Schwedenreiter
von: Hanna Sukare
Otto Müller Verlag, 2018
ISBN: 9783701362615
Sprache: Deutsch
160 Seiten, Download: 239 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Weichenherz
In Wien fahre ich zu unserer Wohnung in der Ambachstraße. Sie entspringt im Wiener Wald und mündet in eine Tankstelle. Früher floss durch diese Straße ein Bach, er läuft seit langem unter dem Asphalt in Rohren, das Grundwasser drückt aber an die Oberfläche, sobald neue Fundamente ausgehoben werden. Dann stehen Keller oder Garagenrohbauten unter Wasser, Mauern an Nachbargrundstücken drohen einzustürzen. Die Ambachstraße hat fast dreihundert Nummern und viel mehr Häuser. Neben einstöckigen Winzerhöfen und alten Villen stehen Gemeindebauten und Genossenschaftssiedlungen, deren zahlreiche Gebäude als Stiegen bezeichnet und unter einer Hausnummer zusammengefasst sind. Vor fünfzehn Jahren bin ich mit Meret in die Ambachstraße gezogen. Ich komme aber aus dem Graben und werde ein Ambacher nie sein, auch wenn mir vor kurzem ein Wiener lachend das Recht auf einen Heimatschein zusprach. Entfernt von Hinterstumpf, bleibe ich ein Dortiger, was ich in der Ambachstraße sehe und höre, vergleiche ich mit Hinterstumpf. In der Ambachstraße kenne ich manche Nachbarn vom Sehen, grüße die eine oder den anderen und werde von einigen zurückgegrüßt. Ihre Geschichten kenne ich nicht, ich lebe hier unbehelligt. Unsere Wohnung in der Ambachstraße betrete ich ohne Singsang, ohne Litanei, die Wände fangen nicht jedes Geräusch ab, ein Nachbar könnte mich hören. Seit mehr als zwei Jahren lebe ich hier allein und sage unsere Wohnung.
Ich ziehe aus dem Rucksack das Tonpapier und lege es auf Merets Schreibtisch. Die Bögen verrutschen, und unwillkürlich kommen meine Hände aneinander. Mit einem Mal sind sie auffällig diese meine Hände, sonst selbstverständlich und deshalb unbeachtet. Da vermisse ich Merets Hände. Sie waren klein und knochig, aber die Handflächen? An der Innenseite der Finger bilden sich beim Abbiegen der Gelenke kleine Hautzelte. Sie schauen aus wie Münder, sagten wir. Wie liefen Merets Lebenslinien? Ich trage kein Bild ihrer Handflächen in mir. Und die Fußsohlen? An ihre Zehen erinnere ich mich, manchmal hatte ich sie im Mund. Aber ihre Fußsohlen? Ihr Fußgewölbe streifte die Wölbung der Erde und war unter dem Himmelsgewölbe. War. Jahrelang haben wir einander an den Händen gehalten, sind Bauch an Rücken eingeschlafen, und ich erinnere mich nicht an ihre Handlinien, nicht an ihre Fußlinien. Am linken Mittelfinger hatte sie die Narbe von der Gartenschere. Seit Meret tot ist, löst sich im Graben der Singsang aus mir, und in der Ambachstraße schieben sich zwischen meine Gedanken Pausen; Momente und Miniaturen der Vergangenheit werden bedeutsam.
Meret hörte ich, bevor ich sie sah. Ich wohnte in Wien in einem Hinterhaus, an diesem Abend waren viele Fenster zum Innenhof geöffnet. Aus einem der Fenster kommt in mein Zimmer Gesang, leicht, lakonisch, fast beiläufig singt die Stimme einer Frau. There is a crack, a crack in everything / that’s how the light gets in.3 Ich wünschte, diese Stimme möge singen und singen, nie verstummen. Mit diesem Lied fühle ich mich gemeint, bilde mir ein, dieses Lied könne nur mir, Schwedenreiter, gelten, mir, Brückenmeister. Von Rissen, die nicht Fehlstellen, sondern Lichtfugen sind, singt die Stimme. Unversehens wird sie rau und drängt sich nicht auf. Nah dieser Stimme will ich leben, sie will ich tagein tagaus hören. Aus welchem Fenster kommt das Lied? Nicht einmal über das Stockwerk bin ich mir sicher.
Ich hörte diese Stimme im Innenhof nicht wieder. Monate später ging ich zu einem Konzert in einem kleinen unbequemen Lokal in der Nähe meiner Wohnung. Auf der Bühne stehen ein Kontrabassist, ein Gitarrist und eine schwarzhaarige Frau. Sie trägt ein ärmelloses Sommerkleid, schwarz mit weinroten Strichen, schwarze Strumpfhosen und die Schuhe im Rot des Kleidmusters. Sie beginnt ohne Begleitung und ohne Mikrofon zu singen, leicht, lakonisch. The birds they sang / at the break of day / start again.4
In den ersten Jahren nannte mich Meret Liebellchen und sagte lachend, sprich nur ein Wort, dann wird meine Seele gesund. Ich will mit dir über das Zwischenuns sprechen, sagte sie. Mit Worten will ich dich finden, sagte sie, und du wirst mich finden. Ich finde leichter Töne, erwiderte ich. Ich komme aus dem Graben, dort sind Worte rar. Mit einem Lahmen willst du auf dem Hochseil tanzen. Ja, sagte sie, mit dir will ich tanzen.
