen Augen, habe mich in die gekachelte Ecke des Badezimmers gedrückt, aber sie hat nur gelacht und mich gefragt, wie ich es haben will, und das hat mich nur noch verlegener gemacht. Früher, in unserer winzigen Wohnung in der Isarvorstadt, in der nicht viel mehr als ein alter Schreibtisch gestanden ist und unser Bett, 140 Zentimeter schmal; unser Bett, das wir tagsüber mit einer Decke und ein paar Kissen in eine Couch verwandelt haben. Dort sind dann oft Valentinas Texter, ihr Kontakter oder irgendein anderer Kollege bis tief in die Nacht gesessen, lässig zurückgelehnt und mit einem Glas Weißwein oder einem Nudelteller in der Hand. Fast alle diese...

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