Engadiner Abgründe - Ein Mord für Massimo Capaul

Engadiner Abgründe - Ein Mord für Massimo Capaul

von: Gian Maria Calonder

Kampa Verlag, 2018

ISBN: 9783311700050

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 780 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Engadiner Abgründe - Ein Mord für Massimo Capaul



II


»Du hättest mich sehen sollen«, erzählte Rainer Pinggera seinem Neffen, während sie ihn zu Rudis Auto führten. Es stand nicht auf dem Besucherparkplatz, sondern im Personalbereich gleich beim Eingang. »Ich mit dem Gartenschlauch wie damals der Jenatsch. Ich sage dir, so leicht erledigen sie mich nicht.«

»Welcher Jenatsch? Der Schuhmacher von Ftan?«

»Nein, der Kämpfer natürlich, der Jenatsch eben.«

»Der Jürg? Den haben sie aber sehr wohl erledigt. Erst hat ihn einer, als Bär verkleidet, über den Haufen geschossen, die anderen sind danach mit Axt und Knüppeln über ihn her. Ich muss es wissen, Onkelchen, ich war im Schultheater der Bär.«

»Dann eben nicht wie der Jenatsch. Du hättest mich trotzdem sehen sollen.«

Rudi steuerte einen silbernen Mercedes C-Klasse an.

»Sind Sie der neue Polizist?«, fragte er.

»Ab Montag«, sagte Capaul.

»Ab Montag, und schon eingespannt?« Rudi lachte. »Lassen Sie mich raten, Sie sind Anfänger.«

»Ich arbeite gern«, sagte Capaul nur. »Ich habe bloß noch keinen Ausweis.«

Der Alte beschwerte sich: »Was flirtet ihr zwei Turteltäubchen da die ganze Zeit? Schließ auf. Oder besser, bring mich zurück, ich muss aufs WC. Die haben mich saufen lassen, dass es mir zu den Ohren rauskommt.«

Also gingen sie zurück, Rudi wusste, wo die Toiletten waren. Capaul wollte die Gelegenheit nutzen, um endlich zu trinken, doch Rudi hielt ihn zurück. »Ich glaube, das schafft er allein«, sagte er lächelnd, und ehe Capaul sich erklären konnte, fragte er: »Was ist eigentlich Ihre Lieblingsdisziplin?«

»Lieblingsdisziplin? Ich verstehe nicht.«

»Sport, ich rede natürlich von Sport.«

»Ach so.«

»Polizisten sind Sportskanonen. Also was? Skifahren? Tennis? Oder sind Sie etwa Leichtathlet?«

»Ich wandere gern«, sagte Capaul aufs Geratewohl.

Rudi lachte. »Kommt man heutzutage mit Wandern durch den Eignungstest?«

»Nein, da habe ich mich durchgebissen«, sagte er offen, doch Rudi redete schon weiter.

»Meine ist das Skifahren. Und inzwischen Tennis. Natürlich golfe ich auch, die wichtigen Deals werden fast immer auf dem Golfplatz abgeschlossen. Wissen Sie was? Ich nehme Sie mit.«

»Ich habe keine Ahnung von Golf. Ich weiß nicht …«

»Nein, auf dem Golfplatz hat einer wie Sie auch nichts verloren. Ich rede vom Skifahren.« Er öffnete die Toilettentür und rief: »Onkelchen, lebst du noch?«

Man hörte ein Stöhnen, dann krächzte der Alte: »Ja, ja, es dauert halt. In meinem Alter macht man kein Wettbrunzen mehr.«

»Dann lass dir Zeit.« Rudi schloss die Tür und sah Capaul mit stahlblauen Augen an. »Und? Kommen Sie mit?«

»Das hat ja noch Zeit. Erst muss es schneien.«

»Diese Flachländer, von Tuten und Blasen keine Ahnung!«, rief Rudi und verdrehte clownesk die Augen. »Was glauben Sie, wo ich gerade herkomme? Zermatt, Klein Matterhorn, herrliche Pisten. Zu der Zeit, als ich noch Rennen gewonnen habe, konnte man auch hier im Engadin im Sommer Ski fahren, St. Moritz, Pontresina, oder in Laax … Inzwischen muss man reisen, aber wozu gibt es Hubschrauber? Und den Flugplatz haben wir ja vor der Nase. Ich gehe aus dem Haus, eine Stunde später stehe ich auf dem Gletscher.«

»Was haben Sie damals gewonnen?«, wollte Capaul wissen.