Wir schwiegen viel und oft sangen wir miteinander. Unser Singen zähle ich zu unserem Schweigen, könnte aber ebenso gut sagen, beides war Teil unseres Gesprächs. Im Schweigen waren unsere Blicke und Gesten, in das Singen kam oft Lachen. Unsere Nähe brauchte ich nicht prall von Worten. Mit Meret war ich einverstanden, nichts an ihr wünschte ich mir verändert, ich schaute sie gern an. Sie nahm mir nicht übel, wenn ich auf ihre Wortsehnsucht antwortete: Nach der Balz schweigen die Vögel. Schon Anfang Juli wird ja der Wald stimmlos, im August ist mir an dumpfen schwülen Tagen die Waldstille mitunter unheimlich. Auch wenn wir viele Stunden stumm miteinander verbrachten, hatten wir nach unserem ersten gemeinsamen Jahrzehnt doch alles gesagt, was zwei Leute einander sagen können, und zogen uns ohne Groll ein wenig voneinander zurück, lebten Seite an Seite, und die wortlosen Stunden wurden Stunden für sie und für mich, wir gingen unseren Gedanken nach, dachten wenige zu Ende, machten Pläne oder beträumten unser Leben. Seit je konnten wir die Gedanken des anderen erraten, und nach und nach geschah es häufiger, dass wir zum gleichen Satz gleichzeitig ansetzten und ihn nicht zu Ende sprachen, weil unser Gelächter solche Gleichzeitigkeit abbrach.
Als ein Befund zeigte, dass Meret voraussichtlich nicht viel Lebenszeit blieb, suchten wir von neuem nach Worten für das Unsichtbare zwischen uns, das uns einte und selig stimmte. Ihre letzten Lebenswochen waren unsere innigsten. Als ihr das Sprechen mehr und mehr Mühe bereitete, blieb ich an ihrem Bett, wenn ich meine Hand von ihrer löste, antwortete ihre Hand mit einem leichten Druck. Ich übernachtete bei ihr im Spital. An einem der Tage, an denen ich mir einbilde, ich lebe ewig, werde immer über Wiesen und durch Wälder schlendern, bin unsterblich, an einem solchen Tag im Frühjahr starb Meret.
Unsere Räume in der Ambachstraße und die Dinge weichen jäh vor mir zurück. Sie verlieren ihre Ausstrahlung, erkalten. Leere. Dunkles Eis. Selbst der Wald, aus dem unsere Straße entspringt, wird öd. Lange bleibe ich ohne Worte. Mein Selbstgespräch verstummt. Manchmal wühle ich meinen Kopf in Merets flauschigem Winterrock. Eine Nacht verbringe ich in ihrem Kleiderkasten, dort ist noch ihr Geruch. Die Blüten draußen und das Gezwitscher bedrücken mich. Es kommen Tage, da wird meine Sehnsucht ein Körperschmerz. Ich verdunkle die Räume, nur nachts öffne ich die Fenster und lasse erst am Ende des Sommers manchmal Licht ein.
Der Morgen nach meiner Rückkehr aus dem Hinterstumpfer Graben ist kalt und wolkenschwer. Ich öffne die Tür zur Brückenmeisterei. Über diese Türschwelle sollte nur Schwedenreiter treten, Paul sollte ich hinter mir lassen, draußen lassen, Paul darf ich erst nach getaner Arbeit wieder sein. Als läge über der Schwedenreiterhaut eine Paulhaut, die ich vor Beginn der Arbeit wie einen Neoprenanzug abstreifen könnte. Oder ist es gerade umgekehrt, liegt die Paulhaut körpernah und darüber ziehe ich an fünf Wochentagen die Schwedenreiterhaut? Ich trage noch mein Nachtgesicht, unöffentlich, versehrt von den Stunden in Stumpf, die Packnacht im Graben versteift meinen Nacken, mein Totenbuch ist nicht geschlossen. An dieser Schwelle bin ich einen Augenblick nicht mehr Paul und noch nicht Schwedenreiter, gefährdet wie ein Krebs, der sich häutet. Ich nestle, wo nur, nach meinem Brückenmeistergesicht. Aus dem Kaffeemaschinenraum kommt der Morgengeruch in den Vorraum und das Männergemurmel. Mein Blick fällt auf ein verblichenes Poster, das ich lange nicht angeschaut habe. Meret holte mich manchmal in der Brückenmeisterei ab und spottete über dieses Poster. Zwei junge, leicht bekleidete Frauen in einem Cadillac Cabriolet, auf dem Rücksitz steht ein Spaniel, seit Jahren grätscht eine der Frauen ihre Beine aus der offenen Wagentür. Warum hängt ihr so was auf? fragte Meret, und ich hatte keine Antwort. In diesem Morgenmoment möchte ich das Poster herunterreißen, weil mich seine Billigkeit kränkt, ausgesetzt wie ich bin zwischen meinen Gesichtern.
Ich bin gern Brückenmeister. Ich arbeite draußen, über der Stadt und unter ihr, an den Bauwerken, die alle benutzen. Wir Brückenmeister sind die Hausmeister der Stadt, auch wenn meine Kollegen diese Bezeichnung nicht gerne hören, ohne uns funktioniert die Stadt nicht. Schauten die Stadtbenutzer von ihren Mobiltelefonen einmal auf, könnten sie mich bei der Arbeit sehen, unter einer Brücke, auf der Stiege zur U-Bahn bei der lockeren Stufe, in dem Fußgängerdurchgang unter der Bahntrasse. Von den Brücken überblicke ich Wasserläufe, Autodächer und die Weichenherzen, wo aus einem Weg zwei werden und aus zwei Wegen wieder einer...