Rudi stöhnte und raufte übertrieben das silbergraue, volle Haar – er schien ein Scherzbold zu sein. »Jetzt fühle ich mich richtig alt. Es gab Jahre, da konnte ich nicht auf die Straße, ohne um ein Autogramm angebettelt zu werden. Nein, ernsthaft, der Höhepunkt meiner Karriere war Olympia-Silber. Deshalb wollte ich jetzt die Spiele auch unbedingt zu uns holen. Wie die Abstimmung ausging, wissen Sie ja wohl. Passé, ich nehme es sportlich.«

Er gab Capaul seine Visitenkarte, im selben Moment kam sein Onkel vom Pissoir. »Gelöscht«, sagte er.

Rudi hakte sich bei ihm unter. »Dann schaffen wir es diesmal bis heim, Onkelchen? Was ist, Capaul, helfen Sie zwei Greisen noch mal zu ihrem Auto? Danach packe ich’s allein.«

 

Nachdem sie fort waren, wollte Capaul in seinen Chrysler steigen, doch sein Kopfweh war inzwischen so stark, dass er es sich anders überlegte und zum zweiten Mal ins Spital zurückging.

»Ich bin wohl die Höhe nicht gewohnt«, erklärte er der Pförtnerin und bat um eine Dafalgan-Tablette.

»Womöglich ist es auch der Wetterwechsel, am Wochenende soll es schneien«, sagte sie lächelnd.

Das schien ihm doch sehr unwahrscheinlich, viel zu lieblich leuchteten die goldenen Lärchen an den Hängen, er hatte Bienen summen hören, und im Park vor dem Spital tanzten Schmetterlinge.

»Ich gebe Ihnen eine Brausetablette, die wirkt schneller«, sagte sie noch.

Er bat: »Geben Sie mir zwei.«

Das tat sie. »Hier ist auch ein Pappbecher. Wasser finden Sie dort drüben.«

Sie zeigte zu den Toiletten, die kannte er ja inzwischen. Im Pissoir war der Fußboden überschwemmt, offenbar hatte der Alte wirklich nochmals gelöscht.

Capaul sagte einer Putzfrau Bescheid, dann setzte er sich ins Auto und fuhr zum Revier. Der Weg war gut beschildert, nur waren alle Parkplätze belegt. Dazu kam, dass unmittelbar hinter dem Polizeiposten die Straße in einem Durchfahrtsverbot endete, die einzige Abzweigung auch. Capaul wollte wenden, das wiederum verhinderte ein Kastenwagen der Polizei. Schließlich manövrierte ihn ein hilfsbereiter Passant rückwärts zwischen Steinpoldern und geparkten Autos hindurch. Er parkte auf dem Gebührenparkplatz unten beim Bahnhof und ging zurück ins Städtchen. Immerhin ließen dabei die Schmerzen nach.

Der Posten war in einem blassen Bürohaus im Dorfkern untergebracht, das Schmuckste daran waren ein überdimensioniertes Leuchtschild mit der Aufschrift POLIZIA CHANTUNELA GRISCHUN und ein leuchtend gelber Postkasten, der die Hälfte des Eingangs versperrte.

Capaul klingelte und musste eine Weile warten, ehe drinnen der Summer gedrückt wurde.

Der Schalterraum war möbliert wie wohl alle Bündner Polizeistationen, auch der Spannteppich war vermutlich der gleiche. Ein Polizist saß einsam hinter dem Computer, auf dem Namensschild stand L. Meier. Linard grinste, als er ihn sah.

»Capaul, Capaul! Und wo hast du jetzt geparkt?«

Capaul suchte das Glück in der Flucht nach vorn. »Euer Kastenwagen steht im Weg«, beschwerte er sich. »Da ist auch das Fahrverbot, man kann nicht wenden, und rückwärts kommt man nur mit gütiger Hilfe der Passanten.«

Linard feixte. »Das war Jon Lucas Einfall. Fahren die Leute durchs Verbot, schnappt er sie. Natürlich nur Touristen, sonst gäbe es schnell böses Blut. So kassieren wir innerhalb von zwei, drei Tagen unser Monatssoll an Bußgeld.«

Capaul konnte nicht erkennen, ob er sich einen Spaß erlaubte, und beschloss, das Thema zu wechseln. »Ihr wart vom Malojapass schnell wieder zurück.«

»Nur ich, um die Meldung aufzugeben. Die anderen sammeln noch Leichenteile ein. Keine Ahnung, ob die Motorräder stärker werden oder nur die Fahrer schlechter, jedenfalls gibt es jedes Jahr mehr Tote.«

»Woher willst du das wissen? Du bist doch erst ein Jahr im Dienst.«

»Weil ich lese, hier, Statistik.« Linard zeigte auf den Bildschirm. »Jetzt mache ich Platz, damit du den Rapport schreiben kannst.«

»Ich bin noch nicht so weit.«

»Was fehlt denn?«

»Die Aussage des Opfers.«

»Opfer«, wiederholte Linard. »Der Mann hat seine eigene Scheune angezündet. Hier, das sind Opfer.« Er tippte auf der Tastatur, drehte den Bildschirm und zeigte Capaul ein Foto des Motorradunfalls. Matsch in Ledercombi, hätte ihr Dozent in Forensik dazu gesagt. »Dein Klient dagegen«, sagte Linard, »ist doch schlicht senil.«

»Was weißt du davon?« Linard gefiel ihm nicht.

»Ich weiß noch viel mehr. Dass der Löschmannschaft deine traurigen Augen gefallen, zum Beispiel. Auch ich habe Kontakt zur Feuerwehr.« All das sagte er im selben süffisanten Tonfall. Dann fasste er in die Brusttasche, zückte seinen Ausweis und gab ihn Capaul. »Pinggera hat grauen Star im fortgeschrittenen Stadium und eine beidseitige Makula-Degeneration. Er wird nicht sehen können, wessen Ausweis du ihm unter die Nase hältst. Geh und schließ den Fall ab, sonst muss ich morgen der Sache nachrennen, und dazu habe ich nicht die geringste Lust. Wir sind für morgen mit den Münstertaler Kollegen zur Verkehrskontrolle auf dem Ofenpass verabredetet. Das heißt Sonne tanken. Man gönnt sich ja sonst nichts.«

»Das Wetter soll kippen, habe ich gehört.«

»Erst in der Nacht auf Sonntag. Laut Flugplatzwetterdienst. Wir handeln mit Fakten, Capaul, nicht mit ›soll‹ und ›habe ich gehört‹. Apropos, deine Handynummer. Ich kann dich nicht jedes Mal ausrufen lassen.«

»Ich habe kein Handy.«

Linard war einen Augenblick sprachlos. »Wie, ›kein Handy‹? In welchem Jahrhundert lebst du?«

Das wäre der Moment gewesen, sich abzuwenden und zu gehen. Er verpasste ihn. »Ich gehe gleich«, versprach er. »Aber habt ihr nicht auch eine Bescheinigung, die ich ins Auto legen kann, damit ich nicht ewig einem Parkplatz nachrenne? Auf den Gebührenparkplätzen zahlt man sich ja dumm und dämlich.«

»Du meinst so was wie das ›Arzt im Dienst‹-Schild?«

»Ja.«

»Du verkennst die Situation, du bist nicht im Dienst.«

»Was dann?«

»Du tust mir einen Gefallen, das ist alles.«

 

Also parkte er auch jetzt, zurück in Zuoz, wieder am Bahnhof und stieg ein gepflastertes Weglein ins Dorf empor. Als er Rainer Pinggeras...

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